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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

943–953

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Zehner, Joachim

Titel/Untertitel:

Schriftauslegung und Lehramt.
Zusammenfassung der neueren ökumenischen Diskussion. Perspektiven aus evangelischer Sicht

I. Hinführung

"Die Krise des Schriftprinzips ist weithin auch zu einer Krise des Schriftgebrauchs geworden".1 Was der Neutestamentler und frühere Bischof Ulrich Wilckens jüngst konstatierte, ist für die evangelische Kirche als ein Alarmsignal zu werten. Denn "Creatura verbi" - "Geschöpf des verkündigten und gelesenen Schriftwortes" ist nach evangelischem Verständnis die Kirche. Wenn zutrifft, was ein Theologe feststellt, der in Wissenschaft und kirchlicher Praxis von berufswegen gleichermaßen zuhause ist, dann handelt es sich hier um eine Grundlagenkrise evangelischer Theologie und Kirche.

Unter "Schriftprinzip" verstanden die Theologen der lutherischen Konkordienformel bekanntlich, daß allein das Wort der Bibel "Regel und Richtschnur" sei, "nach welcher alle Lehr geurteilet" werden solle.2 Die von der altprotestantischen Orthodoxie ausgebaute Schriftlehre betonte gegen die katholische Sicht vor allem die "sufficientia", die "Alleingenügsamkeit" der Schrift - es bedurfte demnach in Glaubensfragen keiner ergänzenden Tradition - und die "perspicuitas", die Deutlichkeit der Schrift - ein letztentscheidendes und somit über der Schrift stehendes kirchliches Lehramt war demnach nicht nötig, um sie verbindlich auszulegen. Die Krise dieses protestantischen Schriftprinzips entstand, als mit der historischen Schriftforschung im 18. Jh. Wortsinn und historisches Geschehen auseinandertraten, als die eigene Lehre nicht mehr wortwörtlich mit den biblischen Inhalten gleichgesetzt werden konnte.

Heute sieht der frühere Bischof Ulrich Wilckens aber auch eine Krise des evangelischen Schriftgebrauchs in der "tiefe(n) Entfremdung zwischen historisch-kritischer Exegese und kirchlicher Praxis"3; für die mittlere und jüngere Pastorengeneration stellt er fest: "Es ist nahezu Konsens unter den Pfarrern dieser Altersgruppen, daß man exegetischer Bücher weder zur Vorbreitung seiner beruflichen Arbeit noch zu seiner eigenen Fortbildung oder gar Erbauung notwendigerweise bedürfe."4

Krisen bergen in sich bekanntlich aber auch Chancen. Als einer der Theologen im Ökumenischen Arbeitskreis sieht der Neutestamentler Wilckens in diesem Zusammenhang die Chance zu einer Neubesinnung im Blick auf die konfessionell strittige Lehre von der Heiligen Schrift. Genauer: Er sieht die Chance, in "einer produktiven Auseinandersetzung mit dem Geist der Neuzeit, aus dem die historisch-kritische Exegese erwachsen ist, ökumenisch-gemeinsam" zu einer "gesamttheologischen Theorie nicht nur wissenschaftlicher Schriftexegese, sondern zugleich auch geistlicher Schriftbetrachtung" zu gelangen.5 Nachdem der Arbeitskreis 1992 eine "Gemeinsame Erklärung"6 zur strittigen Frage des Umfangs der Schrift, der Kanonfrage, vorgelegt hatte, ist 1995 in einer weiteren Publikation vor allem die Thematik von Schriftauslegung und Lehramt behandelt worden. Dieser zweite Band wird ausdrücklich als "Zwischenbericht"7 gekennzeichnet. Denn die Diskussion ist noch nicht abgeschlossen, eine gemeinsame Erklärung zu dieser Thematik kann noch nicht vorgelegt werden. Es lohnt sich demnach, eine eigene Zwischenbilanz zu ziehen und den Versuch zu machen, die bisherige Diskussion zu bündeln und Perspektiven aus evangelischer Sicht aufzuzeigen. Welche gemeinsamen Grundlagen wurden bisher gefunden, wo liegen gegenwärtig noch offene Fragen, was ergibt sich systematisch-theologisch für eine evangelische Lehre von der Heiligen Schrift?

II. Versuch einer Zusammenfassung der bisherigen ökumenischen Diskussion

Die Bedeutung des ökumenischen Arbeitskreises liegt insbesondere darin, daß er Forschungserträge vieler theologischer Disziplinen ausgewertet, in Beziehung gebracht und zusammengefaßt hat. Damit ist eine wissenschaftliche Grundlage für die Entscheidungen der Kirchenleitungen geschaffen. So ist die Arbeit zur Rechtfertigungsthematik bisher überaus positiv aufgenommen worden. Aber man muß unterscheiden: die Arbeit der wissenschaftlichen Theologie ist das eine und die Anerkennung und Rezeption der Ergebnisse das andere. Es herrscht Arbeitsteilung, und für den ökumenischen Fortschritt kommt letztlich alles darauf an, daß den wissenschaftlichen Ergebnissen auch zugestimmt wird.

1. Wiederentdeckte gemeinsame Grundlagen: die Suffizienz, die Deutlichkeit, die Autorität der Schrift

Anhand dreier "Eigenschaften" der Schrift, die die altprotestantische Orthodoxie noch in ihrer konfessionellen Kampflehre gegen den tridentinischen Katholizismus betont hatte, läßt sich am besten der ökumenische Fortschritt erkennen.

