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Ausgabe:

Januar/2002

Spalte:

98 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Metz, Johann Baptist, Kuld, Lothar, u. Adolf Weisbrod [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Compassion. Weltprogramm des Christentums. Soziale Verantwortung lernen.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2000. 168 S. m. Abb. 8. Kart. ¬ 12,90. ISBN 3-451-27211-3.

Rezensent:

Markus Huppenbauer

Das hier zu besprechende, 168 Seiten umfassende Bändchen enthält 17 längere oder kürzere Texte zum Thema "compassion" (aus dem Englischen übernommen). Was diese sehr heterogenen Texte verbindet, ist der Bezug auf ein schulisches Projekt, das von einer 1992 eingesetzten Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz entwickelt und zunächst vor allem an den Katholisch Freien Schulen im Südwesten Deutschlands realisiert wurde. Es hat zum Ziel, sozialverpflichtete Haltungen unter Schülerinnen und Schülern zu entwickeln und zu stärken (122). Der Leiter der erwähnten Arbeitsgruppe, Adolf Weisbrod, ist Mitherausgeber des Bändchens.

Das Compassion-Projekt zeichnet sich dadurch aus, dass es allen Schülerinnen und Schülern einer Klasse nicht nur Sozialpraktika in unterschiedlichsten Institutionen (Altersheime, Krankenhäuser, Behindertenheime usw.) während des Schuljahres vermittelt. Vielmehr werden die dabei von den Jugendlichen (vor allem der Oberstufe) gemachten Erfahrungen im schulischen Unterricht in möglichst vielen Fächern begleitet und reflektiert. Das Projekt wurde von der Bund-Länder-Kommission als Pilotprojekt anerkannt und darum standen Mittel zur Verfügung, es während der Schuljahre 1996/97 und 1997/ 1998 wissenschaftlich zu begleiten (vgl. dazu den Beitrag von Lothar Kuld/ Stefan Gönnheimer).

Nach einer programmatischen Einführung von Johann Baptist Metz zu einem "Weltprogramm des Christentums im Zeitalter des Pluralismus der Religionen und Kulturen" unter dem Titel "Compassion", den Metz offensichtlich unabhängig von diesem Projekt gewählt hat (7), gliedert sich der Sammelband in drei Teile: Den ethischen, soziologischen und pädagogischen Überlegungen des ersten (19-94) folgt ein zweiter Teil, welcher die Idee und Initiative des erwähnten schulischen Projekts vorstellt (95-140). Ein abschließender dritter Teil legt Erfahrungen und Anregungen vor (141-164). Nur ein Teil der insgesamt 17 Texte und Autoren kann im Folgenden zur Sprache kommen.

Metz entwickelt in aller Kürze ein Programm gegen die seiner Meinung nach abstraktiven und formalistischen Tendenzen der angewandten Ethiken moderner Gesellschaften. Er plädiert stattdessen für die "Universalität der Leiderfahrung" (12): Compassion steht dafür, fremdes Leid wahrzunehmen und zur Sprache zu bringen. Wichtiger als die Kriterien von Konsens und Diskurs sei die "Autorität der Leidenden" (15). Nach zwei theologischen Beiträgen von Dietmar Mieth ("Mitleid") und Theodor Strohm ("Diakonie der Versöhnung - eine Perspektive sozialer Verantwortung") analysiert der Soziologe Michael N. Ebertz ("Formen und Voraussetzungen von Solidarität heute") die Dominanz des Marktes und des Ökonomischen in modernen Gesellschaften (eben auch bezüglich der sozialen Fragen). Die interessante These, dass der Sozialstaat durch diese Entwicklung in den letzten Jahren seine eigenen Voraussetzungen aufzubrauchen beginnt (42), mündet im Postulat einer "Bewußtseinsveränderung der Nichtbetroffenen", die lernen sollten, sich solidarisch als Schuldner der Opfer und Verlierer der Dynamik moderner Gesellschaften zu verstehen (45 f.). Der Aufsatz endet mit der Formulierung einer Reihe von Bedingungen unter denen Solidaritätsschöpfung neu möglich wäre. Hervorzuheben sind hierbei vor allem der Gedanken der Freiwilligkeit und dass dem Wertewandel der letzten Jahrzehnte Rechnung getragen werden muss (49).

Es scheint bei den übrigen, eher pädagogisch orientierten Autoren des ersten und zweiten Teils Einigkeit darin zu herrschen, dass das Compassion-Projekt nicht gegen die aktuelle Gesellschaft, ihre Strukturen, Werte und Sachzwänge, gerichtet sein kann, sondern in deren pluralistischen Kontext "Anregung und Hilfe zum begründeten eigenständigen Werten- und Entscheiden-Lernen" (so im Beitrag "Compassion - ein erlebnisbezogenes Bildungskonzept" von Jürgen Rekus, 77 f.) geben soll. Gemäß Bruno Schmid ("Ethisches Lernen im Unterricht") eignen sich dazu besonders Dilemmadiskussionen (60 ff.), in denen die Diskursteilnehmer im Gespräch Kriterien finden, "die eigenen Begründungen zu beurteilen (67).

Betont wird durchgängig die "Unterrichtliche Begleitung" (Franz Kuhn, 109 ff.) des Projekts. Erst das die Praxis reflektierende Nachdenken vermöge Compassion gleichsam zu habitualisieren. Die Abgrenzung gegen allzu modische Tendenzen der Erlebnis-Pädagogik sind deutlich: Nicht das Erlebnis im Praktikum ist das Ziel, sondern dessen Reflexion und allfällige Folgen für das zukünftige Handeln der Teilnehmenden (Jürgen Rekus, 86).

Im dritten Teil schließlich sind interessant zu lesen vor allem die abgedruckten Praktikumsberichte einiger Schüler und Schülerinnen.

Als Kritik sei angebracht, dass eine gelegentlich etwas larmoyable Stimmung in den Texten vergessen lässt, dass moderne Gesellschaften neben allen sozialen Kosten auch unüberbietbare Vorteile für eine Vielfalt menschlicher Lebensvollzüge bieten.