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Ausgabe:

Januar/2002

Spalte:

89–92

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Stock, Konrad

Titel/Untertitel:

Gottes wahre Liebe. Theologische Phänomenologie der Liebe.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2000. IX, 345 S. gr.8. Kart. ¬ 39,00. ISBN 3-16-147478-3.

Rezensent:

Markus Mühling-Schlapkohl

In einer selektiven Beschreibung der Theoriegeschichte anhand ausgewählter, sog. "Highlights" zeigt Stock, dass das Phänomen der Liebe seit dem 19. Jh. nicht mehr als einheitliches Phänomen erfasst wurde, sondern Gegenstand zahlreicher separierter Diskussionen geworden sei. Während Platons Verständnis der Liebe als Begehren eine Einsicht in die ekstatische Natur des Menschen darstelle, sei die aristotelische Explikation der Liebe als Freundschaft nur vordergründig unhintergehbar relational verfasst, weil sie auf vernünftiger Selbstbeherrschung ruhe. Augustin stelle die Liebe als Ausgerichtet-sein auf anderes vor die Alternative gut/schlecht und entwerfe damit den Gedanken einer Ordnung der Liebe, die auch Selbstliebe integriere, was zu unrecht in Verruf geraten sei. Luther trage weiter zur Entdeckung eines relationalen Personverständnisses bei in der doppelten Bezogenheit zur Welt und zu Gott, wobei es aber noch nicht zu einer subjekttheoretischen Erfassung der Liebe komme. Die Liebe ist Frucht des gottgewirkten Glaubens und dessen Lebensform. In Folge der Kantischen Vernachlässigung des affektiven personalen Lebens komme es bei Fichte, Hegel sowie insbesondere bei Schleiermacher zu einer subjekttheoretischen Erfassung der Liebe als einheitlichem Phänomen. Liebe werde als Interaktionsform eines gemeinsamen Bildungsprozesses irreduzibel individueller Personen verstanden, die sich im Horizont ihrer Weltperspektiven vollziehe und auf das Reich Gottes als höchstes Gut bezogen sei und verschiedene Formen - Nächstenliebe, Sexualität inkludierende Liebe etc. - integrieren könne. U. a. auf Grund der Religionskritik, des empiristischen Szientismus und der Reduktion auf das sexuell-erotische Moment gehe in der Folge diese einheitliche Erfassung verloren, was sich im theologischen Theoriebereich an der Diskussion um das Verhältnis des Verständnisses von Liebe als Eros und Agape beim frühen Barth, bei H. Scholz, bei A. Nygren und auch bei den Korrekturversuchen des späten Barth und E. Jüngels zeige. St.s Analyse ist hier bedeutungsvoll, da er zeigt, dass Nygrens strenge Dissoziation von Eros und Agape und die einseitige Ablehnung jeglichen Begehrens bei gleichzeitiger Bevorzugung des als Agape bezeichneten Sachverhaltes weniger in paulinisch-reformatorischer Tradition als vielmehr in Kantischer Tradition steht, indem sie sich hinter die romantisch-idealistische Erfassung zurückgehend an eine autonome Gesinnungsethik anlehnt. Weder in der Theologie noch in der Philosophie, am Beispiel H. Marcuses exemplifiziert, komme es im 20. Jh. zu einer theoretisch-einheitlichen Erfassung des Phänomens Liebe, die so dringendes Desiderat ist, das St. zu bearbeiten trachtet.

St.s theologisch-phänomenologische Betrachtung geht davon aus, dass uns die Liebe Gottes als offenbare erfahrbar sei. Alle Erfahrungsgegenstände seien im Anschluss an Herms aber im Modus szenischer, intersubjektiver Selbsterfahrung im Rahmen einer ontologischen Wahrheitsgewissheit gegeben. Offenbarung wird als Erfahrung verstanden, die in einer selbsterlebten Szene eine neue inhaltliche Selbstgewissheit als Auftrag eines Urhebers erschließt, die im Bezug auf die universale Liebe besteht, so dass alle Erscheinungen der Liebe auf diese Grunderfahrung zu beziehen sind. Ist nun die Person dreifach relational in ihrer Selbstbeziehung, der leibhaft vermittelten, notwendigen Weltbeziehung und der nicht unproblematisch als in diesen beiden Beziehungen mit Schleiermacher als vorbegrifflich, notwendig erfahrbaren Gottesbeziehung konstituiert, so komme der Selbstbeziehung insofern eine leitende Rolle zu, als Welt- und Gottesbeziehung stets durch diese vermittelt seien. Innerhalb der Struktur der Selbstbeziehung komme im Gefolge reformatorischer Psychologie der Affektivität gegenüber voluntativen und intellektiven Vermögen eine dominierende Funktion zu, da die passive Bestimmtheit des Gefühls in der Alternative von Lust und Unlust eine Richtung des Begehrens ist, die, als emotive Intentionalität bezeichnet, die Möglichkeit des Liebens begründet, die im Rahmen der dreidimensional personalen Struktur ein auf ein Unbedingtes gerichtetes Sinnbedürfnis stets einschließe. Damit stehe das Begehren als Ausdruck der ekstatisch-personalen Verfassung aber vor der Alternative eines gesunden und eines perversen Liebens, in dem das Begehren des Unbedingten sich auf Welthaftes richtet, so dass sich die Aufgabe einer Begründung des faktisch wesensgemäßen Liebens und einer theoretischen Erfassung einer Liebesordnung stellt.