"Sufficentia" - Auch katholische Theologie versteht ihre Tradition aufgrund dogmengeschichtlicher und exegetischer Erkenntnisse so, daß die Schrift im materialen Sinne suffizient ist.8 Auch katholische Theologie stimmt der reformatorischen Annahme einer "Selbstauslegung" zu, insofern sie "auf die allen subjektiven Auslegungsgestalten zuvorkommende Objektivität des Schriftinhalts sowie auf die evidente Einheit des Gesamtsinns der Schrift zielt".9

"Perspicuitas" - Auch katholische Theologie orientiert sich primär am Wort-Sinn der Schrift und erkennt hinsichtlich ihres "zentralen Gehalts" eine hinreichende Klarheit.10 Die historisch-kritische Methode wird seit der 2. Hälfte unseres Jahrhunderts auch vom katholischen Lehramt als geeignetes Mittel anerkannt, den Wort-Sinn zu erschließen. Auch die katholische Theologie erkennt das "Selbstbeglaubigungsvermögen" der Schrift an. Dies impliziert eine "claritas externa" durch den besagten Wort-Sinn und eine "claritas interna durch die im sensus literalis in der Kraft des Heiligen Geistes wirksame Selbsttradierung und Selbstbeglaubigung (Autopistie) Jesu Christi gewährleistet wird".11



"Auctoritas" - Auch katholischerseits kann gesagt werden, daß der Schriftkanon "in seinem Kernbestand sich uns imponiert" hat; die "These kanonischer Selbstdurchsetzung" hat "ein gutes Stück historischer und sachlicher Wahrheit für sich".12 Evangelische Theologie wiederum erkennt an, daß die Rede von einer "Selbstauslegung" der Schrift "die Tätigkeit des Auslegers bzw. der Ausleger im Verstehensvorgang nicht aus-, sondern einschließt".13 Autorität hat die Schrift in der "Kommunikations- und Verantwortungsgemeinschaft der Kirche in der Einheit des Geistes Christi"; der ökumenische Arbeitskreis folgert: "Der Gehalt des Wortes Gottes läßt sich insofern von den irdischen Gestalten der Auslegung und der Verkündigung des Wortes nach der Hl. Schrift nicht trennen."14

Aus den Abgrenzungsbegriffen der altprotestantischen Orthodoxie, aus "sufficentia", "perspicuitas" und "auctoritas" sind also Grundbegriffe einer ökumenischen Schriftlehre geworden. Man kann in diesen knapp zusammengefaßten, gemeinsamen Grundlagen unschwer erkennen, daß sich vor allem die katholische Theologie seit dem Aufbruch im Zweiten Vatikanischen Konzil bewegt hat. Der Arbeitskreis folgert, daß sich aufgrund dieser Übereinstimmungen die kontroverstheologischen Differenzen begrenzen lassen. Die Problematik läßt sich reduzieren, und zwar auf "verbindliche Vergewisserungsinstanzen und insbesondere auf die Rolle des Lehramtes im Schriftauslegungsprozeß".15

2. Offene Fragen und diskutierte, mögliche Antworten

Wenn ich nun der Frage nach den "verbindliche(n) Vergewisserungsinstanzen" nachgehe, so wird man zunächst einmal festhalten müssen: Nicht nur die oben beschriebenen Gemeinsamkeiten inhaltlicher Art haben die ökumenische Verständigung in Gang gesetzt; vielmehr hat die auf beiden Seiten wahrgenommene Herausforderung durch neuzeitliches, historisches Verstehen Bewegung in die konfessionell strittige Schriftlehre gebracht. Denn die evangelische Theologie des 17. und 18. Jahrhunderts konnte bekanntlich an der von der Orthodoxie behaupteten "objektiven Einheit von Buchstabe, Geist und Lehre der Schrift" angesichts der vermehrten "Einsichten in die menschlich-historische Bedingtheit biblischer Aussagen nicht festhalten".16 Auch die evangelische Theologie mußte den Schritt zu der "Subjektivität eines Auslegers" tun.17 Insofern fragt man auch hier nach verbindlicher Schriftauslegung, nach einem Lehramt oder - kontroverstheologisch neutral ausgedrückt - nach "verbindliche(n) Vergewisserungsinstanzen". Beide Kirchen stehen darüberhinaus vor dem hermeneutischen Problem, "wie unter den Bedingungen historisch-kritischer Exegese die Einheit der Schrift als Kanon Alten und Neuen Testamentes auf neue Weise erkannt und das darin waltende Offenbarungswirken des Geistes Gottes eigens verstanden und zur Geltung gebracht werden kann".18

Auf diese neuzeitliche Herausforderung beziehen sich die offenen Fragen und die diskutierten, aber noch nicht zur gemeinsamen Klärung gebrachten Lösungsvorschläge einzelner Theologen aus dem Arbeitskreis. Ich beginne mit Fragen der Schriftauslegung und komme dann zu Fragen des Lehramtes. Bei der Schriftauslegung werde ich mehr auf evangelische Konvergenzbemühungen eingehen, beim Lehramt auf die Neubesinnung vor allem in der katholischen Theologie.





a) "Vergewisserungsinstanzen" evangelisch - die Funktion der historisch-kritischen Methode im Zusammenhang kirchlicher Schriftauslegung. Diskussionsanstöße im Ökumenischen Arbeitskreis:19

Am Anfang des evangelischen Beitrags von Ulrich Wilckens steht eine differenzierte Beurteilung der Möglichkeiten und der Grenzen historisch-kritischer Schriftauslegung.20 Dabei wendet sich der Neutestamentler gegen die leitend gewordene These Gerhard Ebelings "von der sachlichen Entsprechung zwischen historischer Bibelkritik und reformatorischer Rechtfertigungslehre" (48). Ebeling reagierte bekanntlich auf die Unsicherheiten hinsichtlich der geschichtlichen Wirklichkeit von Jesu Auferstehung, indem er die durch das Wort verkündigte Auferstehungsbotschaft und den dadurch hervorgerufenen Glauben allen neuzeitlichen Denkwidrigkeiten entgegensetzte und so die "sachliche Übereinstimmung mit dem reformatorischen Prinzip ’sola fide’" propagierte (48). Wilckens fragt zurück: "Gehört es nicht wesenhaft zur ’Sache’ des Neuen Testamentes selbst, ob man mit den urchristlichen Zeugen von der Wirklichkeit des Heilsgeschehens und von der Wirklichkeit seiner Vergegenwärtigung sowohl im Wort wie im Sakrament, sowohl im Munde Jesu wie im Munde der von ihm bevollmächtigten Apostel, sowohl in der vorösterlichen Jüngerschaft wie in der nachösterlichen Kirche, zu reden und im Glauben überzeugt zu sein vermag?" (49)

