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Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

163–165

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Müller, Achim

Titel/Untertitel:

Proverbien 1-9. Der Weisheit neue Kleider.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2000. IX, 356 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 291. Lw. ¬ 98,00. ISBN 3-11-016755-7.

Rezensent:

Jutta Krispenz

Das Buch "Proverbien 1-9. Der Weisheit neue Kleider" von Achim Müller ist hervorgegangen aus einer Dissertation, die 1998 in Mainz angenommen wurde. Die Betreuung der Arbeit lag in den Händen des inzwischen verstorbenen Diethelm Michel.

Die Arbeit ist in ihrer Anlage stärker und deutlicher strukturiert als das Inhaltsverzeichnis dem Leser suggeriert. Die "Einleitung" bietet eine Forschungsgeschichte, die M. differenziert in eine "Allgemeine Forschungsgeschichte" zu Prov 1-9 und einen Abschnitt, der "Die Theorien über das Werden von Prov 1-9" thematisiert. Ein Abschnitt "Der Aufbau der Arbeit" schließt die Einleitung ab. In ihm wird die im Inhaltsverzeichnis nicht dargelegte Strukturierung der Arbeit nachgereicht: Die auf die Einleitung folgenden Kapitel 2-11 bilden einen ersten Hauptteil, der Einzelexegesen enthält, der zweite Hauptteil in Kapitel 12-14 behandelt unter drei unterschiedlichen Blickwinkeln ("Die Komposition von Prov 1-9", "Zur Formgeschichte der Lehrrede", "Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte von Prov 1-9") den gesamten Textbereich der ersten Sammlung des Sprüchebuches. Das Kapitel 15 "Ergebnisse und Ausblick" versieht das Werk mit einem Abschluss.

Die Segmentierung von Prov 1-9, die M. für die Einzelexegesen vornimmt, "... ist anhand der Anreden mit Höraufforderung relativ leicht vorzunehmen und überwiegend unstrittig" (21). Diese Segmente werden in den Kapiteln 2-11 behandelt, wobei M. seine Vorgehensweise folgendermaßen beschreibt: "Ausgehend von einem philologisch gesicherten Textverständnis kann nach der Struktur der einzelnen Textsegmente gefragt werden. Für die Elemente, die ein Autor zur Verfügung hat, um einen Text aufzubauen und zu gestalten, spielt die Gattung, in der er sich ausdrückt, eine wichtige Rolle, da sie das Muster ist, das den Textaufbau steuert. Die inhaltliche Analyse der Texte knüpft an die Strukturuntersuchung an, da das Textthema mit der kompositorischen Gestalt der Texte kongruieren sollte. Darüber hinaus ist zu fragen, welche Traditionen dem Autor vorlagen, und wie in diesem Horizont seine Aussage gewichtet ist. Zu achten ist ferner auf die kompositorischen Verbindungen zwischen den einzelnen Texteinheiten" (22). Damit ist für die Untersuchung ein weites Feld abgesteckt, aber leider keine konsistente Vorgehensweise begründet, denn: Wie die einzelnen Beobachtungsaspekte sich zueinander verhalten, erläutert M. nicht, für die Beschreibung der Struktur der Segmente entwirft er kein durchgängiges Beobachtungsraster. Das ist ein Manko, das die ganze Arbeit überschattet. Auch M. unternimmt nämlich - wie vor ihm schon R. Schäfer1 - den Versuch, in einer Arbeit die Textabschnitte in Prov 1-9 und den Gesamttext Prov 1-9 unter kompositorischem wie auch unter literarkritischem Vorzeichen zu verstehen. Literarkritik und Kompositionsanalyse sind aber Arbeitsgänge, die in entgegengesetzte Richtungen zielen: Wo liegt der Punkt, ab dem nicht mehr von einer strukturierten Komposition, sondern vielmehr von einem literarisch brüchigen Text gesprochen werden soll, einem Text, für dessen adäquates Verständnis literarkritische Operationen erforderlich sind? (Brennend wird das Problem, wo, wie in der Redaktionsgeschichte, der Text zwar durch seine Brüchigkeit sein literarisches Wachstum zeigt, zugleich aber - auf einer höheren Ebene gewissermaßen - sich als harmonische Komposition erweist. In M.s Buch geschieht das in Kapitel 12). M. gibt keine klaren Bedingungen an, unter denen er eine "Struktur" annimmt, sondern scheint die Strukturiertheit von Texten aus jeweils ad hoc zusammengetragenen Textbeobachtungen zu folgern. Das impliziert ein starkes Vertrauen in die Allgemeingültigkeit von Strukturen, in ihre sich durchhaltende Identität über die Grenzen der Kulturen und Epochen hinweg.

Die Beobachtungen, die M. einbringt, sind dabei vielfältig. Sie reichen von Entsprechungen in grammatischen Formen über lexikalische Entsprechungen, analoge syntaktische Fügungen bis zu rhetorischen Figuren, semantischen Zusammenhängen, thematischen Anklängen und Bezügen in der Tendenz. Die Gattung der Lehrrede mit ihren formalen Vorgaben spielt naturgemäß immer wieder eine tragende Rolle.

