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Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

161–163

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Lux, Rüdiger

Titel/Untertitel:

Josef. Der Auserwählte unter seinen Brüdern.

Verlag:

Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 2001. 291 S. m. 17 Abb. 8 = Biblische Gestalten, 1. Kart. ¬ 14,50. ISBN 3-374-01848-3.

Rezensent:

Helmut Utzschneider

Rüdiger Lux' "Josef" (und die Reihe "Biblische Gestalten", die das vorliegende Buch eröffnet) könnte zu jenen Brückenköpfen zählen, über die die biblische Exegese den Weg in die Diskurse der Gegenwart findet, ohne dabei - versteht sich - die Brücke zur Historie abzubrechen. Es gehe, so beschreibt der Autor im Vorwort seine Intention, um "nichts weiter als Erinnerung", eine Erinnerung, durch die jenen "biblischen Gestalten in unserem kulturellen Gedächtnis wieder Namen und Gesicht" gegeben werden soll, die die "verborgene Grammatik unserer Kultur und des christlichen Glaubens darstellen" (vgl. 9 ff.). Dies ist ein hoher, aber angesichts der Marginalisierung der Bibel und ihrer professionellen Exegese in der Gegenwartskultur, ja selbst in Kirche und Theologie, ein notwendiger und begrüßenswerter Anspruch.

Den Kern des Buches (33-212) bildet eine fortlaufend kommentierende Darstellung der "literarische[n] Biographie Josefs" (8) einschließlich ihrer Einbettung in die Erzeltern-Erzählungen. Dazu nutzt L. Einsichten und Möglichkeiten der modernen, literaturwissenschaftlichen Erzählforschung (vgl. dazu in der Einführung, 21 ff.) so, dass ihm eine neuartige Darstellung und Interpretation der alten Erzählung gelingt.

Diese Darstellung geschieht in drei, meist gekonnt miteinander verwobenen Strängen: Im ersten Strang übernimmt L. selbst die Rolle des Erzählers, so z. B.: "Die Reaktion der Brüder auf die Vorzugsgabe des Vaters lässt nicht lange auf sich warten. Als sie Jakobs Vorliebe für Josef nicht nur spüren, sondern in Gestalt des bunten Rockes auch sehen können, wechseln sie kein friedliches Wort mehr mit ihm." (80) Bereits in seiner Rolle als Erzähler beginnt L. zu kommentieren und wendet sich - bisweilen in Wir-Rede - an seine Leser und zieht sie so in die Konstitution der Erzählwelt hinein. "Wie wir ihn auch gerne hätten, als demütigen Dulder oder als mutigen Kämpfer gegen Gewalt und Unrecht, er stellt alle unsere Bilder infrage, die wir uns von ihm machen. Josef bleibt ein Rätsel." (109) Dieser erste Strang der Darstellung vertritt gewissermaßen den biblischen Erzähltext, der wörtlich nur vergleichsweise selten und kurz zitiert wird. Man kann - ausgehend von der Tradition herkömmlicher biblischer Kommentare - einwenden, der biblische Erzähltext selbst trete zu sehr in den Hintergrund, ja werde subjektiv "verfälscht", wenn der Kommentator selbst als Erzähler auftritt. Indessen bringt dieses Verfahren zur Geltung, dass sich biblisches Erzählen - wenn es denn als solches wahrgenommen wird- nie nur als historischer Text, sondern immer auch als gegenwärtiges Ereignis realisiert.