Wenn also die geschichtliche Wirklichkeit der Auferstehung die Grenzen der historischen Bibelforschung offenbar macht, dann muß diese Form der Bibelauslegung ergänzt werden. Ansätze dazu sieht der Exeget in der formgeschichtlichen Methode, "deren ökumenisch-hermeneutische Bedeutung noch keineswegs hinreichend ausgeschöpft worden ist" (51). Der überlieferungsgeschichtliche Kontext weise daraufhin, daß alle Verfasser und Adressaten der urchristlichen Schriften "mit den Grunderfahrungen der Gegenwart Gottes, Christi, des Heiligen Geistes, in allen Lebensvollzügen" Tag für Tag lebten (51). Und diese Grunderfahrung teilen die Christen damals und die Christen heute. Damit werde nicht die menschliche Erfahrung in den Vordergrund gerückt, sondern das, was die Kontinuität damals und heute ausmacht: "die lebendige und Leben schaffende Auferstehungswirklichkeit des Geistes Gottes" (55).

Die Taufe Jesu und die damit verbundene endzeitliche Wirklichkeit des Geistes sei der "christologisch-pneumatologische Grund", die ganze Geschichte Jesu und "zugleich alle Glaubenserkenntnis in den apostolischen Briefen" sowohl historisch als auch geistlich zu sehen (56). Die "geistlich-eschatologische Gesamtdimension des Zeugnisses aller neutestamentlichen Schriften" ist für Wilckens demnach "historisch-kritisch völlig eindeutig erkennbar", obwohl diese Wirklichkeitsdimension "der Vernunft als solcher nicht zugänglich" ist (57). Insofern könne an den historisch-kritisch verstandenen Texten selbst der Zusammenhang von historisch-kritischer Auslegung und geistlicher Auslegung aufgewiesen werden. Keinesfalls gehe es darum, diese Auslegungsart gegen jene auszuspielen; der Neutestamentler schreibt: "Die Aufgabe historisch-kritischer Exegese ist und bleibt es, so präzise wie differenziert nachzuverstehen, was die biblischen Texte in ihrer Zeit und Welt als Zeugnisse der Offenbarung Gottes in Christus Jesus sagen wollten" (53).

Inspiration der Schrift wird demnach nicht auf das Buch und den Buchstaben bezogen, sondern verweist auf die Grunderfahrung der unverfügbaren Gegenwart des Geistes Gottes und der Wirklichkeit seiner Vergegenwärtigung in Wort und Sakrament. Historisch-kritische Auslegung hat ihren Ort in der Kirche und der möglichen Geisterfahrung dort.

Wilckens bleibt bei dieser Antwort auf unsere Fragen nach dem Zusammenhang von historisch-kritischer und kirchlicher Schriftauslegung nicht stehen. Seine Überlegungen laufen letztlich auf einen Vorschlag hinaus, der für einen evangelischen Theologen ungewöhnlich ist: Der Lübecker Alt-Bischof plädiert für eine "Wiedergewinnung und kritische Neugestaltung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn" (63, Hervorhebung von mir!). Denn: Die "grundlegende(n) Inhalte des ’geistlichen’, ’moralischen’ und ’anagogischen’ Schriftsinns sind im NT selbst bezeugt und lassen sich darum in historisch-kritischer Exegese als der modernen Form des sensus litteralis aufweisen" (71). Außerdem hat faktisch jeder der "Schriftsinne" in der evangelischen Kirche eine "durchaus wichtige Rolle gespielt" (63). Die Krise des Schriftgebrauches in der kirchlichen Frömmigkeit könnte überwunden werden durch diese umfassende Schriftdeutung, die nicht nur auf ein historisches Verstehen, sondern auch auf ein die ganze Existenz betreffendes Einverständnis des Menschen abzielt. "Für den Umgang unserer Kirchen mit der Heiligen Schrift" wären die Erfahrungen, die mit der Lehre vom vierfachen Schriftsinn gesammelt wurden, "möglicherweise" - so formuliert Wilckens vorsichtig - ein "hilfreiches Exerzitium ökumenischer Theologie" (66).

b) "Vergewisserungsinstanzen" katholisch - das Lehramt.
Diskussionsanstöße im Ökumenischen Arbeitskreis:
21

Erster Diskussionsanstoß - die Frage nach den "sekundären Kriterien": Für das Thema "Lehramt" interessiert vor allem die Neubesinnung im katholischen Raum. Der Fundamentaltheologe Herrmann Pottmeyer nimmt in seinem Beitrag Bezug auf die Ergebnisse der interkonfessionellen Dialoge. Im sogenannten "Malta-Bericht" von 1972, dem Dialog von Katholiken und Lutheranern, erklärten beide Seiten ihre Überzeugung, "daß die Kirche vom Heiligen Geist unablässig in die Wahrheit eingeführt und in ihr gehalten wird".22 Das "Lehramt" in der Kirche hat, wenn man so will, der Heilige Geist. Diese Versicherung kann aber noch nicht genügen: Es muß neben dem primären Kriterium, nämlich, daß der Heilige Geist das Christusereignis als Heilsgeschehen erweist, auch noch "sekundäre Kriterien"23 geben, "wie sich die Macht des Heiligen Geistes als Kriterium konkret ausweisen läßt"24. Diese Erkenntnis ist bereits ein fundamentaler ökumenischer Fortschritt. Auch die evangelische Seite zieht sich nicht mehr auf die augustinische Unterscheidung zurück, die besagt, daß die unsichtbare Kirche allein durch den Heiligen Geist in der Wahrheit gehalten wird, während für die sichtbare Kirche keine Wahrheitskriterien gegeben sind.

