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Ausgabe:

Januar/2002

Spalte:

39–41

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Veijola, Timo

Titel/Untertitel:

Moses Erben. Studien zum Dekalog, zum Deuteronomismus und zum Schriftgelehrtentum.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2000. 284 S. gr.8 = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 8. Folge 9. Kart. ¬ 35,30. ISBN 3-17-016698-0.

Rezensent:

Christoph Levin

Zehn Jahre nach "David" (1990) legt der renommierte Deuteronomismus-Forscher einen zweiten Band gesammelter Studien vor. Sie sind in der Mehrzahl aus der laufenden Arbeit an einem Deuteronomium-Kommentar (ATD) hervorgegangen, den man nach der Lektüre mit um so größerer Vorfreude erwartet. Die älteren Aufsätze wurden geringfügig überarbeitet. Gelegentlich wurde auf die jüngste Literatur Bezug genommen. Man sollte deshalb fortan nach dem Wiederabdruck zitieren. Literaturverzeichnis sowie Stellen- und Sachregister sind beigegeben.

Ein forschungsgeschichtlicher Beitrag macht den Anfang: "Martin Noths ,Überlieferungsgeschichtliche Studien' und die Theologie des Alten Testaments" (11-28). Erst durch Noth "erhielt das DtrG einen eigenständigen Platz in der alttestamentlichen Theologie". Starkes Echo fand besonders seine Deutung, "das DtrG sei nach 587 als theologische Erklärung dieser Katastrophe entstanden" (26).

Drei Studien sind dem Dekalog gewidmet. Die erste, "Der Dekalog bei Luther und in der heutigen Wissenschaft" (29-47), stellt der Auslegung Luthers die Ergebnisse der historischen Exegese gegenüber. Die zentrale Stellung, die der Dekalog bei Luther einnimmt, ist auch exegetisch begründbar. Das gilt für die Deutung als "lex naturae" ebenso wie für das Gewicht des Ersten Gebots. Sogar die Anwendung auf den Hausvater, der die Gebote "seinem Gesinde einfältiglich furhalten soll", stimmt mit der Herkunft des apodiktischen Rechts aus dem Sippenethos überein. Die Studie: "Das dritte Gebot (Namenverbot) im Lichte einer ägyptischen Parallele" (48-60) weist anhand des Bittgebets des Nefer'abu aus Der el-Medina aus der 19. Dynastie nach, dass die traditionelle jüdische Auffassung, das Gebot verbiete den Meineid, die zutreffende ist. In "Die Propheten und das Alter des Sabbatgebots" (61-75) überprüft Veijola an den prophetischen Büchern die These, der Sabbat sei in vorexilischer Zeit wie der babylonische sapattum der Vollmondtag gewesen. Ergebnis: Alle Erwähnungen, die den Ruhetag-Sabbat im Sinne des Dekalogs voraussetzen, sind spät (auch Am 8,5!).

Im Mittelpunkt der Beiträge zum Deuteronomium steht die "Bundestheologische Redaktion". Den besten Einstieg bietet der Aufsatz S. 153-175, der sie zum direkten Gegenstand hat. Die Entdeckung, dass die Ausrichtung der Gesetze auf das Gottesverhältnis "ein relativ spätes Stadium in der Redaktionsgeschichte des Deuteronomiums vertritt" (164), ist für die künftige Dtn-Exegese fundamental. V. schreibt sie einer Redaktion "DtrB" zu. Diese setzt große Teile der dtn. Paränese sowie die Historisierung des Gesetzes im Rahmen des dtr. Geschichtswerks voraus. DtrB orientiert sich am Schema des Bundesformulars und rückt den Gehorsam unter die Bedingung von Segen und Fluch. Art und Reichweite der Bearbeitung ergeben sich aus Analysen von Dtn 7 und Dtn 15. Darüber hinaus nennt V. eine große Zahl weiterer Belege.

Ein gutes Beispiel für die im Kommentar zu erwartende Analyse bietet der Aufsatz ",Der Mensch lebt nicht vom Brot allein'. Zur literarischen Schichtung und theologischen Aussage von Deuteronomium 8" (94-108). Die Paränese von Dtn 8 ist in vier Stufen gewachsen. Unter ihnen ist DtrB die dritte. "Ihr hervorstechendes theologisches Interesse liegt in der Betonung der Gesetzeserfüllung als Bedingung der Inbesitznahme des Landes" (101). In Dtn 13 stammt bereits der Kern von DtrB ("Wahrheit und Intoleranz nach Deuteronomium 13", 109-130). Das Kapitel bildet einen nachträglichen Anhang zu Dtn 12, der auf der Pseudoprophetenpolemik des Jeremiabuchs beruht, welche im Rahmen des Gesetzes eine Form annahm, die aus hethitischen, neuassyrischen und aramäischen Staatsverträgen und Treueiden bekannt ist. Die Abhängigkeit vom Jeremiabuch schließt eine Frühdatierung ins 7. Jh. aus. "Die Tradition der Vertragskonventionen ist bekanntlich zählebig" (127).

