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Ausgabe:

Januar/2002

Spalte:

48–51

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Scholtissek, Klaus

Titel/Untertitel:

In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien-Barcelona-Rom-New York: Herder 2000. XI, 436 S. gr.8 = Herders biblische Studien, 21. Lw. ¬ 50,00. ISBN 3-451-27096-X.

Rezensent:

Rainer Metzner

Klaus Scholtissek hat sich bereits durch innovative Forschungen zum Johannesevangelium ausgewiesen. Auch die vorliegende Würzburger Habilitationsschrift zur Immanenzsprache im Corpus Johanneum kann in überzeugender Weise die Bedeutung einer zentralen Thematik joh Theologie aufweisen. Das Wort- und Bildfeld der Immanenz nimmt in der Sicht des Vf.s eine heuristisch wertvolle Schlüsselposition für eine sachgerechte Interpretation theologischer Leitlinien im Corpus Johanneum ein. Es bedarf daher einer eingehenden Untersuchung, die seit der letzten monographischen Behandlung des Themas von E. Malatesta (Interiority and Covenant, Rom 1978) die joh Denkbewegung reziproker Immanenz auf dem aktuellen Stand der Johannesforschung aufspürt und nachzeichnet.

Nach einer thematischen Einführung sowie einem an Typen der Immanenzvorstellung (Immanenz als Einheit, Botengehorsam, Glaubenstreue, Liebe, Mystik und Ethik, Teilhabe am Leben Gottes, Abgrenzung der Gemeinde von der Welt und Bundeserfahrung) orientierten Forschungsüberblick, der dem Vf. aufzeigt, dass Bedeutung und Inhalt der joh Immanenzsprache bisher unzureichend ausgeleuchtet sind (22), wird ein breiter religions- und philosophiegeschichtlicher Vergleich geboten, in dem monokausale Ableitungen religionsgeschichtlicher Verortung des Johannesevangeliums abgelehnt werden, da für das joh Denken "mit einer hohen Assimilations-, Integrations- und Inkulturationskraft" zu rechnen ist (23). In diesem Zusammenhang wird das relevante Material der griechischen Philosophie, der Gnosis, des AT und des Frühjudentums auf breiter Basis untersucht. Die frühjüdische Literatur (Weisheitsliteratur, LXX, besonders Test XII und Philo) bildet inhaltlich und sprachlich fortgeschrittene Immanenzvorstellungen aus, die konstitutiv zu den Denk- und Sprachvoraussetzungen der Immanenzaussagen bei Johannes gehören, ohne freilich die typisch johanneische, formelhafte Reziprozität zu erreichen. Johannes nimmt die verbreiteten Vorgaben auf, gliedert sie aber dem Kriterium der biblisch-monotheistischen Gotteserkenntnis und seiner Jesusüberlieferung ein.

Anschließend stellt der Vf. zwei neue Paradigmen der Johannesforschung vor, die der Interpretation der Immanenzaussagen behilflich sein sollen. Das diachrone Paradigma der relecture (J. Zumstein, A. Dettwiler) benennt ein Modell, das die Entstehungsgeschichte des Corpus Johanneum als Fortschreibung in kreativer Traditionsgebundenheit bestimmt. Die Texte sind nicht als Produkte sich widersprechender Theologie zu verstehen, sondern sie sind Ausdruck eines in geistgewirkter Anamnese ermöglichten organischen Fortschreibunsgprozesses. Das zweite, der Literaturwissenschaft entliehene synchrone Modell der réécriture bezeichnet die "variierende Wiederaufnahme und vielschichtige Um-Schreibung ein und derselben Grundkonstellation durch den gleichen Autor" (137). Diese Grundkonstellation erkennt der Vf. in der heilsentscheidenden Begegnung Jesu mit den Menschen, die in immer gleichen Anläufen im Evangelium entfaltet wird.

Der Hauptteil der Arbeit analysiert und interpretiert die joh Immanenzaussagen im Einzelnen. Die Untersuchung des Textbefundes (en, menein en, einai en) mit den dazugehörigen familienmetaphorischen Bildfeldaussagen (aufnehmen, wohnen, zelten, Haus u. ä.), Präformationen und Äquivalenten (erkennen, lieben, sehen, verherrlichen, glauben) macht zunächst deutlich, dass die joh Immanenzsprache im Corpus Johanneum breit gestreut und verankert ist, so dass sie zum sprachlichen und theologischen Potential des joh Denkens gehört.

Ausgangspunkt der Textanalysen ist der Johannesprolog, den der Vf. vom Modell christologischer réécriture her versteht. Die "semantische Achse" der Annahme bzw. Verwerfung Jesu bildet die "Tiefenstruktur" des Johannesevangeliums, die in V. 4 f. präludiert, in V. 9-10 entfaltet und in V. 11-13 thematisiert ist. Diese Achse wird im Corpus des Evangeliums als Geschichte der Annahme und Verwerfung Jesu Christi ausgelotet. V. 4a und äquivalente Interpretamente in V. 14bc.16.18b präformieren die joh Immanenztheologie. Im Ganzen kommt dem Prolog als "Metatext der johanneischen Immanenztheologie" eine hermeneutische Schlüsselfunktion zu.