Nachdem die einseitige Gegenüberstellung des Prinzips "Sola scriptura" und des Prinzips der formalen Autorität des kirchlichen Lehramts fruchtlos geblieben ist, soll die Besinnung auf die "sekundären Kriterien" einer authentischen Schriftauslegung und eines Bleibens in der Wahrheit weiterhelfen. Nach lutherischem Verständnis ist bekanntlich das lebendige Wort der Predigt die normale Form verbindlicher Interpretation des Evangeliums. Die evangelischen Beiträge im Ökumenischen Arbeitskreis von Wolfhart Pannenberg und Joachim Mehlhausen zeigen, wie "es zur Reinheit der Lehre des Evangeliums gehört, daß sie den consensus de doctrina evangelii zu erzeugen vermag"25 Für katholische Theologie bedeutet die Frage nach den "sekundären Kriterien", daß sie sich wieder der "ausgewogeneren Kritierienstruktur der Alten Kirche" öffnen sollte (136).

Zweiter Diskussionsanstoß - das gewandelte Überlieferungsverständnis: Wenn in der ökumenischen Diskussion zwischen dem primären Kriterium und den sekundären Kriterien unterschieden wird, so ist dies begründet in dem neuen Verständnis von Überlieferung. Dieses Verständnis "geht aus von der Selbstmitteilung des dreifaltigen Gottes im Wort Gottes, das fleischgeworden und zum Vater erhöht im Geist gegenwärtig und lebendig bleibt und sich überliefert im Verkündigungswort der Kirche und in den Herzen der Gläubigen, im Evangelium" (151). Schrift, Tradition, Dogma und Rezeption sind demnach nicht mit dem Wort Gottes zu identifizieren. Das Evangelium ist die "übergreifend begründende und einende Norm" (153). Die Heilige Schrift ist dann die traditio constitutiva. Pottmeyer schreibt: "Normiert nur durch das Evangelium, das heilschaffende Wort Gottes, können wir die Heilige Schrift als die vorrangige Norm (norma normata primaria) für den Glauben und die nachfolgende Überlieferung bezeichnen" (154). Die nachfolgende Glaubens- und Lehrüberlieferung der Kirche ist "nachgeordnete Norm (norma normata secundaria) für den Glauben und die theologische Erkenntnis" (ebd.). Sie ist die traditio interpretativa.

Dritter Diskussionsanstoß - Kirche als zeit- und raumübergreifende Communio: Von den Normen als inhaltliche Prinzipien des Glaubens sind die Kriterien zu unterscheiden: "Wir verstehen sie", so Pottmeyer, "als äußere und innere Merkmale einer einzelnen Überlieferung, die es erlauben, dieselbe auf ihre Zugehörigkeit zur verbindlichen Glaubensüberlieferung der Kirche oder auf ihren wahren Sinn hin kritisch zu prüfen." (154) Das geschieht 1. durch den diachronen Konsens (der consensio antiquitatis des Vinzenz von Lerin); 2. durch den synchronen Konsens (der consensio unversitatis desselben); 3. durch die "formale Ausdrücklichkeit, mit der eine Lehre vom Glaubenskonsens, vom Lehramt der Hirten und den Theologen als geoffenbart geltend gemacht wird" (154).

Dies ist der katholische Vorschlag, dies sind die "sekundären Kriterien", nach denen der Malta-Bericht fragt. Evangelische Theologen sollten prüfen, ob sie diese Kriterien annehmen können. Wie vereinbart sich die Unfehlbarkeit des Papstes mit der von Pottmeyer abgewehrten Identizierung von Wort Gottes und Lehramt (153)? Der katholische Theologe sieht hier klar "ein ökumenisches Hindernis", weist aber daraufhin, daß "das genannte Dogma trotz seiner Einseitigkeit offen [ist] für eine weiterführende Fassung, die es deutlicher in eine Communio-Ekklesiologie intergrieren würde" (155).

Trotzdem bleibt der ökumenische Fortschritt festzuhalten: Die Rede von der Selbstüberlieferung des Wortes Gottes und die Unterscheidung von "norma fundamentalis", für das im Geist wirksame verkündigte Wort, traditio constitutiva für die Schrift und traditio interpretativa für Lehre, Theologie und Glaubensinn der Christen machten es möglich, auf die Anfragen aus der historisch-kritischen Forschung zu reagieren und der Tatsache einer verbindlichen evangelischen Bekenntnis- und Kirchenordnungstradition gerecht zu werden. Es werden darüberhinaus "sekundäre Kriterien" benannt, die sich auch die evangelische Kirche zu eigen machen kann. Wolfhart Pannenberg etwa nimmt den Communio-Gedanken auf, indem er an Luthers Überzeugung vom Bleiben in der Wahrheit durch die "kritische Wechselbeziehung zwischen dem Verkündigungsamt der Kirche ... und der Rezeption ... durch die Glaubenden" erinnert.26

Wie geschieht nun authentische Schriftauslegung durch die "Vergewisserungsinstanzen" der Kirche? Sowohl der einzelne Christ in der Gemeinde als auch das die Kirche repräsentierende Amt bleiben der Autorität des Evangeliums untergeordnet.27 Der bibelfremde und formale Begriff "Lehramt" wird gemieden. Inhaltlich bestimmte Normen treten in den Vordergrund gemeinsam mit am Communio-Begriff bestimmten Kriterien. An diesen Normen und Kriterien bemißt sich lehramtliche Autorität. Auch in der katholischen Theologie wird dabei "eine kritische Funktion der buchstäblich auszulegenden Schrift ... im Verhältnis zu Lehraussagen des kirchlichen Lehramts anerkannt";28 auch auf der evangelischen Seite wird bejaht, daß authentische und an eine "verbindliche Vergewisserungsinstanz" gebundene Schriftauslegung notwendig ist.

