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Ausgabe:

Januar/2002

Spalte:

84–87

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Kress, Christine

Titel/Untertitel:

Gottes Allmacht angesichts von Leiden. Zur Interpretation der Gotteslehre in den systematisch-theologischen Entwürfen von Paul Althaus, Paul Tillich und Karl Barth.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1999. XVI, 294 S. 8 = Neukirchener Theologische Dissertationen und Habilitationen, 27. Kart. ¬ 39,90. ISBN 3-7887-1756-4.

Rezensent:

Friederike Nüssel

Konzentrierte sich G. W. Leibniz in seiner klassischen Formulierung des Theodizeeproblems primär auf die Frage, wie die Rede von der Gerechtigkeit, Güte und Allmacht Gottes mit dem moralischen Übel, also der Sünde, vereinbart werden könne, so stellt sich der Theologie nach Ausschwitz die Frage, ob angesichts des Leidens, insbesondere im Holocaust, die Rede von Gottes Allmacht weiterhin möglich ist. In ihrer 1998/99 von der Theologischen Fakultät Heidelberg angenommenen Dissertation über Gottes Allmacht angesichts von Leiden vertritt Christine Kress im Ausgang von den Überlegungen, die Hans Jonas in "Der Gottesbegriff nach Ausschwitz" zur logischen und ontologischen Sinnlosigkeit des Allmachtbegriffs angestellt hat, "die These, dass nicht die Aufgabe der Allmacht Gottes, sondern eine Reformulierung dieser als Allmacht der Liebe biblisch und systematisch-theologisch gefordert ist." (3) Jenseits "der Alternativen, Allmacht theistisch als Allwirksamkeit und Allkausalität zu verstehen, oder Gottes Macht zu negieren", strebt sie eine biblisch-theologisch begründete Rede von Gottes Macht an und sucht damit eine "Rationalisierung und Sinngebung des Leidens" strikt zu vermeiden. (31) Um die Möglichkeiten einer Reformulierung der Allmacht Gottes zu klären, greift sie gezielt hinter die Erwägungen von H. Jonas und die Antwort von E. Jüngel zurück auf die Entwürfe von P. Althaus, P. Tillich und K. Barth. Denn diese ermöglichen jeweils eine Klärung der "Beziehung von Allmacht und Liebe Gottes" sowie der "Konsequenzen des Allmachtsverständnisses für die Rede von Gott angesichts von Leiden" auf der Grundlage einer "Analyse der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, der Theologie im engen Sinne, der Christologie und der Vorsehungslehre" (32). Dabei wenden sie sich explizit oder implizit gegen eine Aufgabe des Allmachtsprädikates, verlassen aber gleichzeitig die traditionellen Bahnen der Eigenschaftslehre (33).

Den Entwurf von Althaus stellt die Vfn. als einen Versuch dar, "Gottes Eigenschaften aus der Erfahrung Gottes in menschlicher Existenz und Geschichte heraus zu formulieren" (33; vgl. 36-97). Althaus' Rede von Gottes Allmacht in seiner Dogmatik wird zunächst auf ihre erkenntnistheoretische Grundlegung in der Lehre von der Ur-Offenbarung (38-51) befragt und gezeigt, dass seine Denkbewegung "ihren Ausgang in allgemeinen Strukturen der Weltwirklichkeit nimmt" (vgl. 74 f.). Sodann entfaltet die Vfn. die im Kontext des anthropologischen Ansatzes entwickelte materiale Bestimmung der Allmacht Gottes (52-74) im Aufweis ihrer Nähe und Differenz zu Schleiermachers Deutung der Allmacht als der "göttlichen Ursächlichkeit im Naturzusammenhang" (55; vgl. 53-61) und Luthers christologisch begründeter und soteriologisch ausgerichteter Rede von Gottes Allmacht (65-72). "Im Unterschied zu Schleiermacher" halte Althaus "im Anschluß an Luther an der Freiheit und Potentialität Gottes fest" und gelange "so zur Rede von Gott als Herrn der Geschichte." (94f.) Um "die bleibende Verantwortung des Menschen gegenüber seinem persönlichen Herrn ... mit Gottes alles verursachender und determinierender Macht zusammenzudenken" (61), konstatiere Althaus die "Antinomie von göttlicher Allein- und Allwirksamkeit und menschlicher Verantwortung und Freiheit" (62), löse sie aber faktisch auf "zugunsten des Satzes, daß Gott alles in der Geschichte wirkt und diese instrumentalisiert" (64). Mit Recht kritisiert dieVfn. die damit verbundene Identifikation bestimmter gesellschaftspolitischer Ereignisse mit Gottes Handeln (37, 97), in deren Auswahl sich Althaus' Nähe zu den Leitgedanken einer konservativen Revolution" dokumentiere. Symptomatisch für die inhaltliche Zuspitzung der Herrschaft Gottes sei die Aussage, "daß Gott das Spiel macht" (86). Menschliches Leiden werde in dieser Konzeption "als pädagogisches Mittel angesehen, ... rationalisiert, teleologisiert und letztlich göttlich sanktioniert." (90) Die Frage, was das Leiden für Gott selbst bedeutet, werde nicht geklärt. In der Christologie fordere Althaus zwar "über die Kenosis-Lehre des 19. Jahrhunderts hinaus die Rede vom genus tapeinoticum" ein, doch ohne "nach der Relevanz des Kreuzes für die Gotteslehre zu fragen." (92)