Auch die Immanenzaussagen in Joh 6 werden mit dem Modell der Fort- und Umschreibung erfasst. Die Eucharistiepassage V. 52-58 schreibt die Brotrede immanenztheologisch fort (V. 53. 56) und verortet die joh Immanenztheologie ekklesiologisch. Sie beantwortet die Frage, wie Jesus in der nachösterlichen sakramentalen communio zur dauerhaften Nahrung wird. Daher steht die personal-soteriologische Identität des Erlösers nicht im Widerspruch zu seiner sakramentalen Selbstvermittlung. Dem Vf. gelingt es, Joh 6 in einheitlicher theologischer Vernetzung von inkarnatorischer Christologie, Eucharistie und Immanenz wahrzunehmen. Die Immanenzaussagen von Joh 6,53.56 stehen dabei auf einem hohen theologischen Reflexionsniveau, das die in der eucharistischen Kommunion gewährte Partizipation am ewigen Leben Gottes zur Sprache bringt.

In der Abschiedsrede Joh 13,31-14,31 begegnen Immanenzaussagen in dichter Reflexion und familienmetaphorischer Konnotation (vgl. bereits 1,38 f.; 8,30-36; 13,20). Dabei wird Joh 14 einer réécriture unterzogen: Die Habitatio von Vater und Sohn bei den Liebenden (14,23) erfolgt im Vorgriff auf die zukünftige vita communis der Glaubenden mit dem Sohn beim Vater (14,2 f.). Joh 14,20 f. - V. 18-21 wird vom Vf. nicht ganz unproblematisch auf die nachösterliche Gegenwart gedeutet - schreibt die schon vorösterlich gegebene reziproke Immanenz von Vater und Sohn (10,38; 14,10 f.) auf die nachösterliche Sohn-Christen-Relation fort. Die angekündigte Immanenz des Parakleten "in" den Glaubenden (14,16 f.) verheißt den Geist als "zeitlich uneingeschränkte und sie innerlich und äußerlich aufrichtende Gabe" (259).

Die Rede Joh 15,1-17 versteht der Vf. als paränetische Fortschreibung und Vertiefung der Immanenzaussagen von Joh 14. Die Bildrede vom Weinstock (15,1-8) und die die Bildrede weiterführende und vertiefende Rede (réécriture) von der Liebe der Freunde Jesu (15,9-17) formulieren die Aufgabe, durch die Praxis des Liebesgebotes in Jesus zu "bleiben". Stärker als in Joh 14 veranschaulicht Joh 15 die konstitutive Verknüpfung von Soteriologie und Ethik, so dass hier von einer anderen Sprechsituation her - wie der Vf. annimmt - imperativische Immanenzaussagen formuliert werden können. Glaube ist immanent auf die Ethik des Bleibens hin angelegt. Joh 15 darf daher nicht als "frühkatholische" Verfremdung einer reinen solus-Christus-Soteriologie (miss)verstanden werden.

Die Verknüpfung der Immanenzaussagen mit Einheitsaussagen in Joh 10,16.30.38 und Joh 17,11.21-23.26 setzt die Einheit der Glaubenden (10,16; 17,11.21.23) in eine vergleichende und normierende Relation zu Immanenz- und Einheitsaussagen über den Vater und den Sohn. So wird die Einheit von Vater und Sohn zum Urbild und Kanon der Einheit der Glaubenden, die in die bestehende Vater-Sohn-Immanenz aufgenommen werden (17,21.23.26). Die Proprietät der Subjekte wird in der wechselseitigen Immanenz bestimmt. Anders als bei der Immanenz kann eine Einheit von Vater/Sohn und Glaubenden nicht ausgesagt werden, da die Immanenzaussagen Symmetrie und Asymmetrie gleichzeitig zur Geltung bringen.

Sachgemäß bezieht der Vf. auch die Johannesbriefe in seine Überlegungen ein. Das Modell der relecture erklärt den 1. Johannesbrief als Fortschreibung des Johannesevangeliums. Der Brief nimmt die Immanenzaussagen des Evangeliums auf und entwickelt sie zu einem zentralen Leitmotiv. Im Unterschied zum Evangelium sind die Immanenzaussagen des 1. Joh stärker ekklesial, orthodox und orthopraktisch in Auseinandersetzung mit den Gegnern entfaltet, so dass der Übergang zum Imperativ fließend wird. Die Immanenzaussagen haben daher die Funktion, "Identitätsstiftung bzw. -sicherung durch Abgrenzung zu betreiben" (359). Die gegenüber dem Evangelium neue Aussage reziproker Immanenz von Gott und den Glaubenden (3,24; 4,12-13.15.16) wird an das Halten des Liebesgebotes gebunden (3,24a; 4,12b.16e). 1Joh schreibt hier bes. das Material von Joh 15,1-17 fort, wo reziproke Immanenzformeln mit dem Liebesgebot bzw. dem Halten der Gebote vermittelt werden. Der Brief nimmt die "semantische Achse" des Evangeliums auf und variiert sie zu einer in Glaube und Liebe erfahrenen "ekklesiale[n] Koinonia, in der die Koinonia mit Gott aufleuchtet und erfahren wird" (357).