III. Perspektiven aus evangelischer Sicht:
Folgerungen für eine systematisch-theologische Lehre vom vierfachen Schriftsinn


Im Jahre 1987 haben die Allensbacher Meinungsforscher eine Umfrage zum Thema Bibelgebrauch durchgeführt: Etwa 2 %, nur ein ganz kleiner Teil der Kirchenmitglieder, liest häufig in der Bibel, ein Großteil tut das nie - etwa 62 %.29 Man braucht nicht noch eine Umfrage durchzuführen, um ungefähre Vorstellungen über die Regelmäßigkeit des Gottesdienstbesuches zu gewinnen. Für eine Kirche, die sich als "creatura verbi" versteht, für eine reformatorische Tradition, die mit Bibelübersetzung und verständlichen Gottesdiensten Gottes Wort wieder in Schwange bringen wollte, ist dies ein beunruhigendes Ergebnis. Eine "Krise des Schriftgebrauchs" konstatierte ich mit Ulrich Wilckens am Anfang. Ich meine aber: Die ökumenische Klärung im Blick auf die Zuordnung von Schrift und Lehramt könnte einen wesentlichen Beitrag leisten, um einen Weg aus dieser Krise zu finden.

Der Neutestamentler Wilckens hält die wieder neu zu gewinnende Verbindung von historisch-kritischer und geistlicher Schriftauslegung für eine "gesamttheologische" Aufgabe;30 da es um die "Vergegenwärtigung" der Schrift geht, ist also wechselseitige Zusammenarbeit von Exegese und systematischer Theologie gefragt. Überraschenderweise haben jedoch die großen Dogmatiken und systematischen Theologien den vierfachen Schriftsinn in ihrer Schriftlehre gar nicht oder nur am Rande berücksichtigt.31

Folgende vier Grundgedanken kann ich aus der ökumenischen Diskussion als Folgerungen erkennen, sie könnten Bestandteil einer zukünftigen systematisch-theologischen Lehre vom vierfachen Schriftsinn sein:32

1. Der Zusammenhang von Schriftauslegung und Lehramtsproblematik sollte nicht beherrschend werden, wenn es um Zugänge zur Bibelauslegung geht.

Die altkirchliche Bestimmung des Kanons, die am Literalsinn orientierte Schriftauslegung der Reformation, die verbindliche Auslegung durch eine Lehrinstanz in beiden Konfessionen sollten vor allem die Autorität der Schrift sicherstellen. Wenn sich eine ökumenische Verständigung über den Umfang (Kanon), die Schriftauslegung und das Lehramt anbahnt, dann entfällt die Notwendigkeit, die Schriftautorität - je nach Konfession - durch strenge Auslegungsregularien sichern zu müssen. Das ist eine kirchengeschichtlich einmalige Situation. Denn auf der evangelischen Seite führte die einseitige Betonung der Schrift als "Regel und Richtschnur" dazu, daß der Reichtum der Schrift nicht mehr schöpferisch erschlossen werden konnte; die Schrift wurde zum "papierenen Papst". Der Literalsinn und die später dominierende historisch-kritische Methode sind jedoch nur eine, im Blick auf Streitfragen zu nutzende Möglichkeit; der Literalsinn bleibt - darüber besteht ökumenischerKonsens - die grundlegende und maßgebliche Auslegung der Schrift. In der Kirche wird aber - Gott sei Dank - nicht immer gestritten. Vielmehr lebt die Kirche aus dem unermeßlichen Reichtum der Schrift. Der weitere Schriftsinn, der allegorische, tropologische und anagogische Sinn muß in eine Schriftlehre einbezogen werden können, weil Auslegung auf den Glauben hin (allegorisch), auf die Liebe (tropologisch) und auf die Hoffnung hin (anagogisch) die Bibel für unterschiedliche Situationen menschlicher Existenz erschließen kann.33

2. Taufe und Geistausgießung ermächtigen zur vierfachen Schriftauslegung.

Mit der Taufe und der damit verbundenen Geistverheißung ist jeder Christ grundsätzlich befähigt, die Schrift im geistlichen Sinne, allegorisch, tropologisch und anagogisch zu deuten. Nicht die irrtumslose Verbalinspiration der Schrift und des Literalsinns Buchstabe für Buchstabe ist Grund der geistlichen Schriftauslegung, sondern die aufgrund jüngster exegetischer Untersuchungen wieder deutlich gewordene Verbindung von Taufe und Geistempfang. Schriftauslegung in der Kirche hat eine Verheißung. Sie steht aber auch unter dem eschatologischen Vorbehalt, der davor bewahrt, das Wort Gottes und die eigene Auslegung zu identifizieren.

3. Der vierfache Schriftsinn entspricht der historisch-kritisch wahrnehmbaren Eigenart neutestamentlicher Texte.

Die im Neuen Testament selbst erkennbare mehrdimensionale Schriftauslegung sollte auch für uns heute leitend sein. Theologisch ist dies zu begründen durch die Geistverheißung, wie sie in der Situation damals und heute gegeben war und ist. "Jeder der drei über den ,Literal-Sinn’ hinausgehenden ’Schriftsinne’ hat gewichtigen Anhalt im Neuen Testament."34 Der vierfache Schriftsinn ist sowohl historisch-kritisch erkennbar als auch theologisch von der Geistausgießung mit der Taufe her theologisch begründbar, Allegorese also keineswegs eine späte Konzession der alten Kirche an die damals gängige heidnische Hermeneutik.35



4. Der Gottesdienst ist der primäre Ort der vierfachen Schriftauslegung.

Auch wenn der vierfache Schriftsinn in der evangelischen Schriftlehre bislang keinen Niederschlag gefunden hat, so hat er doch de facto die Praxis der evangelischen Kirche geprägt. Jeder, der ein Kirchengesangbuch aufschlägt, kann etwas von der Wirkung des vierfachen Schriftsinnes auch in der evangelischen Kirche feststellen. Vor allem der Gottesdienst ist der Ort,36 wo die wechselseitige Erschließung und kritische Ergänzung der Schriftsinne möglich wird.

