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Ausgabe:

Januar/2002

Spalte:

101–103

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bruhn, Manfred, u. Albrecht Grözinger

Titel/Untertitel:

Kirche und Marktorientierung. Impulse aus der Ökumenischen Basler Kirchenstudie.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag 2000. 252 S. gr.8 = Praktische Theologie im Dialog, 20. Br. ¬ 25,65. ISBN 3-7278-1240-0.

Rezensent:

Herbert Lindner

Die Baseler kirchliche Situation ist durch einen massiven Mitgliederschwund beider Konfessionen gekennzeichnet. Er hat schließlich 1997 dazu geführt, dass die Kirchenmitglieder weniger als die Hälfte der Kantonsbevölkerung ausmachen. Eine ökumenische Kirchenstudie sollte 1998 die kritische Situation durch empirische Daten mit Hilfe eines repräsentativen Querschnitts der Gesamtbevölkerung erhellen. Dieser Auswertungsband sucht nach Konsequenzen.

Im grundsätzlichen Teil (13-32) wird die zu Grunde liegende Untersuchung in den historischen und theologiegeschichtlichen Kontext empirischer Erkundung der Kirchenwirklichkeit eingeordnet. Der "Marketingansatz" der Studie kann eine verlässliche Basis für theologische Entscheidungen herstellen, weil er zeigt, wie Menschen die Kirchen in der Realisierung ihres Auftrags wahrnehmen. Ein besonderes Gewicht erhalten die Ergebnisse dadurch, dass knapp die Hälfte der Befragten ausgetreten oder konfessionslos waren.

Die Interpretationen aus der Perspektive des Marketing (33-138) fragen nach der Wichtigkeit kirchlicher Handlungen für die Bevölkerung und vergleichen auf diesem Hintergrund Erwartungen und ihre Erfüllung.

Zusammengefasst erfüllt die evangelische Kirche im (für die Befragten eher unwichtigen) kulturellen Bereich die an sie herangetragenen Erwartungen, während in den wichtigen liturgisch-katechetischen und diakonisch-sozialen Bereichen zum Teil erhebliche Qualitätslücken wahrgenommen werden (53ff.). Diese Zufriedenheitsgrade sind aus Sicht des Marketing kritisch, da Erfüllungsdifferenzen über 5-10% den Fortbestand der Beziehung gefährden.

Solche Lücken beeinträchtigen die Zufriedenheit mit der Institution Kirche, wobei die durchweg zu beobachtende höhere Zufriedenheit mit den Mitarbeitenden dies nicht zu kompensieren vermag. Diese Konstellation zeigt das große und fortdauernde Gefährdungspotential für die Mitgliedschaft.

Für die Ausgetretenen wird erhoben, dass etwa 40 % aus enttäuschten Erwartungen und "nur" etwa 60 % wegen der Kirchensteuer ihre Kirche verlassen haben. Die Austrittsmotive sind also bipolar und nicht mit einer einflächigen Erklärung zu fassen. Hier weichen die Werte für die römisch-katholische Kirche deutlich ab. Enttäuschte Erwartungen waren dort für 68 % und die Kirchensteuer nur für 32 % der Austrittsgrund.

Eine wichtige Voraussetzung für gelingende Kommunikation ist die "Perspektivenübernahme" auf Grund einer möglichst präzisen Wahrnehmung des Gegenübers. Dies ist für Mitarbeitende nur eingeschränkt möglich, denn sie unterschätzen die Erwartungen der Bevölkerung und gehen davon aus, dass sie von der Bevölkerung schlechter beurteilt werden, als dies tatsächlich der Fall ist.