Die einzelnen Abschnitte, die M. behandelt, werden jeweils durch eine Übersetzung eröffnet. In ihr hat M. literarkritische Entscheidungen - die im Text begründet werden - kenntlich gemacht. Textkritik und sprachliche Klärungen werden in zahlreichen Anmerkungen zur Übersetzung abgehandelt. Nicht ganz leicht nachvollziehbar ist, dass M. auf Kritik an der von ihm übernommenen Syntax- und Tempustheorie seines Lehrers2 nirgendwo eingeht. So wird der Leser mit einer "philologisch gesicherten Übersetzung" (22) konfrontiert, die hebräische Perfektformen wie Imperfektformen mit deutschem Präsens wiedergibt (z. B. 221 zu Prov 8,12), und wenn M. ein weyiqtol kommentarlos mit einem koordinierten Präsens wiedergibt (253 zu Prov 9,11), dann ist doch zu fragen, wie viele Vorentscheidungen denn in der Übersetzung, die den Ausgangspunkt bildet, verborgen sind.

Die Reihenfolge, in der M. die einzelnen Abschnitte behandelt, entspricht der chronologischen Abfolge, die M. für die Entstehung der Sammlung annimmt. Der Anhang bietet dazu eine Übersicht (321). Den ältesten Kern bildet eine Weisheitslehre, die in den Abschnitten 4,10-27; 5,21 f. und 6,1-19 vorliegt und die in 2,1-4.9-15.20 eine erste Erweiterung erfahren hat. Ihr Gepräge erfährt die Sammlung jedoch durch die "Formative Redaktion", die eine große Menge an Texten aus Prov 1-8 beigesteuert hat. Unter den späteren Ergänzungen sind besonders das Kapitel Prov 9, das M. auf die drei Gruppen von späteren Ergänzungen ("allegorisches Examen", "Frömmigkeits-Gruppe" und "verschiedene Erweiterungen") aufteilt und Prov 8,22-28.29b-31 ("Frömmigkeits-Gruppe") zu nennen. Für die chronologische Einordnung stützt M. sich auf Arbeiten zur Komposition der Sentenzensammlungen, deren Ergebnisse er übernimmt. Die Frage, wie Struktur denn verbindlich zu erheben sei - in den Sentenzensammlungen unumgänglich -, wird in den von M. verwendeten Arbeiten so wenig bearbeitet wie bei M. selbst.

Der Darstellung der Entstehungsgeschichte von Prov 1-9 in Kapitel 14 schickt M. in Kapitel 12 eine Darstellung der Komposition von Prov 1-9 voraus, in der er den Aufbau der ersten Sammlung und "Die motivischen Zusammenhänge" innerhalb derselben darstellt. Einen Überblick über diese von M. erhobene Gestalt, in der M. eine "... Analogie zum Schema der klassischen Sonatenhauptsatzform" (275) sieht, findet der Leser auf Seite 283.

Das Kapitel 13 "Zur Formgeschichte der Lehrrede" fasst die Forschungsgeschichte zur Lehrrede zusammen und versucht, auf dem Hintergrund der vorliegenden Ergebnisse Prov 1-9 in seinen Bestandteilen und als Ganzes dieser "Gattung", die für israelitische wie für ägyptische Texte in ganz unterschiedlicher Gestalt angenommen wird, einzugliedern. Dass M. den Gattungsbegriff dafür dehnen muss, liegt auf der Hand. Formulierungen wie: "Das Proverbienbuch ist eine Großgattung, die verschiedene Untergattungen enthält" (284) oder "Die Gattung der Gesamtkomposition ist ohne Vorbild im AT und, soweit ich sehe, in seiner Umwelt" (294) zeigen, dass hier nicht das gemeint sein kann, was sonst mit dem Begriff "Gattung" in der alttestamentlichen Exegese bezeichnet wird. Zentral scheint für M. die Schule als Sitz im Leben zu sein sowie die Tendenz, Reden anzusammeln. Angesichts der fehlenden gemeinsamen Form der Texte (nicht zuletzt gilt das für die ägyptischen Texte, die untereinander große Unterschiede aufweisen, wenngleich die Bezeichnung sb3jt einige der Weisheitstexte zu einer Gruppe zusammenschließt), ja des Fehlens von analog geformten Texten überhaupt, dürfte die Anwendung des Gattungsbegriffes doch etwas missverständlich sein. Und die Schule ist als Sitz im Leben fast jedes Textes denkbar, für das Verständnis der Texte ergibt diese Verortung nichts Wesentliches.

Das kurze Schlusskapitel wagt im Dialog mit den bereits er-wähnten Forschungsergebnissen zu Prov 10-15 eine Datierung, die Prov 1-9 in seinem Kern in nachexilischer Zeit entstanden denkt, die prägende Redaktion in der - literarisch offenbar höchst fruchtbaren - spätpersischen Zeit ansiedelt.

Ein Anhang bietet eine Synopse zu Prov 2, eine "Matrix der Typen in Prov 3,31-35" und die Übersicht zur Redaktionsgeschichte von Prov 1-9. Literaturverzeichnis und Register (Begriffe, hebräische Wörter und Stellen) schließen den Band ab.

M.s Monographie wird durch reiche Beobachtungen und auch eine gewisse Hypothesenfreudigkeit stärker geprägt als durch methodologische Nachdenklichkeit und Zweifel.

Fussnoten:

1) R. Schäfer, Die Poesie der Weisen, Neukirchen 1999. Diese Arbeit hat M. nur teilweise eingearbeitet. Auf die klaren Übereinstimmungen in der Auslegung von Prov 9 fehlt jeder Hinweis.

2) Vgl. B. K. Waltke/M. O'Connor, An Introduction to Biblical Hebrew Syntax. 4. Auflage, Winona Lake, 1993, 470-475.