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Ausgabe:

Januar/2002

Spalte:

96 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lippold, Michael W.

Titel/Untertitel:

Schwangerschaftsabbruch in der Bundesrepublik Deutschland. Sachstandsbericht und kritische Würdigung aus theologisch-ethischer Perspektive.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2000. 508 S. 8. Kart. ¬ 45,00. ISBN 3-374-01831-9.

Rezensent:

Johannes Reiter

Wie Titel und Untertitel dieser an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig als Dissertationsschrift eingereichten Arbeit erkennen lassen, ist es das Anliegen des Autors, einen Überblick über die in der Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch in Deutschland vorgebrachten Argumente zu geben, diese zu systematisieren und einer theologisch-ethischen Überprüfung zu unterziehen. Dabei wird der Zeitraum seit etwa 1975 berücksichtigt; für die jüngste Debatte erweist sich die im Zuge der deutschen Wiedervereinigung nötig gewordene Neuregelung des den Schwangerschaftsabbruch betreffenden Strafrechts ( 218 f. StGB) als ein naheliegender Schwerpunkt.

Der Autor legt besonderen Wert auf eine lebensnahe, exakte und empirisch begründete Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Damit geht ein durchgängig feststellbares Bemühen einher, insbesondere die Nöte und Ängste der unmittelbar betroffenen schwangeren Frauen ernst zu nehmen, sie nicht vorschnell abzuurteilen und ihre Menschenwürde zu respektieren.

Im ersten Teil (12-60) führt der Autor in die Problematik des Schwangerschaftsabbruchs ein und gibt einen skizzenhaften Überblick über die Geschichte des Abtreibungsverbotes (einschließlich eines knappen Exkurses über den Hippokratischen Eid, der vor allem von Abtreibungsgegnern immer wieder als Beleg für ein schon sehr früh festzumachendes Verbot der Abtreibung angeführt wird). Der Autor weist hier vornehmlich auf zwei Aspekte hin: zum einen darauf, dass das Abtreibungsproblem schon in der Antike bekannt war und von daher nicht erst ein Phänomen unserer modernen, weithin säkularen und wertepluralen Gesellschaft ist; zum anderen auf "das Moment patriarchaler Kontrolle über weibliche Fruchtbarkeit" (59).

In den folgenden beiden Kapiteln (2. und 3., 61-296) werden die in der Diskussion vorgebrachten Argumente in systematischer Absicht dargestellt und hinsichtlich ihrer Konsistenz hinterfragt. Einen ersten Schwerpunkt bilden hier Überlegungen zum Selbstbestimmungsrecht der Frau und dem damit u. U. konfligierenden Lebensrecht des ungeborenen Kindes. Strafrechtliche Maßnahmen und Kriminalisierung erscheinen hier als wenig geeignete Instrumente, das Problem des Schwangerschaftsabbruchs in den Griff zu bekommen, Strafandrohung wirke eher kontraproduktiv, und das heißt, nicht lebensschützend, sondern eher lebensfeindlich und damit unchristlich. Aus einer Gegenüberstellung von Indikationen- (alte Bundesländer) und Fristenregelung (frühere DDR) kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass beide Regelungsmodelle - gemessen an der Maßgabe, das vorgeburtliche Leben zu schützen - letztlich gescheitert seien, weil einerseits die verschiedenen Aspekte einer konflikthaften Schwangerschaft nicht rechtlich objektivier- und messbar seien, und weil andererseits dem Schutzanspruch des ungeborenen Lebens zu wenig Geltung eingeräumt wurde gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Frau. Die im Zuge der Wiedervereinigung nach heftigen Debatten erreichte Neuregelung des 218 f. StGB (Fristenregelung mit Beratungspflicht in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft) stellt hier eine Art Kompromiss zwischen den beiden Modellen dar, der im Letzten nicht befriedigen kann, aber - zumindest auf rechtlicher Ebene - vielleicht doch die "am wenigsten schlechte" Regelung darstelle. Die Letztverantwortung für oder gegen das Austragen einer Schwangerschaft liege - so die Einschätzung Lippolds - bei der Frau und müsse ihr in Respektierung ihrer Würde als Mensch auch zugestanden werden.

Die Frage nach Beginn und Schutz des menschlichen Lebens wird im vierten Kapitel (297-370) unter naturwissenschaftlich-theologischer Rücksicht thematisiert. In diesem Zusammenhang interessieren vor allem die Aspekte Individualität, Personalität und Beseelung. Die Auseinandersetzung damit lässt den Autor konstatieren: "Menschliches Leben ist in jedem Stadium seiner Entwicklung schützenswert und wird es mit jedem Tag mehr, bis es geborenem Leben gleichzusetzen ist. Dafür aber, daß zwischen geborenem und ungeborenem Leben nun doch differenziert wird, sprechen eine Reihe von Indizien." (350) Die hier behauptete Status- bzw. Wertdifferenz zwischen geborenem und ungeborenem Leben ist nicht unproblematisch und dürfte nicht nur auf Zustimmung stoßen. Sowohl das Lehramt der katholischen Kirche als auch die Moraltheologen erheben gegen eine solche graduelle Sichtweise Widerspruch. Nicht zuletzt deshalb widmet sich der Autor wohl den zur Untermauerung seiner These vorgebrachten (moralischen, rechtlichen und theologischen) "Indizien" in einem eigenen Gliederungspunkt (350-361).

Das letzte Kapitel ist der theologisch-ethischen Sichtweise von Schwangerschaft und Abtreibung gewidmet. Neben biblischen Aussagen werden ethische Vorstellungen und Argumentationstypen (deontologisch - teleologisch) berücksichtigt; der Autor plädiert für eine Verantwortungsethik, "die auf die Berücksichtigung deontischer Prinzipien nicht verzichtet, zugleich aber nach dem situativen Kontext ihrer Umsetzung fragt ..." (456). - Abschließend werden die bedeutsamsten Gesichtspunkte zum Thema resümiert, nicht ohne die Gewissensentscheidung der Schwangeren und das Problem der Schuld zu bedenken. Nochmals verweist der Autor auf die Komplexität der Materie und die Schwierigkeit, die Problematik ethisch (eindeutig) zu bewerten.

Die Publikation berücksichtigt eine Fülle von Informationen zur Thematik. Der Autor scheut sich in der Auswertung der von ihm zusammengetragenen Daten und Fakten auch nicht vor klaren Konklusionen, zuweilen auch Kritik an den kirchlichen Positionen. Nicht uninteressant ist in diesem Kontext auch seine theologische Bewertung einer Schwangerschaft als "ein Angebot Gottes zur Teilhabe an seiner Schöpfung auf je einzigartige Weise, das um so verpflichtender wird, je länger es besteht." Der letzte Halbsatz wird sicherlich Einwände provozieren. Und hinsichtlich des möglichen Auseinanderfallens göttlicher Vorsehung und menschlicher Planungen führt L. weiter aus, Gott wolle und bejahe wohl die Annahme neuen Lebens, es könne jedoch theologisch nicht entschieden werden, "ob sie erzwungen werden sollte" (459). Das abschließende Plädoyer, nicht durch Druck und Zwang, sondern durch umfassende Aufklärung und Gewissensbildung dem Schutz menschlichen Lebens zu dienen, dürfte indessen auf ungeteilte Zustimmung stoßen.