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Ausgabe:

Januar/2002

Spalte:

75–78

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Winfried

Titel/Untertitel:

Christliche Popularmusik als publizistisches Phänomen. Entstehung - Verbreitung - Rezeption.

Verlag:

Erlangen: Christliche Publizistik Verlag 2000. 561 S. 8 = Studien zur Christlichen Publizistik, 2. Kart. ¬ 25,00. ISBN 3-933992-01-X.

Rezensent:

Roland Biewald

Popularmusik spielt im Leben von Jugendlichen unbestritten eine große Rolle - knapp 90 % von ihnen hören in der Freizeit Musik. Umstritten ist eher die Wirkung als Trost oder Vertröstung, Wertevermittlung oder -verwirrung, Kultur oder Subkultur. Diesen und anderen Fragen geht W. Dalferth - Jugendpfarrer und in mehreren kirchlichen Funktionen im Zusammenhang mit Musik tätig - hinsichtlich der Rolle von christlicher Popularmusik im Umfeld von Kirche und Gesellschaft nach. Die 1999 in Erlangen angenommene Dissertation liegt hier als (leicht überarbeitete) Druckfassung mit 561 Seiten vor. Sie ist schon auf den ersten Blick eine reiche Fundgrube an Daten, Themen, Reflexionen und Ideen. Stil und detaillierte Gliederung machen das Lesen leicht und lassen den an spezifischen Fragestellungen Interessierten - trotz fehlenden Stichwortverzeichnisses - schnell die entsprechenden Ausführungen finden.

In einer ersten Standortbestimmung zeigt D. das grundlegende Problem auf: Der wachsenden Bedeutung von christlicher Popularmusik (CPM) steht eine ungenügende (systematische) Wahrnehmung dieses Phänomens gegenüber. Wenn es hier auch vorwiegend als publizistisches Phänomen untersucht wird, so liegt die Bedeutung dieser Arbeit für die Praktische Theologie auf der Hand: CPM ist eine wichtige Form der "Kommunikation des Evangeliums" (Kap. 7). So entwickelt der Autor sein Konzept ausgehend von einer phänomenologischen und historischen Analyse über kommunikationswissenschaftliche und theologische Reflexionen hin zu praktischen Überlegungen für kirchliche Handlungsfelder und strukturelle Perspektiven zur Integration der CPM in die kirchliche Arbeit.

Kapitel 2 zeichnet die Entwicklung der populären Musik in Europa im 19. und 20. Jh. nach, wobei Bezüge zur Reformationszeit hergestellt werden. Nachgewiesen wird die weitgehende Abkoppelung der Kirchenmusik von der Popularmusik am Beispiel des Berufsstandes der Kirchenmusiker nach dem Zweiten Weltkrieg und anhand von kirchenmusikalischer Literatur bis zum Evangelischen Gesangbuch.

Kapitel 3 gibt einen Einblick in die Entstehungsgeschichte geistlicher Musik in Amerika. In fast lexikalischer Form werden die wichtigsten Begriffe dieser Musiktraditionen (von Blues bis Praise-Songs) erklärt. Das schafft nötige Verstehensvoraussetzungen für die Fachliteratur und für die vom Autor zitierten Texte.

Den Zusammenhang von Musikentwicklung und Massenmedien stellt D. im nächsten Kapitel dar. Wiederum handelt es sich um eine große Breite von Themen (Technik, Instrumente, Musikarten, Musikbranche). Dass hier die Gitarre ausführlich behandelt wird, verrät des Autors besondere Qualifikation auf diesem Gebiet, ist aber auch der Bedeutung dieses Instruments für die kirchliche Jugendmusik angemessen. Aufschlussreich ist der Abschnitt "Jugendliche und Massenmedien" (147 ff.), in dem Ergebnisse soziologischer Jugendstudien ausgewertet werden.

Kapitel 5 und 7 sind die umfangreichsten und machen auch thematisch den Kern der Veröffentlichung aus. Die historische Entwicklung der CPM in Deutschland wird nachgezeichnet (Kap. 5), wobei drei wesentliche Phasen unterschieden werden. Der Vf. vermittelt sowohl Informationen über Entstehungszusammenhänge von Musikbewegungen und Stilrichtungen (z. B. neue geistliche Lieder, christlicher Rock, Ten Sing) als auch über einzelne Komponisten und Liedermacher (Abschn. 5.1.7.) und Institutionen (Evangeliumsrundfunk, Verlage, landeskirchliche Arbeitsgemeinschaften). Verständlich, dass angesichts der Informationsfülle mehr dargestellt als reflektiert/beurteilt wird.

Eine Analyse der kommunikativen Funktion der CPM hinsichtlich der Evangeliumsverkündigung bietet Kap. 7. Zunächst wird Kommunikation unter humanwissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet, wobei weitgehend Heinz Pürer (Einführung in die Publizistikwissenschaft) und den dort diskutierten kommunikationswissenschaftlichen Ansätzen gefolgt wird.