"Adäquater Schriftgebrauch", so hielten wir als eine der "wiederentdeckten gemeinsamen Grundlagen" fest, ist nur in der "Kommunikations- und Verantwortungsgemeinschaft der Kirche in der Einheit des Geistes Christi" möglich.37 Kirche ist nicht abstrakt zu verstehen, sondern konkret als die im Gottesdienst versammelte Gemeinschaft ("communio"). Die Beschreibungen von Kirche etwa in Confessio Augustana VII oder in den Schmalkaldischen Artikeln38 sind Beschreibungen des Gottesdienstes. Die ökumenisch so bedeutsame formgeschichtliche Methode verwies auf den Gottesdienst als den primären Ort der Weitergabe des Glaubens. In dem katholischen Beitrag von Albert Gerhards wird dies besonders eindrücklich deutlich.39 Die Liturgie vermittle, wie Gerhards hervorhebt, "die Erfahrung des ganzen Spektrums der Glaubensaussagen im Glaubensbekenntnis von der Schöpfung bis zur Vollendung".40 Der britische, methodistische Theologe Geoffrey Wainwright geht in seiner - aus dem Blickwinkel des Gottesdienstes geschriebenen - Systematischen Theologie noch weiter: "Liturgie, Lehre und Leben gehören wesensmäßig zusammen".41

Ich meine, daß die vielfältigen Dimensionen des Gottesdienstes auch mit Hilfe einer Lehre vom vierfachen Schriftsinn zureichend erfaßt und sogar besser verstanden werden können. Im Gottesdienst kommen in verbalen und nonverbalen Formen die Dimensionen des vierfachen Schriftsinnes zum Ausdruck: Ritual und Kirchraum sind in sich allegorische Deutungen der Schrift. Im Gottesdienst kommt aber auch durch die Predigt, das Glaubensbekenntnis und das Prüfen der Verkündigung durch die Gemeinde der Literalsinn als "Regel und Richtschnur" zur Geltung.

Am Abendmahl kann deutlich gemacht werden, wie die vier Sinne einander ergänzen und die Dimensionen der Mahlfeier zum Ausdruck bringen. Grundsinn bleibt die in den Einsetzungsworten angesprochene Erinnerung an Jesu letztes Mahl. Im allegorischen, auf den Glauben gerichteten Sinne ist die Mahlfeier jedoch Bild der Kirche damals und heute, lokal und universal. Der tropologische, auf die Liebe ausgerichtete Sinn erläutert die im Abendmahl geschehene Vergebung und Annahme Christi und der Christen untereinander. Der anagogische, auf die Hoffnung ausgerichtete Sinn läßt das Abendmahl zum endzeitlichen Freudenmahl und zum Sinnbild der christlichen Hoffnung auf unverbrüchliche, dauerhafte Gemeinschaft werden. Jede dieser Deutungen, die vom letzten Mahl ausgehen, kann - in diesem Fall - auch historisch-kritisch überprüft werden, indem etwa die Sünder- und Zöllnermahle Jesu und das in der Apokalypse bezeugte endzeitliche Hochzeitsmahl des Lammes zugrunde gelegt werden.

Eine Lehre vom vierfachen Schriftsinn wäre ein neuer Bezugsrahmen, um die Zuordnung von Wort und Sakrament zu verstehen. Mit der Lehre vom vierfachen Schriftsinn könnte die gezielt lebensgeschichtliche Deutung eines Bibeltextes in den sogenannten Kasualien und die Textpredigt im Gottesdienst aufeinander bezogen werden. Mit dieser Lehre könnten die vielfachen nonverbalen Formen des Gottesdienstes, Körpersprache, die Stille, der Kirchraum selbst, die bildende Kunst integriert und immer wieder am Literalsinn gemessen werden. Rationalität und Emotionalität verbinden sich; in der modernen Psychologie wird diese Verbindung als wichtig angesehen, um überzeugen zu können.42 Gottesdienst und Kasualien sind öffentlich; in einer säkular geprägten Zeit nehmen auch Menschen daran teil, die nicht glauben. Aufgrund der genannten Stärken können Gottesdienst und Kasualien deutlicher einen missionarischen Zug erhalten. Reformatorische Theologie kann für die exegetisch und theologisch zu begründende vierfache Schriftlehre offen sein, weil - so der reformierte Theologe Hans Helmut Eßer - "die eigentliche und einzige pneumatologische Neuentdeckung der Reformation ... die ’Lehre vom inneren Zeugnis des Heiligen Geistes’" im Zusammenhang mit der Schrift ist.43 Ich setze damit aber voraus, daß die Schrift nicht allein in ihrer Funktion als "Regel und Richtschnur", also nicht allein im Zusammenhang der Lehramtsproblematik gesehen wird.

Die vierfache Schriftlehre hat vielfachen Widerstand in der Kirchengeschichte erfahren. Willkürlich sei diese Lehre, weil sie erlaube, die eigene theologische Tradition in die Schrift hineinzulesen, so die Reformatoren; unkritisch und naiv sei sie, so wendet heute der historisch-kritisch geschulte Theologe ein, weil mit ihr ein disparater exegetischer Befund geglättet werden könne. Es geht mir nicht um die Repristinierung etwa der Sicht des Origines oder des Thomas von Aquin. Was spricht denn nun für eine "Wiedergewinnung und kritische Neugestaltung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn"?44

Was also heißt es, die Lehre vom vierfachen Schriftsinn kritisch neu zu gestalten?

Erstens: Eine kritisch neugestaltete Lehre vom vierfachen Schriftsinn müßte aus zwei voneinander zu unterscheidenden Teilen bestehen, der Lehre von der verbindlichen und lehramtlichen Schriftauslegung und einer Lehre des kirchlichen Schriftgebrauchs.

Origines befürwortete bekanntlich im Streit um das richtige Bibelverständnis die allegorische Schriftdeutung, die er für höherwertig hielt; die Reformatoren lehnten den vierfachen Schriftsinn ab, weil die vieldeutige Schrift damit in die Hand des kirchlichen Lehramtes gelegt werden müßte. In beiden Fällen wurde über verbindliche Schriftauslegung gestritten, fast immer hatte dieser lehramtliche Streit negative Konsequenzen für den kirchlichen Schriftgebrauch. Eine Lehre vom Schriftgebrauch sollte deshalb für sich, frei von der Frage nach verbindlicher Auslegung behandelt werden. Denn es geht bei ihr - im positiven Sinne - um "Erbauung"; mit den Formeln großer Schriftausleger: "allegoria aedificat fidem", "anagogia aedificat spem", die tropologische Deutung ist "ad aedificationem caritatis".45 Als ich zu Beginn die altprotestantischen Eigenschaften der Schrift, "Auctoritas", "Sufficentia" und "Perspicuitas", nannte, fehlte eine der Eigenschaften, die "Efficacia", die Wirksamkeit der Schrift. Von dieser Eigenschaft sollte eine Lehre vom kirchlichen Schriftgebrauch handeln. Während der Lehre von der verbindlichen und lehramtlichen Schriftauslegung die Eigenschaften "Auctoritas", "Sufficentia" und "Perspicuitas" vorbehalten sind.

