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Ausgabe:

Januar/2002

Spalte:

69–71

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Capot, Stéphane

Titel/Untertitel:

Justice et religion en Languedoc au temps de l'édit des Nantes. La chambre de l'Édit de Castres (1579-1679). Préface de B. Barbiche.

Verlag:

Paris: École des Chartes 1998. 427 S. gr.8 = Mémoires et Documents de l'École des Chartes, 52. ISBN 2-900791-22-7.

Rezensent:

Christoph Strohm

Im Jahre 1579 wurde im Gebiet des obersten Gerichtshofs von Toulouse (parlement de Toulouse) ein paritätisch besetztes Gericht (chambre mi-partie) mit weitreichenden Kompetenzen geschaffen. Dies geschah in Ausführung der Edikte von Beaulieu vom Mai 1576 und Poitiers vom September 1577, welche die seit Anfang der sechziger Jahre immer wieder aufbrechenden Konfessionskriege eindämmen sollten. Nach seinem hauptsächlichen Tagungsort und seiner ungefähr einhundert Jahre währenden Tätigkeit im Dienst der Umsetzung des Edikts von Nantes 1598 wurde das Gericht gemeinhin "chambre de l'Édit de Castres" genannt. Dessen über Jahrzehnte durchaus erfolgreichem Wirken hat Stéphane Capot, Konservator der städtischen Archive von Limoges, eine detaillierte Untersuchung gewidmet, die über die Ende des 19. Jh.s erschienenen Arbeiten hinaus in breitem Maße bisher nicht beachtetes Quellenmaterial auswertet. Neben den Akten der chambre de l'Édit de Castres und des parlement de Toulouse werden auch die im Nationalarchiv und der Manuskriptabteilung der Bibliothèque nationale de France aufbewahrten Bestände, welche das zunehmend konfliktreiche Verhältnis zu den königlichen Zentralinstanzen dokumentieren, ausgewertet. Indem der Vf. zudem umfassend regionales, insbesondere auch genealogisches Quellenmaterial heranzieht, ist ihm eine substantielle Erweiterung der Kenntnis der Arbeit der chambre de l'Édit de Castres gelungen, die weit über eine begrenzte Institutionengeschichte hinausreicht.

Der erste von vier Teilen stellt die Entstehung des Senats und die verschiedenen Phasen seiner Tätigkeit dar (41-97). Seit den 1550er Jahren gewann die reformierte Religion im Languedoc zahlreiche Anhänger, so dass diese in manchen Gegenden die Mehrheit bildeten. Angesichts der ungefähr 300.000 Reformierten erschien eine Befriedung ohne ein gewisses Maß an Rechtssicherheit, das die chambre de l'Édit de Castres wie entsprechende Einrichtungen in anderen Teilen Frankreichs gewährleisten sollten, nicht möglich. Nach anfänglichen Schwierigkeiten und einer zehnjährigen Unterbrechung ihrer Tätigkeit (1585-1595) konnte sie mit dem Erlass des Edikts von Nantes 1598 bis zur Ermordung Heinrichs IV. im Jahre 1610 eine breite Wirkung entfalten. Die Institution erfüllte nicht zuletzt den Zweck, das verlorene Vertrauen der Protestanten in die königliche Gerichtsbarkeit wiederherzustellen. Schon in der Herrschaftszeit Ludwigs XIII. (1610-1643) und vollends unter der Regierung Kardinal Mazarins (1643-1661) wurde die Tätigkeit zunehmend konfliktreicher, gerade wenn es in den Prozessen um Fragen der politischen Freiheit der Protestanten ging. Im Blick auf die letzten Jahre, die Herrschaft Ludwigs XIV., findet der Vf. das Urteil bestätigt, das Janine Garrisson über die Tätigkeiten der chambres de l'Édit insgesamt formuliert hat: "Trés vite, les cours de justice mi-parties deviennent des fantômes, fonctionnant à vide; leur suppression ne détruira que des coquilles mortes" (zit. 318). Von Anfang an litt die Arbeit der chambre de l'Édit an der unterschiedlichen Bewertung der Katholiken und Reformierten. Während jene in ihr nur einen Senat des Toulouser Gerichtshofes sahen, betonten diese den Charakter eines eigenständigen und unabhängigen Gerichts.

Der zweite Teil der Untersuchung ist den Strukturen der paritätischen Rechtsprechung gewidmet (101-182). Die verschiedenen Tagungsorte - ingesamt sieben, darunter vor allem die Stadt Castres -, die personelle Zusammensetzung, die vorgesehenen und faktisch wahrgenommenen Kompetenzen, aber auch die ganz konkreten Arbeitsbedingungen von der Rekrutierung und Bezahlung der Amtsträger bis hin zu den Tagungsgebäuden werden eingehend und mit Quellenbelegen versehen erläutert. Die Kompetenzen ratione materiae et ratione personae der chambre de l'Édit waren ausgesprochen weitreichend. Protestanten hatten nach den Vorgaben des Edikts von Beaulieu 1576, des Edikts von Poitiers 1577 und des Edikts von Nantes 1598 das Recht, Rechtsfälle jeder Art vor diesen Gerichtshof zu bringen (165-182).

