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Ausgabe:

Januar/2002

Spalte:

41–43

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Erlemann, Kurt

Titel/Untertitel:

Gleichnisauslegung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 1999. 320 S. 8 = UTB für Wissenschaft, 2093. Kart. ¬ 18,90.ISBN 3-8252-2093-1.

Rezensent:

Ulrich Mell

Die Kunst der menschlichen Sprache, mit Bildern innovativ Wirklichkeit zu vermitteln und zu erschließen, hat zu einem Reichtum verschiedener Sprachformen geführt, die auf je eigene Weise Verstehen kommunizieren. Was liegt da näher, als in einer Monographie die Fülle und Variation neutestamentlicher Gleichnistexte vorzustellen und einen Überblick über die "verwirrende Vielzahl der gleichnistheoretischen Ansätze" (9) zu geben. E. nutzt das Jubiläum von Adolf Jülichers Gleichnisbuch (Die Gleichnisreden Jesu, I2 + II 1899), um nach 100 Jahren moderner Gleichnisexegese im Bereich des NT ein "Lehr- und Arbeitsbuch" vorzulegen. Sein Ziel ist es, Gleichnisauslegung als "bildhaftes Plausibilisierungsgeschehen" (100, vgl. 115; 162 u. ö.) vorzustellen, und seine Absicht, "die verschiedenen Positionen" der Forschung weiterzudenken, um über "die Bereitstellung eines exegetischen Methodenarsenals" (51) "alte Polaritäten" "auf dem Weg zu einem neuen Konsens" "anzunähern" (9).

Das Buch ist dreiteilig, in Lehr- (11-170), Arbeits- (171-259) und Materialteil (261-302) angelegt. Während das Lehrbuch einen Forschungsüberblick gibt und in die Gleichnistheorie einführt, bespricht das Arbeitsbuch die Methodik der Gleichnisauslegung und schließt mit drei Musterexegesen. Sind schon im Arbeitsteil Fragen zur Weiterarbeit eingearbeitet (Lösungen: 213-217), stellt der Materialteil "außerbiblische Vergleichstexte" (9) zur eigenständigen Gleichnisauslegung bereit. Das didaktisch angelegte Buch schließt mit Glossar und Textstellenregister (ein Person- wie Sachregister fehlt) und führt zu einem "breit angelegten Literaturverzeichnis" (9), das zwar Hilfsmittelkunde betreibt, sich ansonsten aber auf die Verzeichnung erwähnter Literatur beschränkt. Der Clou des Buches liegt in sechs "Anfragen", die über den Abschnitt zur gleichnistheoretischen Begründung (53-170) gestreut sind. In ihnen und in einigen Thesen (169-171) versucht E. die Forschung mit eigenen Einsichten voranzubringen.

Wenn ein Arbeitsbuch unmöglich alle Literatur zu den neutestamentlichen Gleichnissen nennen kann, sollte es jedoch auf Bibliographien zu den Gleichnissen und auf Klassiker der nationalen wie internationalen Gleichnisexegese aufmerksam machen. Anderenfalls ist der Eindruck nicht abweisbar, dass Literatur entsprechend dem subjektiven Ermessen vorgestellt wird. Für den Materialteil wäre wünschenswert gewesen, dass er neben Gleichnisbeispielen (288-302) auch die antiken theoretischen Texte zum Gleichnisverstehen repräsentativ aufgeführt hätte.

Die vorwiegend numerische Gliederungssystematik des Buches verführt nicht zur Benutzung als Lehrbuch. Störend machen sich Trennungsfehler bemerkbar. Verschwiegen wird, warum sich in der Hauptsache mit synoptischen Gleichnistexten beschäftigt wird. Einen guten Überblick vermitteln die häufigen Zusammenfassungen und Definitionen sowie einige Tabellen.

Die Darstellung der Forschungsgeschichte (11-52) nennt die in der neutestamentlichen Exegese wirksam gewordenen Zugänge. Sie geht aus von Jülichers antiallegorischem Gleichnisverstehen und beschreibt ausführlich den religionsgeschichtlichen, historisierenden, hermeneutischen und literaturwissenschaftlichen Ansatz. Mit der Berufung auf H.-J. Klauck meint E. aus der Forschungsgeschichte die Tendenz zur "Rehabilitierung der Allegorie" (45) zu erkennen.

Der gleichnistheoretische Teil (53-170) will "eine seriöse Gleichnistheorie" als einen "integrativen Ansatz" (53) entfalten. Mit der Definition: "Gleichnisse sind rhetorische Formen, die die Verständigung über ihre ,Sache' mit bildhafter, metaphorischer Sprache zu erreichen suchen" (58), versucht E. die gegensätzliche Zuordnung von Gleichnissen entweder zur Rhetorik oder zur Poetik zu überwinden. In der Synthese werden "historisierende Überlegungen mit textstrukturalen Ansätzen ins Verhältnis gesetzt" (60).