Im dritten Teil (139-250) werden Interpretationen aus der Perspektive der Kirchen vorgelegt, die sich alle um eine verstehende Aufnahme der erhobenen Kirchenwirklichkeit bemühen. Die Autoren - an der Studie haben nur Männer mitgearbeitet- reagieren positiv auf die Herausforderungen von Individualisierung und Pluralität. Sie treten für eine weite Spanne der Mitarbeiterschaft ein und fordern ebensolche Beteiligungsformen. Eine beratende Grundhaltung der Mitarbeitenden soll religiöse Individuen in ihrer je persönlichen Ausprägung fördern und sie nicht durch bekehrende oder abholende Ansätze vereinnahmen.

Weitere Klärungen ergeben sich bei den "Mitgliedern ohne Eigeninteresse", die weder Gemeinschaft suchen noch Dienstleistungen für sich erwarten. Sie unterstützen durch ihre Mitgliedschaft eine "Kirche ohne Religion". Bei den Ausgetretenen handelt es sich dagegen um ehemalige Mitglieder mit einer Tendenz zu einer "Religion ohne Kirche". Solche Ergebnisse bestätigen naturgemäß den hohen Stellenwert der Diakonie als die weitestreichende Erscheinungsform von Kirche. Folgerungen für die beruflichen Qualifikationen von Pfarrerinnen und Pfarrern liegen auf der Hand. Sie sollen durch persönliche Kompetenzen die entstandenen Lücken füllen.

Insgesamt wird das Bild einer hohen Akzeptanz der Kirchen wieder einmal bestätigt. Sie wird von der persönlichen Nicht-Teilnahme kaum tangiert. Das Kirchenbild der Befragten erweist sich sogar als unabhängig von der jeweiligen Mitgliedschaft. Die Menschen lösen also ihre Beziehung zu den Inhalten und den Angeboten von den dahinterstehenden kirchlichen Institutionen ab. Das stellt die Kirchen vor die Herausforderung, ihre - gewollten und gesuchten - Leistungen neu herauszustellen und über die Bedeutung ihrer Botschaft eine neue Beziehung zu den Menschen aufzubauen.

Als Ergebnis lässt sich ein Konsens feststellen. Im Dialog zwischen den theologischen und Marketing-Ansätzen ist unstrittig, dass das Denken vom Mitglied her die theologische Zielorientierung nicht in Frage stellt, sondern sie erst eigentlich ermöglicht. Dies belegt der vorliegende Band detailreich und anregend. Durch diese enge Zusammenarbeit und diesen gegenseitigen Respekt werden Missverständnisse abgewehrt. Aber leider kostet diese Abwehr viel Energie, die - auf die Einzelfelder angewendet - wohl noch zu interessanteren Ergebnissen geführt hätte. Das Ausmaß der Qualitätslücken wird dokumentiert und mit den Person-Merkmalen der Befragten verbunden. Aber worin sie inhaltlich bestehen, das bleibt weitgehend im Dunkeln. So erscheinen denn die Folgerungen vor allem aus der Marketing-Perspektive zum Teil recht rasch gezogen. Die etwas naive Pragmatik, mit der der Erfolgsbegriff verwendet wird, kann sicher reflexionsübersättigte kirchliche Mitarbeitende zum Handeln ermuntern, lässt sie aber allein, wenn trotz richtigen Tuns sich dieser Erfolg eben nicht einstellen will. Dass die Artikel des Sammelbandes durch viele Wiederholungen der zu Grunde liegenden Umfrage gekennzeichnet sind, ist wohl unvermeidbar und prägt die Ergebnisse gut ein, ist aber dennoch zuweilen ermüdend.

Um die große Aufgabe der Neuausrichtung der beiden Großkirchen in einem Kontext, der zu den schwierigsten Umfeldern der Schweiz gehört, gelingen zu lassen, ist diese Auswertung ein wichtiger Schritt. Irgendwie sind alle diese Forderungen und Impulse anregend und z. T. wohl auch notwendig - aber sind sie auch hinreichend? Vielleicht ist es zu viel von der Autorengruppe verlangt - sicher aber nicht zuviel von den auftraggebenden Kirchen -, mit diesem reichen Material zusammenstimmende und weitreichende mittelfristige pastorale Konsequenzen zu ziehen.