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Ausgabe:

Januar/2002

Spalte:

58 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Zumstein, Jean

Titel/Untertitel:

Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium. Übersetzungen von Esther Straub.

Verlag:

Zürich: Pano 1999. X, 237 S. 8. Kart. ¬ 19,50. ISBN 3-907576-11-X.

Rezensent:

Klaus Wengst

Von den dreizehn hier zusammengestellten Aufsätzen, zwischen 1989 und 1999 erschienen, wurden acht ursprünglich auf Französisch veröffentlicht. Am Beginn stehen fünf Beiträge mit übergreifender Thematik. Die übrigen beziehen sich auf einzelne Texte und Textbereiche und werden nach deren Abfolge im Evangelium geboten. Dabei liegt ein deutliches Gewicht auf dessen zweitem Teil: Dem Beitrag über den Prolog folgt der über die Fußwaschung. Die Aufsätze werden von zwei Fragestellungen bestimmt, indem einmal anhand des Relecture-Modells das Johannesevangelium als Interpretationsprozess betrachtet wird und zum anderen vor allem narratologische Aspekte der jüngeren Literaturwissenschaft für die Auslegung fruchtbar gemacht werden.

Am Anfang bietet Z. seine Gesamtsicht der "Geschichte des johanneischen Christentums" (1-14). Sie steht immer wieder im Hintergrund der folgenden Beiträge. Als für die Interpretation des Johannesevangeliums besonders relevant sei daraus hervorgehoben, dass Z. eine "Endredaktion" von einem fertigen Evangelium unterscheidet. Als "das sicherste Beispiel für die Tätigkeit der Endredaktion" gilt ihm Kap. 21 (8). Darauf geht er ausführlich im letzten Beitrag ein: "Die Endredaktion des Johannesevangeliums (am Beispiel von Kapitel 21)" (192-216). Von den Argumenten dafür finde ich überzeugend, dass 20,30 f. "nicht nur den theologischen, sondern auch den literarischen Abschluß des Evangeliums" bildet, dass mit dem "auktorialen ,wir' von 21,24" Kap. 21 "selbst zu erkennen gibt, von einer Gruppe verfaßt" zu sein, "die vom Evangelisten zu unterscheiden ist" (202) und dass Kap. 21 ein anderes Ziel hat, nämlich ein ekklesiologisches, als die durchgängig christologisch bestimmten Kap. 1-20 (202 f.). Wenn es sich aber so verhält, dass "die Autoren von Kap. 21 den Abschluss des Evangeliums (20,30-31) [respektieren]" und also "den Text des Evangelisten als ein abgeschlossenes Werk anerkennen" (204; vgl. 214: "Kap. 21 [will] nicht die Theologie des Evangelisten ,korrigieren', sondern deren Legitimität aufzeigen. Der Epilog enthält keinen Hinweis, der auf die Absicht schließen ließe, die in Kap. 1-20 erörterte Interpretation des Glaubens zu revidieren oder zu modifizieren"), scheint es mir eine nur halbherzige Folgerung zu sein, sie zeigten damit, "daß das Werk nicht mehr tiefgreifend überarbeitet werden kann" (204; die letzte Hervorhebung von mir). Wenn sein Abschluss respektiert, es als vollständig anerkannt wird und seine Theologie nicht korrigiert werden soll, wieso kann dann überhaupt innerhalb seines Korpus ergänzt werden? Hier folgt Z. ein Stück weit den Annahmen der "klassischen" und "neuen" Literarkritik (vgl. 8 f.12.25 f.). Ihr gegenüber ist allerdings der Vorteil seines Relecture-Modells, dass es den Text als Ganzen in den Blick zu nehmen vermag. Nach ihm liegt ein Relecture-Prozess "dann vor, wenn ein erster Text die Produktion eines zweiten Textes veranlaßt und dieser zweite Text seine volle Verständlichkeit erst in bezug auf den ersten gewinnt" (15; der zweite Aufsatz behandelt programmatisch den "Prozeß der Relecture in der johanneischen Literatur": 15-30). Z. versteht die angenommenen Redaktionen im Evangelium und die johanneischen Schriften im Ganzen als eine Reihe aufeinander folgender Relecturen. Beim Evangelium partizipiert dieses Modell an der Schwäche der Literarkritik, insofern sie auf unbeweisbaren Mutmaßungen beruht. Den vorliegenden Text im Ganzen wahrzunehmen, kann man einfacher haben. Einen interpretatorischen Gewinn vermag ich durch die Annahme der Relecture nicht zu erkennen. Die Interpretation der Fußwaschungsszene etwa (111-113) käme auch ohne sie aus. Umgekehrt kann sie zum Rückfall in bloße Literarkritik tendieren, wie m. E. die Ausführungen zu 19,31-37 (139) und die Besprechung der Gerichtsvorstellung (146 f.) zeigen.

Als fruchtbarer empfinde ich die Aufnahmen aus der neueren Literaturwissenschaft. Hier sei auf die Beiträge zur "johanneischen Interpretation des Todes Jesu" (125-144) und - vor allem- zur "narratologischen Lektüre der johanneischen Ostergeschichte" (178-191) hingewiesen, die die aspektreiche johanneische Darstellung zum Leuchten zu bringen vermögen. Dabei wird in der theologischen Interpretation der Akzent einmal darauf gesetzt, "daß nur in der österlichen Retrospektive ein echtes Erkennen Christi möglich ist", wofür der Paraklet steht (55; ähnlich 29.72-74), so dass das Evangelium sozusagen eine "österliche Relecture des irdischen Geschicks Jesu" ist (28). Zum anderen betont Z., dass "die joh Erzählung ... auf das Kreuz ausgerichtet [ist]" (129; vgl. 69) und Kreuzestheologie bietet (140-142). Er stützt damit einen - wenn ich recht sehe - sich bildenden Konsens, der die Wiederbelebung der liberalen Sicht des johanneischen Jesus als des über die Erde schreitenden Gottes durch Käsemanns Streitschrift Episode bleiben lässt.

So zustimmend ich Z.s Auslegungen weithin gelesen habe - dass ich die Ausführungen zu "den Juden" auf S.150-152 in mehrfacher Hinsicht sehr problematisch finde, sei angemerkt - und es deshalb begrüße, dass sie durch ihre Zusammenstellung und die Übersetzung der ursprünglich französischen Beiträge leichter zugänglich gemacht wurden, sehe ich in der Herausgabe doch zugleich auch eine verpasste Chance. Es liegt zwar eine geordnete Zusammenstellung von Aufsätzen vor. Bis auf minimale Ergänzungen in den Anmerkungen wurden sie nicht verändert. Aber ein Buch ist daraus, wie die - in meinen Augen ärgerlichen - nicht gerade wenigen Wiederholungen zeigen, nicht geworden.