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Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

181–184

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Pellegrini, Silvia

Titel/Untertitel:

B>Elija - Wegbereiter des Gottessohnes. Eine textsemiotische Untersuchung im Markusevangelium.

Verlag:

Freiburg: Herder 2000. XII, 445 S. gr.8 = Herders Biblische Studien, 26. Geb. ¬ 55,00. ISBN 3-451-27801-4.

Rezensent:

Wolfgang Schenk

Die 1989 in Mailand in klassischer Philologie promovierte Autorin erlangte mit der vorliegenden Arbeit in Berlin ihre theologische Promotion unter C. Breytenbach. Wie schon der Untertitel andeutet, werden reiche Einsichten auf dem Wege zu einer wirklich exegetischen, bisher nicht wirklich vorhandenen Methodenlehre geboten (1-145). Diese werden dann exemplarisch in der analytisch-thematischen Anwendung auf die markinische Elija-Figur zur Geltung gebracht (149-392). Ausgangspunkt ist die Verortung in der Krise der Methodendiskussion, wie sie sich in einer Geltungsprüfung der theoretischen Positionen des Reader Response Criticism darstellt (1-12).

Die Sinnkonstitution im Leseprozess umfasst drei Fragestellungen: Was sagt der Text? Wie funktioniert die Sache ,Text'? Durch welche Prozesse konstituieren sich Text und Lektüre als intersubjektiv überprüfbare Größe? (11 f.) Die Semiotik, die den Leseprozess unter dem Aspekt der intentionalen Interaktion des Zeichens und des Codes zu einem gemeinsamen sinnhaften aliquid untersucht, ist keine neue oder andere Methode, sondern hat eine Vorgeschichte seit der antiken Exegese (13-45). Da unter dem Stichwort Semiotik irrtümlich meist nur ein binärer Strukturalismus in der modernen Exegese übernommen wurde, kommt es zu Missverständnissen: "Die Kritik, die sich gegen die semiotische Exegese erhebt, wird nie gegen Peirce, Eco, Iser, Hjemslev oder andere Eckpfeiler des Faches gerichtet, sondern immer nur auf die semiotische Produktion einzelner Anwender. Es ist auch sehr verdächtig, daß oft von Semiotik die Rede ist, ohne daß die Theorie gründlich betrachtet wird" (41). Darum folgt auf die kurze historische Einleitung eine umfassende systematische Darlegung der semiotischen Lesetheorie (49-145).

In ihrem Zentrum steht das Konzept des "Modell-Lesers" von U. Eco (57-50.79-122; vgl. das Glossar 431-434). Diese Metapher des Lesers meint konkret den Leseprozess und "das Lesen als intentionale Kooperation" (58), die auf intersubjektive Kontrolle der Interpretation ausgerichtet ist. Man kann an jeden Texte vielerlei Fragen richten. Doch im Sinne der klassisch hermeneutischen Differenzierung von Interpretation gegenüber Gebrauch/Benutzung/Verwendung ist für den interpretierenden Leseprozess nur die erste Fragestellung sinnvoll und relevant (36.58.67-69.78.86.96.120 f.). Damit wird immer wieder "W. Wredes Warnung vor einer nicht textorientierten intentionalen Aktivität" als "immer noch aktuell" unterstrichen (67, Anm. 46): "Man legt den Sinn so zurecht, daß er historisch brauchbar wird; d. h. man substituiert dem Bericht etwas, woran der Schriftsteller nicht gedacht hat, und gibt dies für seinen geschichtlichen Inhalt aus."

Die starke Unsicherheit, die mit diesem Verfahren gegeben ist, wird äußerst wenig empfunden, vor allem aber fragt man nicht danach, "ob damit nicht das eigentümliche Leben des Berichtes selbst vernichtet wird" (Das Messiasgeheimnis in den Evangelien, 1963, 2). Die umfassende Kenntnis der Werke U. Ecos im Original und den Übersetzungen sowie der zugehörigen Sekundärliteratur ist bisher so noch nicht in der biblischen Exegese aufgearbeitet und angewendet worden, so dass darin der überragende Wert dieser Arbeit liegt. Dass daraus keine Eco-Manie resultiert, wird nicht nur an den kritischen Rezeptionen und Weiterführungen deutlich, sondern auch daran, dass das Vorgehen in die umfassende Forschung und Theoriediskussion eingebettet ist (49-78) und die intratextuellen Aspekte durch die (moderate) Intertextualitätstheorie ergänzt wurden (123-145; 131: "Intertexte sind die Texte, die ein bestimmter Text aus der Gesamtenzyklopädie als notwendigen Teil für seine Interpretation hervorhebt. Intertextualität als operative Kategorie qualifiziert sich also innerhalb der Lesetheorie für eine intentionale Verbindung zu einem - oder mehreren anderen - textuellen Objekt, das durch Markierungen herangezogen wird"). Die wichtigsten Eckpunkte des Ecoschen Modell-Lesers als Modell des Leseprozesses (120) sind die Bedeutungsfüllungsoperationen des Lesens (81-84 Ökonomieprinzip), die Instruktionsorientierung, die sagt, was zu tun ist, um zu klären, was gemeint ist (97-103 Enzyklopädie statt Wörterbuch), die Textstrategie im Textgewebe (88-91 Linien eines Labyrinths/Rhizom statt Punkte eines Baumes), die als Scharniere vorgesehenen Kooperationsanregungen (84-87 Knotenpunkte als verlangte Ergänzungsfragen), die textfunktional durch erzählerische Voraussagen erzeugten Erwartungen, die dann erfüllt oder enttäuscht werden (92-94 Wahrscheinlichkeitsdisjunktionen), die Schritte zwischen Text/Gesagtem und Enzyklopädie/Implizitem (106-117 inferentielle Spaziergänge als vom Code vorausgesetzte Rückschlüsse).