Die Faktizität eines gesunden Liebens sei bedingt durch szenische Erschließungen. St. entwickelt dazu eine soteriologische Christologie, die - nicht ganz unproblematisch - hermeneutisch bei einer erschlossenen geistgewirkten Selbstgewissheit Jesu von der unbedingten väterlichen Güte Gottes einsetzt und zu einer Deutung der Heilsbedeutung des Todes Jesu als erlösendes Selbstopfer fortschreitet, in dem dieser das ihm gewährte Leben dem schöpferischen Gott zurückgibt, was einen Gottesdienst darstelle, in dem Jesus als endliche Person ganz auf seinen Seinsgrund ekstatisch bezogen sei. Jesu Selbstgewissheit komme im Tod zur Reife und erschließe somit die wahre Liebe Gottes. Die Auferstehung - verstanden als Transitus in die ewige Gegenwart Gottes, wobei eine nicht unproblematische Theorie von Zeit und Ewigkeit entwickelt wird, - ermögliche, dass Christus als das ursprüngliche Subjekt der Liebe verstanden werden könne. Durch die Wortverkündigung (verbum externum) und die Vergewisserung des Geistes Christi (testimonium internum) werde der Mensch der ewigen Liebe Gottes gewiss, indem er einerseits realistisch sein bisheriges pervertiertes Lieben erkennt, seine Person aber dennoch als von Gott geliebt und liebenswert erfährt, so dass diese Gewissheit hinreichende Bedingung eines Lebens in der Ordnung der Liebe sei.

In der Beschreibung des Lebens in der Ordnung der Liebe, die immer zugleich ein Affiziert-sein und ein Handeln sei, sei zunächst die liebende Selbstwahrnehmung, ein gereifter Narzissmus, der in dem "offenbaren Wohlgefallen des transzendenten Daseinsgrundes ... seinen unerschütterlichen Grund hat" (210), ein notwendiges Element. Das zweite Element sei die Liebe zum Anderen, die mit Hilfe einer an Schleiermacher orientierten Theorie der Alterität als individueller Allgemeinheit, in der individuelle Personen intersubjektiv und wechselseitig im Prozess der Gewinnung und Bewahrung des Guten verbunden sind, beschrieben wird. Sie gliedere sich 1.) in die Nächstenliebe, die in der durch eine affektive Betroffenheit des Mitleids veranlassten Integration der bedrohten Anderen in die eigenen interpersonalen und sozialen Relationen bestehe, 2.) in die Feindesliebe, die als besonderer Fall dieser Inklusion aufzufassen sei, in dem Feindschaftsverhältnisse selbst in Bewegung geraten - eine Liebe, die selbst eine sozio-politische Dimension hat und die nur als geistgewirkter Fall von Liebe zu verstehen ist-, sowie 3.) in die Bedeutung der Liebe für die Rechtsgestalt sozialen Lebens: Einerseits beruhe die rechtliche Steuerung der Machtförmigkeit menschlichen Handelns immer auf der Rechtstugend der Gerechtigkeit, die von der Ausrichtung des Selbstgefühls und damit von der Erschließung der wahren Liebe Gottes im Bildungsprozess der Person abhängig ist, andererseits müsse es auch eine äußere strukturelle Gestalt von Rechtsbeziehungen geben, damit sich die "transzendentale Gemeinschaft des Volkes Gottes bilden und entwickeln" (249) könne.