Der dritte Teil nimmt unter dem Titel "Fonctionnement et blocages" Verfahrensweise und Inhalt der Verhandlungen in den Blick (185-255). Der Vf. schätzt die Gesamtzahl der zivilrechtlichen Urteile auf ungefähr 100.000, der strafrechtlichen auf ungefähr 25.000 sowie der Gerichtsurteile insgesamt auf ungefähr 160.000 (199). Graphische Darstellungen vermitteln ein anschauliches Bild der Verteilung auf die einzelnen Jahre und Jahrzehnte. Zahlreiche konkrete Fälle werden durch ausführliche Zitate aus den Quellen belegt. Der Vf. geht auch auf die Frage des Verhältnisses von juristischen und politischen Gesichtspunkten bei der Urteilsfindung ein. Der zunehmende Einfluss königlicher Macht in Gestalt von Personen, Erlassen und anderen Vorgaben wird vielfach sichtbar. Eine unabhängige Gerichtsbarkeit im Sinne der modernen Gewaltenteilung war nur in sehr eingeschränkter Weise gegeben. Der Bedeutungsverlust der chambre de l'Édit im Laufe des 17. Jh.s, ihre Entwicklung zu einem Gericht zweiten Rangs, vor dem keine wichtigen Verfahren mehr verhandelt wurden, und die Aussichtslosigkeit des Kampfes der Protestanten dagegen ist unübersehbar (vgl. bes. 252 f.).

Der vierte Teil der Untersuchung erörtert über die klassische Institutionengeschichte hinaus die Milieus und familiären Zusammenhänge, denen die Amtsträger der chambre de l'Édit entstammten (259-315). Sowohl die geographische als auch die soziale Herkunft, aber auch exemplarische Karrieren werden analysiert. Die führenden Amtsträger entstammten auf katholischer wie protestantischer Seite einer regionalen Elite. Es zeigt sich, dass die wenigen Familien, aus denen diese kamen, zu gleichen Teilen dem älteren Adel und dem jüngeren Amtsadel zugehörten. Bald wurde es üblich, die Ämter an die eigenen Nachkommen weiterzugeben und über mehrere Generationen in der Familie zu halten. Unter den 11 Ämtern - 1 président, 8 conseillers, 1 avocat général, 1 procureur général - blieben 9 mindestens 66 Jahre in einer Familie (261). Das Phänomen der Dynastiebildung findet sich auf reformierter ebenso wie auf katholischer Seite.

Gerade hier bringt der umfangreiche Anhang (321-419) detaillierte und übersichtlich präsentierte Informationen in Gestalt von Biogrammen, Stammbäumen und Auflistungen der einzelnen katholischen und reformierten Amtsträger. Darüber hinaus findet man auch 30 bislang unveröffentlichte Schlüsseldokumente zum Wirken der chambre de l'Édit von Castres und schließlich ein Namenregister.

Die Untersuchung ist nicht nur für Spezialisten der französischen Geschichte der Frühen Neuzeit interessant. Der Blick auf die Situation in Frankreich hilft auch, das Exemplarische wie auch das Besondere der Situation im Reich nach dem Augsburger Religionsfrieden 1555 zu verstehen. Man versuchte, den für das Gemeinwesen und die funktionierende Staatlichkeit bedrohlichen Konfessionskonflikt durch die Arbeit von paritätisch besetzten Gremien in Justiz und Verwaltung einzudämmen. C.s Untersuchung zeigt, dass dies im Falle der chambre de l'Édit von Castres mehrere Jahrzehnte recht gut gelang. Ein Unterschied zur Situation im Reich, die durch die erstarkende Territorialherrschaft der Fürsten gekennzeichnet ist, sticht in die Augen: Das Gebiet um Castres war wie weite Teile des unter Einfluss des Hauses Navarra stehenden Südens Frankreichs bereits früh protestantisch geworden. Die Schaffung der chambre de l'Édit von Castres hatte einen wesentlichen Anteil daran, dass sich Katholiken in manchen Gegenden überhaupt erst wieder etablieren konnten. Insofern war die im Unterschied zu anderen Gerichten (Paris und Rouen) paritätische Besetzung im Interesse der katholischen Könige. Mitte des 17. Jh.s hatte die chambre de l'Édit von Castres ihren Zweck erfüllt und wurde entsprechend 1679, sechs Jahre vor der Aufhebung des Edikts von Nantes aufgelöst.