Die umfassende thematische Anwendung auf die markinische Elija-Figur macht eine überzeugende Probe aufs Exempel, indem sie nach einer Diskussion der Aporien der Forschungslage (149-181) die Einzelsegmente analysiert von der "Intertextualität im Ouverture-Zitat des Markusprologs" Mk 1,2 f. (182-227) her bis zum oft zu wenig berücksichtigten intertextuellen Schlusszitat Mk 15,33-37 hin (355-381 "Der nicht erschienene ,Redivivus': Verschiebung des Erwartungshorizonts"). Diese umschließen die beiden intratextuellen Komplexe Mk 6, 14-29 (239-289 "Der Tod des Johannes und das Schicksal Jesu: Wahrscheinlichkeitsdisjunktion") und Mk 8,27-9,13 (290-354 "Elija in der Verklärungsgeschichte: Intertextualität, Intratextualität und der symbolische Modus").

"Analysen, die entweder Elija oder den Täufer zum Thema haben, beschränken sich auf die wenigen Stellen des Markusevangelium, die explizit davon reden. Aufsätze und Monographien, die sich mit dem Täufer beschäftigen, konzentrieren sich auf die historische Gestalt Johannes und ziehen die Figur Elija nur als enzyklopädische Kompetenz heran. Eine Studie, die anhand einer semiotischen Lesetheorie die Figur Elija und ihre Funktion für die mk Erzählstrategie untersucht, ist mir nicht bekannt" (236): Diese Lücke wird durch die vorliegende Untersuchung auf vorbildliche Weise geschlossen. Vom Prolog Mk 1,1 ff. mit seiner Zuordnung des Täufers zur christologischen Hauptachse her über eine vorsichtige und uminterpretierende Verbindung mit der Figur des Elija ergibt sich die Aufgabe der Entschlüsselung der "Beziehungen zwischen den Figuren Johannes und Elija in Bezug auf die Identität Jesu" (233). Die Arbeitshypothese lautet, "der Modell-Autor wolle den Point of view des Modell-Lesers betreffs der Elija-Erwartung durch die Erzählung problematisieren, bewegen und ändern. Dies würde erklären, warum der MA im Laufe seines Evangeliums immer wieder auf Johannes und Elija zurückkommt: In der Tat ist das Erscheinen des Johannes oder des Elija nicht der chronologischen Entwicklung des Plots zugeordnet, sondern immer dort eingeflochten, wo es darum geht, die Identität Jesu im Vergleich zu den Vorstellungen des kulturellen Codes zu verdeutlichen, abzugrenzen und zu problematisieren" (ebd.). So überprüft und enttäuscht die Täuferhinrichtung Mk 6,17-29 die falschen Hypothesen über Jesus von 6,14-16: Weil der Täufer nicht auferweckt ist, ist Jesus kein Johannes Redivivus. Die Metamorphose als eschatologische Epiphanie 9,1-13 ist als Fortsetzung von 8,27 ff. zu lesen: Das Reich, das alle mit Elijas Ankunft verknüpften, war schon in Jesus erschienen; Elija kann kein glanzvolleres Schicksal haben als der Menschensohn, was durch das Auftreten des Johannes bestätigt ist. Abschließend wird der Leser 15,33-37 aufgefordert, die willentlich falsche Erwartung einer Intervention eines nicht existierenden Elija Redivivus fallen zu lassen, da Gott Jesus als Gottessohn am Kreuz erwiesen hat. Mk darf also nicht von dem Erfüllungs-Denkmuster des Mt her gelesen werden, der Mt 11,14 erst das Elija-Konzept als einen Vorläufer des Messias geschaffen hat, welches vor Mt in der Enzyklopädie des Frühjudentums wie des Frühchristentums nicht existierte (159.161.177.382 f.390 f.). Wir haben also nicht nur eine interessante Spezialstudie vor uns, sondern auch einen weit über den Kreis der Mk-Forschung hinausreichenden grundlegenden und wesentlichen Beitrag zur exegetischen und hermeneutischen Methodenfrage.