Analytisch und reflektierend eingeholt wird die narrative Vergegenwärtigung durch den zweiten Strang der Darstellung. In diesem Strang erschließt L. - nun als wissenschaftlicher Beobachter - die narrativen Bauformen der Josefserzählung. Dabei macht er auf Perspektiven und Haltungen des Erzählers aufmerksam. So erschließen sich die Techniken des Erzählens, aber auch die wesentlichen Gehalte des Textes (vgl. etwa 122: "Die vielfältigen Doppelungen des Erzählers sind nicht nur eine Eigenart des Stils, sondern auch ein Stück narrativer Theologie, eine Demonstration der Gottesgewissheit"). Eingehend bemüht sich L. um die Rekonstruktion des Plots der Erzählung. Dazu geht er Vor- und Rückverweisen nach, die durch Leitworte (vgl. etwa 56, Verknüpfung der Rahel- mit der Josefserzählung über die Namensdeutung, 95 ff.; "gelingen") oder Leitmotive (z. B. das Kleid in seinen unterschiedlichen Realisierungen) gesetzt werden. Markant zeichnet er die an der Dreizahl orientierten Erzählphasen und -bögen nach: Den drei Phasen des Aufstiegs Josefs entsprechen die drei Reisen der Brüder (vgl. die Übersichtstabelle, 63 f.). L. stellt diese Elemente des Plots nicht nur am Text fest, er verortet sie bisweilen auch im Vergleich mit der antiken, insbesondere ägyptischen Erzähltradition (vgl. etwa 106.135). Damit ist der dritte Strang der Darstellung angesprochen. Er wird durch die zahlreichen, auch durch Abbildungen illustrierten Verweise auf den historischen Hintergrund und das ägyptische Kolorit der Erzählung gebildet und fungiert gewissermaßen als Gegengewicht zur vergegenwärtigenden Narration des ersten Darstellungsstranges.

Welchen Gesamteindruck von der Josefserzählung bringt L. in seiner Auslegung der Josefserzählung hervor? Im Unterschied zu anderen modernen Interpretationen läuft L.s Darstellung nicht auf eine Intention oder das Thema der Josefserzählung zu, etwa das Thema der Versöhnung. Er erschließt vielmehr mehrere "Sinngipfel" des Textes und seiner Hauptfigur. So hebt er etwa gegenüber manchen xenophoben Tendenzen der nachexilischen Zeit die Offenheit der Josefserzählung gegenüber dem Fremden hervor (131 f.). Eindrücklich arbeitet er das in die Erzählung eingewobene Verständnis des Zusammenhangs von Schuld und Vergebung heraus (205 f.).

Über die narrative Erschließung der Josefserzählung hinaus bietet das Buch weitere Überlegungen und Materialien. Skizzenhaft entwirft L. seine Hypothese zur Literargeschichte auf dem Hintergrund der gegenwärtigen Forschung (219-242). Er rechnet mit einer mündlichen Vorgeschichte der "Aufstiegslegende" Josefs (Gen 39-41), die er mit dem Ägyptenaufenthalt Jerobeams I. und dem Aufstieg des Nordreichs in Verbindung bringt. Indessen: "Die Josefsgeschichte, wie wir sie heute kennen, ist ein Kind der Exilszeit. Man kann sie ... als ,Diasporanovelle' bezeichnen." (234) Den Abschluss des Buches bilden Beobachtungen zur Wirkung der Josefsgeschichte (243-280) im frühen Judentum (z. B. Jubiläenbuch, Philo, Josef und Asenet), im Christentum und im Koran. Nur sehr kurz geht L. auf die neuzeitliche Rezeption der Josefserzählung in der bildenden Kunst, der Literatur und im Theater ein. Gerade angesichts seiner Zielsetzung, die biblischen Gestalten als "verborgene Grammatik unserer Kultur" (s. o.) zu rekonstruieren, kann man dies als Mangel empfinden. Auch über manche narratologischen Probleme ließe sich kritisch diskutieren, etwa darüber, dass L. den Erzähler immer wieder sehr eng mit dem Autor zusammensieht.

Dies tut indessen dem Gesamteindruck keinen Abbruch: L. ist eine ansprechend gestaltete, sprachlich gewandte, sachlich ebenso fundierte wie innovative Interpretation der Josefserzählung gelungen, der Leserinnen und Leser in möglichst breiten Kreisen zu wünschen sind. Für exegetische "Profis" enthält das Buch zwar keine neuen Einzelheiten, wohl aber eine neuartige Gesamtwahrnehmung des vertrauten Sujets.