Zweitens: Der vierfache Schriftsinn ist nicht eine Methode in der heutigen Vielfalt exegetischer Methoden, sondern ein systematisch-theologischer Erschließungsbegriff.

Viele der neuen exegetischen Methoden modifizieren oder ergänzen lediglich die bestehende, historisch-kritische Methode, also den Literalsinn. Tiefenpsychologische, materialistische und feministische Interpretation würde ich eher als Zugänge oder Sichtweisen denn als Methode oder Methodenschritt verstehen. Der vierfache Schriftsinn ist demgegenüber ein systematisch-theologischer Oberbegriff, in den sich die unterschiedlichen Methoden und Zugänge integrieren lassen. Allegorische Schriftdeutung und Vergegenwärtigung kann auch tiefenpsychologisch oder feministisch geschehen. Grundsätzlich läßt sich aber sagen, daß mit dem "vielfachen Schriftsinn" der modernen Exegese historisch fernstehende Texte auf ihre aktuelle Relevanz hin befragt werden. Die allegorisch gedeutete Schrift wird aber als direkte Anrede in meine Gegenwart verstanden; "es geht um die Bedeutung der Schrift für den Christen, dessen Leben gestellt ist zwischen Auferstehung und Wiederkunft Christi".46 Durch die Geistverheißung wird die Kontinuität von damals und heute theologisch gedacht und in der - damals und heute - gemeinsamen praxis pietatis - Gebet, Mahlfeier, Verkündigung, Taufe - grundgelegt. Modelle anwendungsorientierter Bibelauslegung denken die Kontinuität über das menschliche Existenzverständnis, indem sie z. B. tiefenpsychologisch oder feministisch gegenwärtige Erfahrungen in biblischen Texten wiederfinden.

Drittens: Mit einer kritischen Neugestaltung wäre der allegorische Sinn nicht wie bei Origines als esoterisches, höherwertiges Wissen der wenigen Vollkommenen zu begreifen; die anthropologischen Prämissen des Origines und seine Unterscheidung von Leib - Seele - Geist können heute nicht mehr übernommen werden. Mit der Geistverleihung in der Taufe ist vielmehr jeder Christ zur geistlichen Schriftauslegung befähigt. Ähnlich wie in der Antike wäre die Bibel eine Art "integrierende(s) Prisma", die Bibel wäre der "unüberholbare Ausgangs- und Bezugspunkt allegorischer Rede und Interpretation".47 Erfahrungen in einer multikulturellen Welt könnten mit der Allegorese auf die Schrift hin gedeutet und so in eine christliche Weltsicht integriert werden.

Halten wir als ökumenische Fazit fest: Wenn die lehramtlichen Fragen nach der Schriftauslegung geklärt sind und das Schriftprinzip neu verstanden wird, wenn die strittige Kanonfrage, die Frage nach der Rechtfertigung als "Kanon im Kanon" konsensfähig beantwortet ist, wenn beide Seiten den historisch-kritisch ermittelten Literalsinn verbindlicher Schriftauslegung zugrunde legen, dann ist der Weg frei, wieder neu über den kirchlichen Schriftgebrauch nachzudenken. Eine Relecture der Lehre vom vierfachen Schriftsinn könnte heute - so meine ich - wichtige Impulse geben: wir sollten uns an diese alte Auslegungstradition "erinnern, um Neues zu sagen".48

Fussnoten:

1 Vgl. U. Wilckens, Schriftauslegung in historisch-kritischer Forschung und geistlicher Betrachtung, in: W. Pannenberg/T. Schneider [Hrsg.], Verbindliches Zeugnis II. Schriftauslegung - Lehramt - Rezeption. Dialog der Kirchen Bd. 9 (Freiburg i. Br./Göttingen 1995), 67.

2 Vgl. FC, Epit. 1; BSLK 767, 8-11.

3 Vgl. U. Wilckens, a. a. O., 67.

4 Vgl. U. Wilckens, a. a. O., 16.

5 Vgl. U. Wilckens, a. a. O., 67 (Hervorhebung von mir!).

6 Vgl. Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen. Kanon - Heilige Schrift - Tradition. Gemeinsame Erklärung, in: W. Pannenberg, u. T. Schneider [Hrsg.], Verbindliches Zeugnis I. Kanon - Schrift - Tradition. Dialog der Kirchen Bd. 7 (Freiburg i. Br./Göttingen 1992), 371-397 (künftig abgekürzt zitiert: VZ I).

7 Vgl. W. Pannenberg, u. T. Schneider [Hrsg.], Vorwort der Herausgeber, in: dies., Verbindliches Zeugnis II. Schriftauslegung - Lehramt - Rezeption, 7.

8 Vgl. VZ I, 386.

9 Vgl. VZ I, 392.

10 Ebd.

11 Ebd.

12 Vgl. VZ I, 389.

13 Vgl. VZ I, 392.

14 Ebd.

15 Vgl. VZ I, 392 f.

16 Vgl. VZ I, 393.

17 Vgl. VZ I, 394 und die Beschreibung dieser Entwicklung bei W. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1 (Göttingen 1988), 38-47.

18 Vgl. VZ I, 395.

19 Vgl. zur genauen Fragestellung W. Pannenberg, Zum Stand der Diskussion im Ökumenischen Arbeitskreis, in: ders., T. Schneider [Hrsg.], Verbindliches Zeugnis II. Schriftauslegung - Lehramt - Rezeption, 10 f.