Die daran anschließenden theologischen Erwägungen zur Kommunikation des Evangeliums durch CPM betreffen zunächst kirchliche Entscheidungen und Entwicklungen in ökumenischer Perspektive (Zweites Vatikanisches Konzil, ÖRK, EKD). Es handelt sich dabei um eine kommentierte Dokumentation der einschlägigen kirchlichen Äußerungen. Beispielhaft seien genannt: die Diskussion um CPM und das Mandat der Evangelischen Publizistik (399 ff.) sowie die Diskussion um Qualitätskriterien des neuen geistlichen Liedes (411 ff.). Der Vf. führt verschiedene Argumentationen und deren Auswirkungen auf die Liedproduktion vor, ohne sie jedoch zusammenfassend zu werten. Explizit theologisch wird dann im Abschnitt "Theologie der Songs" (420 ff.) vorgegangen, wenn Liedinhalte auf ihre Aussagen hinsichtlich theologischer loci (Gott, Jesus, Glaube, Rechtfertigung usw.) untersucht werden. Eine Analogie zur Systematik des Gesangbuches ist unverkennbar und gewollt, denn verschiedentlich werden einzelne neue Lieder besprochen und mit anderen aus dem Gesangbuch verglichen. Diese Vorgehensweise lässt ein differenziertes Urteil über theologische Aussagen (als eines der Qualitätskriterien) in der CPM zu. Aufschlussreich ist die Analyse säkularer Popsongs hinsichtlich ihrer Trostfunktion (444 ff.). Schließlich werden Liedtexte und Liedstruktur unter homiletischen, rhetorischen und medienbedingten Aspekten analysiert. Auf diese Weise kann der komplexe Hintergrund für die Wirkung eines Liedes besser verstanden werden.

Kapitel 6, das zwischen den beiden Hauptteilen liegt, könnte als eine Art Exkurs erscheinen. Es behandelt das Thema Religion und Musik unter den besonderen Aspekten "säkularisierte Religiosität" und "Okkultismus". An diesem Thema kommt man allerdings nicht vorbei, wenn man sich mit CPM beschäftigt. Über die These, dass Rockkonzerte als säkularisierte Gottesdienste aufgefasst werden können (310ff), kann man streiten. Die formale Ähnlichkeit (Tabelle 312 f.) weist auf eine Ritualisierung der Konzerte hin. Das müsste aber doch von einer "Liturgie" unterschieden werden. Die Einschätzung des Okkultrock reicht von einer Phänomenologie bis zu seelsorgerlichen Empfehlungen für den Umgang mit Jugendlichen aus der Okkultszene (334 f.), die notwendigerweise knapp bleiben müssen. Okkultrock wird nicht mit Okkultismus gleichgesetzt, gehört aber zu Formen der Sinnsuche von Jugendlichen (Dalferth: "desorientierte Sinnsuche", 327). Auf diesem Hintergrund erhält die CPM eine seelsorgerliche Funktion als Alternativangebot, hier insbesondere "White Metal" (335 ff.).

Die beiden abschließenden Kapitel ziehen Konsequenzen aus der historischen und phänomenologischen Untersuchung zur CPM hinsichtlich ihrer kirchlichen Rezeption (Kap. 8) und hinsichtlich struktureller Möglichkeiten (Kap. 9). Die Funktion von CPM in den verschiedenen kirchlichen Handlungsfeldern wird praktisch-theologisch reflektiert, wobei der Autor immer wieder versucht, Kriterien heraus zu arbeiten, die zu einem verantwortlichen und gezielten Umgang mit der CPM anleiten (z. B. 465). Der Erkenntnis folgend, dass unsere Wirklichkeit "vernetzt" ist, fordert D. im letzten Kapitel eine strukturelle Vernetzung von Popularmusik, Kirchenmusik, Theologie und Medien. Damit folgt er dem Trend stärkerer Wahrnehmung der Medien durch die Kirchen, setzt aber auch neue Impulse, vor allem, was die Überwindung der Trennung von Kirchenmusik und CPM betrifft, die zum Teil zwei verschiedene Kulturen sind. Seine Hauptanliegen sind in fünf Punkten formuliert (530).

Zusammenfassend kann man feststellen: Es handelt sich bei diesem Werk um eine reiche Fundgrube an Sachinformationen und gedanklichen Impulsen (sehr viele weiterführende Informationen stehen in den 1170 Anmerkungen!). An manchen Stellen vermisst man vertiefende (theologische) Reflexionen und eine stärker wertende Position des Vf.s. Eins ist sicher: Personen und kirchliche Gremien, die konzeptionell über Gemeindearbeit nachdenken, werden in diesem Buch eine unverzichtbare Hilfe finden. Es ist zu wünschen, dass sie sich D.s Anliegen gegenüber öffnen, CPM als Kommunikationsform des Evangeliums zu erkennen, zu fördern und mit anderen Arbeitsbereichen zu vernetzen.