Gegenüber der Konzeption von Althaus zielt Tillichs "Versuch einer Neubestimmung der Allmacht Gottes" (98), wie die Vfn. vorführt, explizit auf die Überwindung eines theistischen Allmachtsverständnisses (33; 98 ff.).

Tillichs Konzeption basiere auf der These, dass die Rede von Gottes Macht eine ontologische Klärung des Machtbegriffs voraussetze und dabei "zwangsläufig auf weitere ontologische Begriffe, genauer auf die ontologischen Prinzipien Liebe und Gerechtigkeit stoßen" werde (99). Die Vfn. zeigt, wie Tillich die ontologische Einheit von Liebe, Macht und Gerechtigkeit in einer materialen Explikation der Macht als Seinsmächtigkeit (106-111), der Liebe als Wiedervereinigung von Getrenntem (111-114) und der Gerechtigkeit als Form des Seienden (115-122) entwickelt, sodann Liebe, Macht und Gerechtigkeit unter den Bedingungen der Existenz beschreibt (122-128) und schließlich Gott, das Sein-Selbst, als "Grund der Einheit von Liebe, Macht und Gerechtigkeit" bestimmt, der "die Wiederherstellung der ontologischen Einheit, die unter den Bedingungen der Existenz ... nicht gegeben ist", garantiert (129 f.; 137). "Eine konkrete, inhaltlich qualifizierte Verhältnisbestimmung von Macht und Liebe in der theologischen Perspektive" vermisst die Vfn. bei Tillich allerdings. (137) Damit verbindet sich ihre Kritik an Tillichs Umgang mit dem Theodizeeproblem als Folge seiner ontologischen Grundlegung. Da bei Tillich die durch die "Freiheit der Kreatur" bedingte (146) "Entfremdung ein notwendiger Bestandteil des ontologischen Prozesses ist, ist sie und mit ihr Sünde, Übel und Leiden, gerechtfertigt. ... Die Theodizeefrage als theologische Frage löst sich in Tillichs Entwurf auf." (140) Das Böse habe "seinen Sinn innerhalb der Wiedervereinigung und Vervollkommnung des Seins, zu dem auch das Sein Gottes gehört" (151). Es komme wie bei Althaus "zu einer Rationalisierung des Bösen" (147; vgl. 152 ff.). Zwar werde bei Tillich eine Partizipation Gottes an der Entfremdung gedacht (152), doch "eine konkrete Rede von Gottes Nähe bei den Leidenden" werde verhindert (159). "Gerade Tillichs explizite Äußerungen zur Theodizeefrage zeigen, dass er an einer anderen Perspektive, in der die Nähe Gottes bei den Leidenden und die Klage gegen Gott Raum hätten, überhaupt nicht interessiert ist." (160)

Um gegenüber der Konzeption von Tillich "die Nähe Gottes in den Leidenserfahrungen und die Klage gegen Gott angesichts von Not formulieren zu können", sucht die Vfn. "nach einem Ansatz, einem Wirklichkeitsverständnis und einer Sprache ..., die nicht in eine Totalkonzeption und in eine Abstraktheit führt, die aber auch nicht die Rede von Gottes Wirklichkeit aus der Wirklichkeit der menschlichen Existenz und der Geschichte ableitet." (161) Sie findet einen solchen Ansatz in Karl Barths Versöhnungslehre. Dort komme "dezidiert ein soteriologisches Verständnis von Allmacht der Liebe, die Gottes Hingabe zugunsten der Menschen einschließt, zur Sprache" (163).