20 Vgl. dazu insgesamt U. Wilckens, Schriftauslegung in historisch-kritischer Forschung und geistlicher Betrachtung, 13-71. Ich zitiere im folgenden die Seitenzahlen im Text.

21 Zur genauen Fragestellung vgl. W. Pannenberg, Zum Stand der Diskussion im Ökumenischen Arbeitskreis, 11.

22Vgl. H. Meyer, H.-J. Urban, L. Vischer [Hrsg.], Dokumente wachsender Übereinstimmung, Bd. 1, Nr. 22, 254; zit. bei H. J. Pottmeyer, Bleiben in der Wahrheit. Verbindlichkeit des Glaubenszeugnisses der Kirche aus katholischer Sicht, in: W. Pannenberg, T. Schneider [Hrsg.], Verbindliches Zeugnis II. Schriftauslegung - Lehramt - Rezeption, 135. Ich zitiere den Beitrag von Pottmeyer im folgenden Abschnitt mit Seitenzahlen im Text.

23 Vgl. H. Meyer, H.-J. Urban, L. Vischer [Hrsg.], a. a. O., Nr. 18-23, 253 f., zit. bei H. J. Pottmeyer, a. a. O., 136 (Hervorhebung von mir!).

24 Ebd.

25 Vgl. W. Pannenberg, Bleiben in der Wahrheit als Thema reformatorischer Theologie, in: ders., T. Schneider [Hrsg.], Verbindliches Zeugnis II. Schriftauslegung - Lehramt - Rezeption, 133, und die Beiträge von J. Mehlhausen, Die Rezeption der Barmer Theologischen Erklärung in den evangelischen Landeskirchen nach 1945, in: W. Pannenberg, T. Schneider [Hrsg.], Verbindliches Zeugnis II. Schriftauslegung - Lehramt - Rezeption, 219-245, und ders., Kirchenordnungen und die Weitergabe des Glaubens und der Lehre, in: s. o., 284-308.

26 Vgl. W. Pannenberg, Bleiben in der Wahrheit als Thema reformatorischer Theologie, 133.

27 Darin ist der Konsens zwischen dem Katholiken Pottmeyer und dem evangelischen Theologen Pannenberg zu sehen (vgl. W. Pannenberg, a. a. O., 129).

28 Vgl. die Frage VZ I, 396.

29 Zu den Zahlen vgl. C. Grethlein, Modernes Leben mit der Bibel, in: BThZ 14, 1997, 156.

30 Vgl. U. Wilckens, a. a. O., 16 f.

31 Vgl. dazu z. B. K. Barth, KD I/2, 505 ff.; W. Pannenberg, Systematische Theologie 1, 36 ff.; F. Mildenberger, Biblische Dogmatik. Eine Biblische Theologie in dogmatischer Perspektive Bd. 1 (Stuttgart u. a. 1991), 54 ff. (90).

32 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Neuschreibung der Schriftlehre des Protestantismus von K. Huizing, Homo legens. Vom Ursprung der Theologie im Lesen (Berlin/New York 1996).

33 Vgl. W. Beinert, Art. Heilige Schrift, in: ders. [Hrsg.], Lexikon der katholischen Dogmatik (Freiburg i. Br. u. a. 1987), 243.

34 Vgl. U. Wilckens, a. a. O., 63.

35 Zum Verhältnis von heidnischer und christlicher Allegorese vgl. C. Jacob, Allegorese: Rhetorik, Ästhetik, Theologie, in: C. Dohmen u. a. [Hrsg.], Neue Formen der Schriftauslegung? QD 140 (Freiburg i. Br. u. a. 1992), 131-163 (für die Eigenständigkeit christlicher Allegorese a. a. O., 160).

36 Zum Primat gottesdienstlicher Schriftauslegung allgemein vgl. R. Slenzka, Schriftautorität und Schriftkritik, in: W. Pannenberg, T. Schneider [Hrsg.], Verbindliches Zeugnis I. Kanon - Schrift - Tradition, 334; vgl. auch F. Mildenberger, Biblische Dogmatik 1, 71.

37 Vgl. VZ I, 392.

38 Vgl. AS II, BSLK 430, 23-26.

39 Vgl. A. Gerhards, Die Rolle des Gottesdienstes für die Weitergabe des Glaubens, in: W. Pannenberg, T. Schneider [Hrsg.], Verbindliches Zeugnis II. Schriftauslegung - Lehramt - Rezeption, 259-283.

40 Vgl. A. Gerhards, a. a. O., 283.

41 Vgl. G. Wainwright, Doxology. The Praise of God in Worship, Doctrine and Life. A Systematic Theology (London 1980); Zitat aus: ders., Systematisch-theologische Grundlegung, in: H.-C. Schmidt-Lauber, K.-H. Bieritz [Hrsg.], Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche (Leipzig/Göttingen 1995), 89 (Hervorhebung von mir!).

42 Vgl. A. Gerhards, a. a. O., 277.

43 Vgl. H. H. Eßer, Die Lehre vom "testimonium Spiritus Sancti internum" bei Calvin und innerhalb seiner Lehre von der Heiligen Schrift, in: W. Pannenberg, T. Schneider [Hrsg.], Verbindliches Zeugnis II. Schriftauslegung - Lehramt - Rezeption, 251.

44 Vgl. U. Wilckens, a. a. O., 63 (Hervorhebung von mir!).

45 Vgl. zu den Formeln Gregor des Großen C. Dohmen, Vom vielfachen Schriftsinn - Möglichkeiten und Grenzen neuerer Zugänge zu biblischen Texten, in: ders. u. a. [Hrsg.], Neue Formen der Schriftauslegung?, 18 f.

46 Vgl. C. Dohmen, a. a. O., 20.

47 Vgl. dazu C. Jacob, Allegorese, 160.

48 Vgl. die Aufsatzsammlung von J.-P. van Noppen [Hrsg.], Erinnern, um Neues zu sagen. Die Bedeutung der Metapher für die religiöse Sprache (Frankfurt 1988), zit. bei C. Jacob, a. a. O., 161.