Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

158–160

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

[Haendler, Gert:]

Titel/Untertitel:

Kirchliche Verbindungen über die Ostsee hinweg in Geschichte und Gegenwart. Ein Überblick, zehn Studien und eine Predigt. Festschrift zum 75. Geburtstag des Autors, hrsg. von H. Holze.

Verlag:

Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 1999. 238 S. 8. Kart. ¬ 22,50. ISBN 3-374-01716-9-3.

Rezensent:

Reinhart Staats

Die von Heinrich Holze herausgegebene "Festschrift zum 75. Geburtstag des Autors" ist keine übliche Aufsatzsammlung. Denn alle Beiträge befassen sich "nur" mit der Kirchengeschichte im Ostseeraum. Doch gehört Gert Haendler bekanntlich zu jener immer kleiner werdenden Gruppe von älteren deutschen Kirchenhistorikern, die auch sonst mit Einzelstudien aus allen Gebieten der Kirchengeschichte, von der Alten Kirche bis in die Zeitgeschichte, hervorgetreten sind. In der DDR dürfte er überhaupt als einziger Universitätsprofessor sein Fach bis zuletzt in voller Breite universal vertreten haben. Die von Haendler initiierte und jetzt vor dem Abschluss stehende lange Reihe "Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen" ist dafür eine schöne Bestätigung.

Der besondere Wert des Buches liegt im ersten Teil (A), worin H. "elf Jahrhunderte Kirchengeschichte im Ostseeraum von der ersten Missionsreise Ansgars 830 bis zu den Schwedenreisen Dietrich Bonhoeffers 1936 und 1942" in paradigmatischen Einzelstudien erstmals vorstellt. Es ist die gar nicht beschränkte Perspektive eines Rostocker Professors, wie eine launige autobiographische Skizze einleitend erhellt. Dem deutschen Skandinavienreisenden, der noch an Kirchengeschichte interessiert ist, bietet dieser erste Teil wertvolle Informationen, so wenn er in Kopenhagen vor dem Denkmal Absalons, des Lundenser Erzbischofs und Gründers der dänischen Hauptstadt steht; es zeigt Absalon "hoch zu Roß und läßt eher an einen erfolgreichen Reiterführer als an einen Kirchenmann denken". Ja, Absalon "hatte auch wesentlichen Einfluß auf die Kriegszüge der Dänen nach Rügen, die 1168 zur Zerstörung des Tempels von Arkona führten" (36). Bettelmönche, hl. Birgitta, Hanse, Reformation im Ostseeraum einschließlich Finnlands, die Kirchengeschichte Schwedens von der Landung Gustav Adolfs bis zum Tode des Erzbischofs Nathan Söderblom 1931, auch die Geschichte der deutschen St. Gertrudsgemeinde in Stockholm 1933-1945 (dazu die Kieler Diss. phil. von Ingrid Bohn, 1997) werden kundig und anmerkungsweise in kritischer Beleuchtung so vorgestellt, dass sich ein gut lesbares, facettenreiches Panorama ergibt. Multum, non multa.

So sollte auch zu Vermissendes nicht zu hoch gehängt werden. Aus der Sicht des Rez. ist das die tatsächlich schwache Wirkung des Investiturstreites im Norden, die aber nicht zu überschätzende starke Rolle Bernhards und seiner Zisterzienser bei der Gewaltmission - bis hin ins Baltikum. Die Einbeziehung auch jener Region in die nordeuropäische Geschichte (das dänische Reval, die Birgittenschwestern dort heute wieder, Gustav Adolf und die goldene Schwedenzeit in Estland u. a. m. eröffnen sich freilich erst jetzt der Erkenntnis nach der Freiheit des Baltikums vom Sowjetsystem). Die vorsichtige Kritik an Theodor Heckels Wirken in Finnland und an der umstrittenen Biographie zu diesem deutschen Auslandsbischof (72-81, vgl. R.-U. Kunze, 1997), der in einem nur "privaten" Gespräch vor dem finnischen Premierminister 1943 äußerte, "daß sich die nationalsozialistische Staatsmacht der christlichen Kirche gegenüber feindlich verhielt", könnte schärfer ausfallen. Denn immerhin hatte der Kirchenführer Heckel (der gewiss meist zu einseitig als Denunziant Bonhoeffers in Literatur und heutigem öffentlichem Diskurs erscheint) auch zu starken Worten der Parteinahme für die NS-Ideologie "öffentlich" gefunden, so 1939 in seinem Vortrag vor Auslandsgemeinden über den Schweden und mehr noch Deutschen Ernst Moritz Arndt. Da hatte Heckel noch geschwärmt von "Artreinheit und Artgemäßheit deutschen Wesens", vom "großdeutschen Reich" und davon, "daß Deutschtum und evangelisches Christentum unscheidbar zusammengehören" (vgl. Staats, in: M. Richter [Hrsg.], Kirche in Preußen. Stuttgart 1983, 75 f.)