Schließlich bietet die Arbeit eine Auswertung, die das theologische Potential der joh Immanenzvorstellung beschreibt. Hier macht der Vf. deutlich, dass die Immanenzaussagen in die Mitte der joh Theologie führen. Die "semantische Achse", die mit der Thematik der gläubigen Aufnahme Jesu Christi das Corpus Johanneum durchzieht, lotet mit Hilfe der "Basismetaphorik" von Familie und Haus die joh Immanenzsprache aus. Die Paradigmen der relecture und réécriture machen Genese und Gestalt der joh Immanenzaussagen als pneumatisch-anamnetischen Fort- und Umschreibungsprozess verständlich. Anders als philosophische Immanenzinterpretamente einer natürlichen oder apriorischen Gottesgegenwart in der Welt bzw. im Menschen ist die joh Immanenzsprache Ausdruck der im Glauben erfahrenen Offenbarung Gottes. Sie stellt daher ein geistgewirktes "reflexives Ergebnis urchristlicher Glaubenserfahrungen" (378) dar, die der Vf. mit Augustin als "Umfangenwerden des Menschen durch Gott" (379) bzw. als "Eingeborensein und Getragensein in Gott und Gottes Gegenwart im tiefsten Grund des Menschen" (380) beschreibt.

Die vorliegende Arbeit führt den Leser auf einem hohen Reflexionsniveau in die Thematik joh Immanenzsprache ein. Sie ist in jeder Hinsicht materialreich, kenntnisreich sowie theologisch kompetent geschrieben, bietet überzeugende Ergebnisse und dürfte als ein bedeutender Beitrag zur Johannesforschung zu bewerten sein. Dem Vf. gelingt es, die zentrale Dimension der Immanenzsprache für die urchristliche Glaubenserfahrung deutlich zu machen. Insofern kann man der Arbeit in großen Teilen zustimmen. Einige, freilich nur den Rand betreffende Anfragen an das Konzept des Vf.s sollen jedoch abschließend erlaubt sein.

1. Das Modell der sukzessiven Fort- und Umschreibung ist zwar in gegenwärtiger rezeptionstheoretischer Sicht durchaus hilfreich, lässt aber die Frage offen, ob die ersten Leser und Hörer im Corpus Johanneum die postulierten komplexen Beziehungen von Prä- und Folgetexten, von Basisaussagen und Fortschreibungen, Wiederaufnahmen und Variationen zwischen und in den Texten als literarische Produktion (z. T. verschiedener Hände) wahrnehmen konnten und sollten. 2. Im Unterschied zum Corpus des Evangeliums (und zum 1. Joh) bietet der Johannesprolog keine direkten personalen Immanenzaussagen, sondern nach Ausweis des Vf.s neben der nichtpersonalen Aussage von V. 4a nur "präformierende bzw. äquivalente Interpretamente" (193). Angesichts der Bedeutung, die der Vf. dem Prolog für die Erschließung der joh Immanenzsprache beimisst, ist dieser Befund zumindest auffällig. 3. Das Verhältnis zu den paulinischen Immanenzaussagen könnte angesichts der in der neueren Forschung angenommenen Nähe der joh Schule zum paulinischen Traditionsbereich doch enger als vom Vf. vorausgesetzt (1 f.) erörtert werden. Die Vermutung, dass die joh Immanenztheologie durch den paulinischen Traditionsstrom christlich vermittelt sein kann, hat für sich, dass die Hauptelemente der joh Immanenzsprache von der Einwohnung Jesu Christi (Röm 8,10; 2Kor 13,5; Gal 2,20; 4,19), der Glaubenden (Röm 8,1; 1Kor 1,30; 2Kor 5,17; Gal 1,22; 3,28; Phil 1,1; 1Thess 2,14 u. ö.) und des Geistes (Röm 8,9.11; 1Kor 3,16; 6,19) vorliegen. Johannes könnte die bei Paulus fehlende Reziprozität und die Ausdehnung der Immanenz über Christus auf den Vater in eigener Kompetenz ausgestaltet haben. 4. Die Interpretation der Immanenz als "Gottes Gegenwart im tiefsten Grund des Menschen" lässt das Problem der Andersartigkeit Gottes offen. Dass Gott sich von den Glaubenden in größter Nähe nicht nur asymmetrisch unterscheidet, sondern auch als der "ganz Andere" extra nos entzieht, wäre als eine Grunderfahrung des Glaubens eigens zu bedenken.