Im "Nachvollziehen biblischer Texte und Gedanken" (vgl. dazu 180-190) werde in Barths Versöhnungslehre "versucht, alle Rede von Gott konkret" aus der in Jesus Christus geschehenen Geschichte zu entwickeln (173, vgl. 179). "Sowohl Gottes Allmacht als auch Gottes Ohnmacht und Hingabe sind in Jesus Christus und in Gottes Mit-Sein mit den Menschen in dieser Geschichte zu erkennen. ... Gottes Allmacht ist darin Gottes Allmacht, daß Gott sich ganz in die Not und Verlassenheit der Menschen, in die Macht des Nichtigen begeben kann, und trotzdem nicht aufhört, Gott zu sein" (177). Im "Dialog mit den biblischen Texten" werde "ein Rückfall in [die] theistische Vorstellung eines unberührt ,über' der Welt seienden, allwirsamen Herrschers verhindert und dagegen der Zusammenhang von Allmacht und lebensschaffender Gerechtigkeit und Liebe deutlich gemacht" (190). Anhand des Vergleichs von Gottes- und Versöhnungslehre diagnostiziert die Vfn. eine Verschiebung des Allmachtsverständnisses. Denn in der Gotteslehre werde Allmacht "trotz der Bindung an Gottes Liebe mit Alleinwirksamkeit und Alleinherrschaft identifiziert" (163, vgl. 203-217). Die fatale Konsequenz dessen sei die Rede von Gottes Zulassung des Nichtigen (217 ff.), in der Barth "eine Form von Erklärung für das Übel und Leiden zu geben" versuche und damit Gott und das Böse in einen ontologischen Zusammenhang bringe (223). Es zeige sich, dass Gottes Allmacht "mit der Realität des Leidens innerhalb eines Systems" nur um den Preis zusammengedacht werden kann, "daß Gott in klassisch theistischer Weise als derjenige erscheint, der dem Leiden und der Not der Menschen zuschauend und verursachend gegenüber steht" (223). Die Versöhnungslehre Barths wertet die Vfn. hingegen als entscheidenden Beitrag, um "jegliche allgemeine Gottes- und Machtvorstellung durch das konsequente Nachgehen der konkreten Geschichte Gottes mit den Menschen zu überwinden" (228). Sie gilt ihr zugleich als "gelungenes Beispiel eines interdisziplinären Dialogs von exegetischer und systematisch-theologischer Arbeit" (34).

Auf der Basis der sorgfältig und kritisch rekonstruktierten Entwürfe plädiert die Vfn. für eine biblisch-theologische Rede von Gottes Allmacht (242 ff.), die sie "durch den konstitutiven Zusammenhang von Mehrperspektivität, Narrativität und eindeutiger inhaltlicher Bestimmung von Allmacht als Allmacht der Liebe" gekennzeichnet sieht (244). Im Lichte der "Mehrperspektivität des biblischen Wirklichkeitsverständnisses" (245 ff.), die die Vfn. an den Gleichnissen Jesu und seiner Verkündigung des Reiches Gottes demonstriert (vgl. 246-253), könnten Einheitsvorstellungen, insbesondere die Rede von Gott als alles bestimmender Wirklichkeit (236), aufgebrochen und die Instrumentalisierung und Rationalisierung von Leiden (254, vgl. 259) verhindert werden. Für die Eigenschaftslehre ergibt sich aus dem biblisch-theologischen Ansatz, dass Eigenschaften Gottes nicht mehr zu definieren, sondern zu umschreiben und zu erzählen sind und so "eine notwendige Orientierungshilfe für die Rede von Gott" bilden (253). Aus dem biblischen Kontext entwickelt die Vfn. ein Verständnis von Allmacht als Allmacht der Liebe, demzufolge "Gott ganz in die Situation geschöpflichen Leidens eingeht und in dieser den Menschen nahe bleibt", und zwar "ohne aufzuhören, Gott zu sein" (260). Gottes Allmacht erweise sich "in seiner Nähe bei den Leidenden und in seinem Erbarmen ihnen gegenüber" (260) und in der lebensschaffenden Eröffnung neuer Perspektiven durch sein stellvertretendes Tragen von Schuld und Leid (261). Allmacht sei dabei als "eschatologisches Prädikat aufzufassen", werde "damit doch der Hoffnung auf Gottes endgültige Durchsetzung seiner Wirklichkeit und seiner Macht Ausdruck gegeben" (ebd.).

Die Vfn. verbindet in ihrer Studie der genannten systematisch-theologischen Entwürfe die elementare Kritik an der theistischen Allmachtsvorstellung und der Rationalisierung von Leiden mit einem biblisch-theologisch orientierten Reformulierungsvorschlag für die Rede von Gottes Allmacht angesichts von Leiden, der die Theodizeefrage weder stilllegt, noch rational lösen will, sondern begründet offenhält und Anknüpfungspunkte für das interdisziplinäre Gespräch bietet (262-267). Damit ist ein wichtiger Beitrag zur Diskussion über die Möglichkeit christlichen Redens von Gott im Lichte der Theodizeeproblematik geleistet.