Als Basis der Gleichnisexegese bestimmt E. alle neutestamentlichen Texte, die "auf einen Vergleich zweier Wirklichkeitsbereiche hin angelegt sind" (62 f., vgl. 169). Er unterscheidet gattungskritisch längere Gleichnisdiskurse von Exempel, Vergleich, Metapher, Bildwort, besprechenden und erzählenden Gleichnissen sowie Beispielerzählungen. Entscheidend ist für E., dass eine Allegorie "keine Bezeichnung für eine literarische Gattung" sei, sondern ein "Verstehenssignal für die Mehrsinnigkeit eines Textes". Folglich sind "in diesem Sinn ... alle Gleichnisse ,Allegorien'" (91, vgl. 169). Die methodische Konsequenz daraus lautet für E., "Jülichers Postulat des einen tertium comparationis aufzugeben" (93). Um aber nicht in den Fehler willkürlicher Allegorese von Gleichnistexten auf mehrere "tertia comparationis" (169 u. ö.) zu verfallen, will E. über die Bestimmung der religiösen Sache eines Gleichnisses, seiner konventionalisierten Bildfelder sowie seines Erzählgefälles und seiner Erzählstrategie vermeiden, dass "Teilvorgänge (des Vergleichens, des Illustrierens, der Mitteilung, der Entdeckung von Analogien usw.) zum Tragen" kommen. Ziel der Gleichnishermeneutik ist ein "Gesamtvorgang, der auf die Akzeptanz bestimmter Sachverhalte, umstrittener Inhalte, unkonventioneller Sichtweisen und empfohlener Verhaltensweisen ausgerichtet ist" (100).

Die Unersetzbarkeit von Gleichnissen mit ihrer die Erfahrungsgrenze sprachlich überschreitenden Sicht bleibe dann gewahrt, wenn der neue Text der Auslegung "den Gehalt des Gleichnisses mehr oder weniger unzureichend [E. meint: zureichend] umschreibe" (139).

E.s Entwurf einer kontrollierten Neo-Allegoristik bezieht sich ausdrücklich "auf die schriftlich fixierten Gleichnisse der Evangelien" (151). Die Rekonstruktion von den den Evangelientexten vorausliegenden Gleichnistraditionen Jesu wird als "Postulat eines ,Idealtyps'" (152) einer "allegoriefreien Rede Jesu" abgelehnt (93, vgl. 152-154). Wenn die urchristlichen Evangelien "eigene geschichtliche Erfahrungen aktualisierend in" Jesu Gleichnisse eintragen (153), nehmen sie "eine adäquate Anwendung der überkommenen Gleichnisbotschaft" Jesu vor (154). Die Folge dieser ungeschichtlichen Kontinuitätsthese ist, dass der Inhalt der Gleichnisse, der "die Substanz christlichen Lebens" mitteilt - "die innere Einheit der Gemeinschaft ebenso wie die Verhältnisbestimmung zu den nichtchristlichen Mitmenschen, den Kern christlicher Identität ... ebenso wie die missionarische Hinwendung zur Welt" (149 f.) - von E. auf den historischen Jesus zurückgeführt wird.

Die Ablehnung von quellenkritischer, formkritischer und literarkritischer Arbeit an den synoptischen Evangelientexten geht für E. einher mit der Bevorzugung des sog. redaktionskritischen Ansatzes zur Gleichnisauslegung (vgl. 40) des zu den "Hamburger Freunden" (10) zählenden G. Sellin (vgl. 198, Anm. 2). Das aber hat zur Folge: Während Jülicher mit einem methodischen Gesamtzugang zu den Evangelien zwischen der mündlichen Gleichnisverkündigung Jesu und derjenigen der schriftlichen Allegorien der Evangelisten unterscheiden konnte, ist mit der Endtextexegese von E. der Status quo ante Jülicher (wieder) erreicht.

Wie problematisch das Vorgehen der Allegorienexegese von E. in textanalytischer Hinsicht ist, lässt sich an der als "Musterexegese" vorgestellten Interpretation des Gleichnisses "Von der verlorenen Drachme" (Lk 15,8-10) zeigen (219-228): E. behauptet, dass zwischen dem Gleichnis (V. 8 f.) und der "Anwendung" (V. 10) "keinerlei Anzeichen von Inkohärenz" (220, vgl. 224) bestehen. Die Begriffe des Gleichnisses: verlieren, suchen und finden, seien gemäß der Anwendung "metaphorisch zu verstehen: Es geht um das Handeln Gottes am einzelnen Sünder, der ,verloren geht', von Gott ,gesucht' wird und sich schließlich bekehrt" (221).

Diese allegorische Ausdeutung von Frau und Drachme auf Gott und den Sünder unterschlägt u. a. die Schwierigkeit, dass der Vergleichssatz von einem "umkehrwilligen Sünder" spricht, die Drachme des Gleichnisses dagegen als toter Gegenstand bewegungsunfähig ist. Die literarkritische Überlegung, dass Lukas mit den V. 7.10 ursprünglich selbständige Jesusgleichnisse über die Freude der Gottesherrschaft (zu V. 4 f. vgl. Mt 18,12f. = Q) auf das ekklesiologische Problem der Tischgemeinschaft von Gerechten und Sündern zu beziehen versucht (vgl. V. 1-3), kommt für E. durch Vernachlässigung des Textes (V. 10 fin.) nicht in den Blick.

Summa: Einer neutestamentlichen Gleichnisexegese, die sich auf hohem methodenkritischen und geschichtstheologischen Niveau um die Klärung der Jesusverkündigung wie die Verkündigung der Evangelisten auf der Basis der historisch-kritischen Analyse der Evangelientexte bemüht, ist das als "Lehr- und Arbeitsbuch" zur Gleichnisexegese sich vorstellende Buch des Klaus-Berger-Schülers nicht zu empfehlen.

Die Durchführung des Programms von Jülicher, ursprüngliche Jesus-Metaphern von späteren Gemeinde-Allegorien und -Allegoresen zu unterscheiden, ohne aber die Unzulänglichkeiten von Jülichers Gleichnisexegese in ihrer Reduktion auf Satzwahrheiten zu wiederholen, bleibt ein dringendes Desiderat der neutestamentlichen Gleichnisauslegung wie eine Aufgabe der Gleichnisforschung im 21. Jahrhundert.