Weitere Elemente seien die positiv zu wertende Liebe zu apersonalen welthaften Dingen, die aufgrund des Geliebtseins der Welt von Gott möglich ist, und die Liebe zu Gott. Die Gewissheit von Gottes eigenem liebenden Handeln in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung begründe Liebe als Affekt von Gottes Liebeswürdigkeit und alle, insbesondere ästhetische Handlungen, die dieses Ergriffensein zum Ausdruck bringen, bilden Liebe als Gestalt, die die Erfahrungen des Kreuzes als Erfahrungen des überwundenen Todes einbeziehen können. Eine strikte Anwendung des Liebesbegriffs in der Beziehung des Menschen zu Gott setze voraus, dass der Mensch Gott etwas Gutes tun kann und Gott Gutens bedürftig sei. Hier betont St., dass eine reale Empfänglichkeit von Gott ausgesagt werden müsse, die freilich die Asymmetrie der Gottesbeziehung und das Ablehnen irgendeiner Ergänzung des Glaubens durch handelnde Liebe (fides caritate formata) "in vollem Umfang aufrecht" (275) erhalte. Zum Schluss thematisiert St. die "sympathetische" und erotische Liebe. Zunächst begründet St. das Vorhandensein einer personalen geschlechtlichen Differenz, die auch die Innerlichkeit der Person betreffe, mit Hilfe des Leibbegriffs und hält die Gleichheit des Menschen in dieser Differenz mit Hilfe eines Analogiemodells aufrecht.

Erstaunlicherweise findet sich keine weitere intentionale oder extentionale inhaltliche Bestimmung, die diese Differenz markiert. Die erotische Liebe selbst wird schließlich als Junktim von Sexualität - als Wunsch nach dem Erleben von orgastischer Potenz - und Intimität - mit Herms als Gewissheit eines wechselseitigen, radikalen Wohlgefallens - bestimmt. Diese erotische Erfahrung und die Gestaltung der Intimität sei vom Leben des Glaubens als lebenslangem Gewissheitswandel nicht unabhängig und die erotische Liebe, die das höchste irdische Glück und die kostbarste irdische Freude gewähren könne, könne, wie am Hohelied exemplifiziert, bildspendend für das ewige Glück und die ewige Freude sein, ohne die Erfahrungen der dunklen Seiten des Lebens auszuschließen. In einem Fazit "Gott ist Liebe" fasst St. die Erträge seiner Untersuchung zusammen und eröffnet einen kurzen Ausblick auf eine wünschenswerte Beschreibung auch des Seins Gottes selbst als Liebe im Rahmen einer trinitarischen Explikation, die selbst aber nicht mehr geboten wird.

St. füllt mit seinem Anspruch, eine Erfassung der Liebe als einheitliches Phänomen zu liefern, ein Desiderat der Forschung. Hinsichtlich des Verständnisses von Glaube und Liebe, Selbstliebe, der Bildung einer Liebesordnung und der Einbeziehung des erotischen Moments bringt St. wichtige Korrekturen am Liebesverständnis der protestantischen Tradition an. Seine Bearbeitung schließt dabei die Problemlage nicht ab, sondern öffnet sie für weitere Untersuchungen. Abgesehen von Detailfragen bezüglich der einzelnen Probleme, in denen der Leser andere sachliche Entscheidungen treffen mag, sind kritisch vor allem zwei Anfragen zu stellen. Historisch kann gefragt werden, ob nicht eine Auswahl von "Highlights" der Theoriegeschichte der Liebe nicht auch Konzeptionen des Mittelalters - etwa der Richards von St. Viktor - hätte einbeziehen sollen. Systematisch fällt auf, dass Liebe primär als intentionale Relation eines grundlegenden affektiven Vermögens, daneben aber auch als Handlung oder gestaltete, interaktive Lebensform klassifiziert wird, ohne dass die Verhältnisbestimmung restlos geklärt wäre. Ausgehend von St.s phänomenologischer Methode wird hier der Sachverhalt der Liebe immer streng aus der Perspektive des liebenden Subjekts oder Relats beschrieben. Würde die phänomenologische Methode aber als erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt gewählt, der in der Deskription des Phänomens notwendig durch modelltheoretisch-ontologische Methoden ergänzt würde, wäre nicht nur eine Beschreibung dieser Innenseite der Liebe, sondern auch eine Deskription und Analyse des Phänomens der Liebe als realer Relation selbst mit verschiedenen Relaten, von denen eines das liebende Subjekt ist, möglich, so dass verstärkt sowohl der gemeinschaftskonstitutive, personkonstitutive und wirklichkeitskonstitutive Aspekt der Liebe erfasst würde.