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Ausgabe:

Januar/2002

Spalte:

110–112

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ratzmann, Wolfgang, u. Jürgen Ziemer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirche unter Veränderungsdruck. Wahrnehmungen und Perspektiven.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2000. 198 S. 8. Kart. ¬ 17,40. ISBN 3-374-01832-7.

Rezensent:

Helmut Zeddies

Die weitreichenden Veränderungen, denen sich die evangelischen Landeskirchen in Ostdeutschland im Grunde schon seit langem, nach der deutschen Vereinigung jedoch unausweichlich gegenübersahen, sind inzwischen vielfach beschrieben, oft auch beklagt und kontrovers erörtert worden. Am Ende kamen die Kirchen an schmerzlichen Entscheidungen über tiefe Einschnitte in Haushalte, Personalbestand, Strukturen und Aufgabenfelder nicht vorbei. Dass dieser Umbruch Gegenstand einer Konsultation der Leipziger Theologischen Fakultät war, verdient besondere Beachtung. Das gilt umso mehr, als die akademische Theologie an den Entscheidungen der Kirchen so gut wie nicht beteiligt war, wie die Herausgeber im Vorwort der hier anzuzeigenden Publikation ausdrücklich feststellen.

Diese dokumentiert die bei der Tagung gehaltenen Vorträge, die jeweils mit kritischen Kommentaren einzelner Teilnehmer und Teilnehmerinnen versehen sind. Beigefügt ist eine umfangreiche Liste einschlägiger Literatur. In der Autorenliste der insgesamt 23 Beiträge fehlt Jan Hermelink; auch über ihn hätte man gern Näheres erfahren.

Im ersten Teil des Bandes kommt die gegenwärtige Situation der ostdeutschen Landeskirchen zur Sprache. Neben Praxisberichten aus unterschiedlichen Arbeits- und Verantwortungsbereichen steht die theologische Frage nach der Rolle ekklesiologischer Leitbilder, soweit sie bei den Strukturreformen erkennbar werden. Aus soziologischer Sicht werden Probleme der Kirchenorganisation in der modernen Gesellschaft behandelt.

Der zweite Teil gilt der Frage nach den Zukunftsperspektiven. Im Blick auf Prognosen und Visionen üben die Beiträge deutliche Zurückhaltung. Noch ist nicht erkennbar, wohin sich die Kirche im Osten Deutschlands entwickeln wird. Dass sie für die Menschen wie für die Gesellschaft trotz gegenläufiger Tendenzen nach wie vor gebraucht wird, steht für die Autoren und Autorinnen außer Frage. Brauchbar bleibt sie jedoch nur, wenn sie sich als "Kirche in Bewegung" begreift. Das ist das Mindeste, was von ihr erwartet werden muss, wenn es um ekklesiologische und kybernetische Perspektiven der Kirche geht.

An Anstößen und Anregungen dazu fehlt es nicht. Das immer noch unbefriedigende Verhältnis haupt- und ehrenamtlicher Mitarbeit muss ebenso neu bestimmt werden wie das Verhältnis der kirchlichen Berufe zueinander, um das integrale Pfarramt von seinen Überforderungen zu entlasten. Untersucht wird auch, wieweit andere soziale Organisationsmodelle auf die Kirche anwendbar sind; ob sie also z. B. als Dienstleistungsunternehmen marktkonform und konkurrenzfähig gemacht werden kann und soll. Ausdrücklich ermutigt wird zu einem breiten ökumenischen Dialog, damit die Landeskirchen sich auf dem Weg in die Zukunft nicht auf sich selbst verengen, sondern sich gerade in ökumenischer Gemeinschaft der missionarischen Verantwortung für das Evangelium als bleibender Priorität ihrer Arbeit neu bewusst werden können. Am Ende bleibt die Frage, ob die Kirchen beweglich genug sind, um veränderungsfähig und damit zukunftstauglich zu sein.

Die Lage der ostdeutschen Landeskirchen wird in den Beiträgen weder verharmlost noch dramatisiert. Der eingeleitete Umstrukturierungsprozess erscheint vielmehr notwendig und unvermeidlich. Er wird mit weiterführenden Fragen begleitet. Was sind die Folgen der Umgestaltung? Wie geht es weiter, und was kommt noch auf uns zu? Fragen, die deutlich von dem Interesse geleitet sind, dass die Krise der Kirche für sie zur Chance wird. Dazu möchte die akademische Theologie von ihren Voraussetzungen her mehr als bisher beitragen.

Den Kirchen kann das nur gut tun. Sie werden selber wissen, dass sie mit der Lösung unausweichlicher Probleme auch neue geschaffen haben. In der Publikation wird das in den Ausführungen zur Situation der kirchlichen Mitarbeiterschaft bedrückend deutlich. Nach Finanzmisere und Stellenstreichungen droht den Kirchen ein Personalkollaps, weil die verbleibenden Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ein Übermaß an Arbeit zu bewältigen haben, das sie an die Grenzen physischer und psychischer Belastbarkeit gebracht hat. Das führt zu Routine und Resignation, zum Rückzug in die private Nische und zur Verweigerung weiterer notwendiger Veränderungen.

Nachdenklich macht auch die Feststellung, dass die eigenen Probleme die Kirchen offenbar so stark beanspruchen, dass ihre Rolle in der Gesellschaft dabei kaum im Blick zu sein scheint. Statt das Nachdenken über die Normen des Zusammenlebens in einem Gemeinwesen anzuregen und dabei die eigenen Überzeugungen einzubringen, neigen die Kirchen eher dazu, sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen. Nicht zufällig fällt das vor allem Beobachtern aus dem Westen Deutschlands auf, die mit eigenen Beiträgen an der Konsultation beteiligt waren und damit ihrerseits Anhaltspunkte für den in diesen Fragen so wichtigen Diskurs zwischen Ost und West gegeben haben.

Einmal mehr hat sich dabei auch gezeigt, dass der Veränderungsdruck für die ostdeutschen Kirchen zwar besonders gravierend ist, die Fragen, die dabei zu klären sind, jedoch sehr wohl auch die Landeskirchen im Westen betreffen. Umso bemerkenswerter ist es, wenn heute gerade von dort Leitbild-Ideen als zukunftsträchtig angesehen werden, die schon im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR von Bedeutung waren (Diaspora-Existenz) oder im Anschluss daran im Blick auf den Umbruch in Ostdeutschland entwickelt wurden (Beteiligungskirche) - Ansätze also, die offenbar doch nicht so unbrauchbar sind, wie das gelegentlich vielleicht voreilig behauptet worden ist.

Die bisherigen Strukturreformen sind weithin von ökonomischen und betriebswirtschaftlichen Aspekten bestimmt; das ist kaum zu bestreiten. Bei der Konsultation ist daher zu Recht von einem Theologiedefizit die Rede gewesen. Zutreffend bleibt auch, dass eine Kirchenreform Mentalitätsveränderungen erfordert, die nicht durch Appelle, sondern durch intensive theologische Basis-Arbeit zu erreichen sind. Die Frage nach zukunftsorientierten tragfähigen ekklesiologischen Leitbildern ist dabei auf Dauer nicht zu umgehen. Gerade hier wäre das Gespräch mit der akademischen Theologie nötig. Warum sie bisher kaum beteiligt war, mag unterschiedliche Gründe haben. Die Kirchen sollten nicht zögern, das Gesprächsangebot entschlossen aufzugreifen.