Der zweite Teil (B) versammelt ältere und neuere Studien. 1. "Traum und Tat bei Ansgar". In Würdigung des Lebenswerkes von Otto Haendler, dem Vater Gerts und Wegbereiter der modernen Pastoralpsychologie, wird exemplarisch an Rimberts Ansgar-Vita demonstriert, wie in Antike und Mittelalter Träume und Visionen die Missionsgeschichte bestimmten (auch an Kaiser Konstantin ist zu denken), so dass der Kern großer Weltgeschichte "nicht das Bewußtsein, sondern das Unterbewußte" ist. - 2. Ein bisher ungedruckter Vortrag anlässlich der Ehrenpromotion in Uppsala 1991: "Ansgars Bedeutung in der Darstellung Rimberts (nach 865) und im Geschichtswerk Adams von Bremen (nach 1072)" ist zugleich ein internationaler Forschungsbericht. - 3. "Die Zulassung der Theologischen Fakultät an der Universität Rostock 1432 im Lichte der Papstgeschichte" ist zugleich ein Beitrag über die Fortwirkung des Konziliarismus bis Luther. - 4. "Die Ausbreitung der Reformation in den Ostseeraum und Johannes Bugenhagen" enthält einen wichtigen Hinweis zur Bedeutung des niederdeutschen Chorals in den Anfängen der Reformation als Volksbewegung, was in der frühen Reformationsgeschichte Skandinaviens gerade so keine Rolle gespielt hatte (dazu auch: Inge Mager, Lied und Reformation. Beobachtungen zur reformatorischen Singebewegung in norddeutschen Städten. In: A. Dürr/W. Killy, Das protestantische Kirchenlied im 16. u. 17. Jh., Wiesbaden 1986, 25-38). - 5. "Der Rostocker Theologe David Chytraeus (gest. 1600) und seine Beziehung zu König Johann III. von Schweden". Der Aufsatz ergänzt auch den früheren Forschungsbericht zu diesem einflussreichen Schüler Melanchthons (H. in ThLZ 121, 1996, 3-16) bis 1999. - 6. "Nachwirkungen des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf in der Leipziger Gustav-Adolf-Stiftung 1832" ist eine instruktive Miniatur auch darüber, wie der bekanntlich ins Deutsch-Nationale abdriftende "Gustav Adolf Verein sich schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts nur noch selten auf den Schwedenkönig berief, nach dem er sich nannte" (16). - 7. "Der schwedische Bischof Knut Henning Gezelius von Schéele und die Tagungen der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Konferenz (AELK) in Lund 1901 und Uppsala 1911". So speziell diese Studie erscheint, sie dokumentiert doch auch das schwierige Verhältnis der Kirchenführer und Theologen Norwegens und Schwedens zum deutschen kirchlichen Liberalismus. - 8. "Zur Bedeutung Martin Luthers auf den Konferenzen der Hochschultheologen der Ostseeländer 1961 bis 1980" und 9. "Kirchengeschichtliche Anmerkungen zu den baltischen Theologenkonferenzen von 1961 bis 1990". Die Konferenzen waren bis zur Wende 1989 für die Ostsee-Fakultäten Rostock und Greifswald Gelegenheiten zur Internationalisierung ihrer Lehre und Forschung (seit 1985 durfte sogar Kiel dabei sein). Diese beiden kleinen Studien dokumentieren die dialogische und versöhnende Kraft der theologischen Wissenschaft im Zeitalter ideologisch-politischer Vorherrschaften. Schließlich runden 10. ein Bericht über "Nordeuropäische Anstöße zur Gründung des Theologischen Arbeitskreises für reformationsgeschichtliche Forschung (TARF) 1969/70" und eine Pfingstpredigt von 1969 diese sowohl kirchenhistorischen als auch kirchenpraktischen Studien ab. Man kann vom Autor lernen, dass auch weiterhin die Kirchengeschichte eine unentbehrliche Zweigwissenschaft der Praktischen Theologie bleiben muss.