Das "unüberbietbare Paradigma der Hermeneutik des Gesetzes" ist das Schema'. Ihm gilt die Studie "Das Bekenntnis Israels. Beobachtungen zu Geschichte und Aussage von Dtn 6,4-9" (76-93). Bei der Frage, wie Dtn 6,4 zu übersetzen sei, favorisiert V. die Lösung: "Jahwe ist unser Gott, Jahwe ist einzig". Beide Sätze sieht er in engem Zusammenhang: "Jahwe ist unser einziger Gott" (82-87). Das Gebot der Gottesliebe V. 5 ist erst später hinzugetreten: "Neben das Grunddogma trat die Grundnorm" (92). Wieder sei DtrB am Werk gewesen. Dass die Entwicklung des Deuteronomiums mit dem Deuteronomismus nicht abgeschlossen war, zeigt "Die Geschichte des Pesachfestes im Lichte von Deuteronomium 16,1-8" (131-152). Die Vorschrift geht auf den dtn. Verfasser zurück, der die Anweisungen des Bundesbuches über das Mazzotfest (Ex 23,14-17.19) auf das Pesachfest bezog, das er an die zentrale Kultstätte band. Der Umstand, dass die beiden Feste sich im Ursprung unterscheiden, führte zu vorpriesterschriftlichen, priesterlichen und nachpriesterlichen Bearbeitungen.

Die literar- und formgeschichtliche Studie von 1983 "Das Klagegebet in Literatur und Leben der Exilsgeneration am Beispiel einiger Prosatexte" (176-191) gibt anhand der drei Klagen Jos 7,6-9; Ri 6,13 und 1Sam 23,10-11a, die alle erst von der dtr. Redaktion in den Zusammenhang eingestellt worden sind, einen erhellenden Einblick in die geistige Situation der Exilszeit.

Die abschließende Studie "Die Deuteronomisten als Vorgänger der Schriftgelehrten" (192-240) war bisher unveröffentlicht. Noch nie ist so klar gezeigt worden, was doch auf der Hand liegt, seit wir wissen, dass das Alte Testament zur größeren Hälfte das Buch des beginnenden Judentums ist, dass zwischen den biblischen Redaktoren und der Schriftgelehrsamkeit der Rabbinen ein unmittelbarer wirkungsgeschichtlicher Zusammenhang besteht. Er gilt besonders für jenen Zweig der nachexilischen Theologie, der sich im engeren Sinne dem Studium der Tora verschrieben hat: für den nomistischen Deuteronomismus. Er firmiert bei V. nach wie vor unter dem Siglum "DtrN" - wobei indes der Textbefund dafür sorgt, dass sich die redaktionsgeschichtliche Größe zu einem tendenzkritischen Sammelbegriff weitet.

Bereits die späten Deuteronomisten haben die doppelte Aufgabe, die später die Rabbinen wahrnehmen: Sie sind Schriftgelehrte und Juristen. Aus diesem Grund erfährt das Richteramt bei ihnen besondere Wertschätzung. In 1Kön 3 bestimmt DtrN die Weisheit Salomos näher als richterliche Weisheit (194-196); in Dtn 1,9-18 werden noch vor der Promulgation des Gesetzes "weise und sachkundige Männer" als Gemeindevorsteher eingesetzt, die ebensogut das Selbstverständnis der Deuteronomisten verkörpern, wie sie die Vorläufer der schriftgelehrten Autoritäten der tannaitischen Periode sind (196-200). Der halachische und haggadische Charakter der innerbiblischen Schriftauslegung nimmt die Methoden der rabbinischen Exegese voraus (206). Mose gilt nach Dtn 1,5 als der erste einer langen Kette von Auslegern der Tora. Die prophetische Sukzession nach Dtn 18,15-22 setzt sich nach dem Ende der Prophetie fort in den Schriftgelehrten (215-219).

Als das Urbild des Schriftgelehrten gilt traditionell Esra (224-236). Zu seinen Aufgaben gehört nach Esr 7,25, ganz im Sinne von Dtn 1,9-18, die Bestallung von Richtern und Rechtsgelehrten. Die Mischehenfrage wird unter ausdrücklichem Bezug auf Dtn 7,3 (DtrN) angegangen. So liegt es nahe, Esra in der Nähe des Deuteronomismus zu sehen. Um das historisch möglich zu machen, neigt V. zur Frühdatierung (Ankunft in Jerusalem 458 v. Chr.) und erwägt, den späten Deuteronomismus ins babylonische Exil zu verlegen (237).

Die These hat den großen Vorzug der Geradlinigkeit; nur stellt sich die Frage, ob sie nicht, wenn auch vielleicht zum Schaden der Stringenz, ergänzt werden sollte. Gewiss hat die torabezogene Schriftgelehrsamkeit ihren Ursprung in der innerbiblischen Auslegung des Deuteronomiums. Aber sie umfasst schließlich das gesamte nachexilische Schriftenkorpus des Alten Testaments und ist insofern kein rein dtr. Phänomen - solange der Begriff "Deuteronomismus" spezifisch bleibt. Besonders sind die Priesterschrift und ihre Supplemente zu nennen, aber auch die prophetischen Bücher. Im Falle der Bücher Esra und Nehemia stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der spätdtr. zur chronistischen Theologie (vgl. 238, Anm. 292). Es mag sein, dass von daher auch die Frage nach dem historischen Esra und nach dem geographischen Ort des späten Deuteronomismus noch einmal in anderem Licht erscheint.

Die Sammlung ist sowohl im zuverlässig gearbeiteten Detail als auch in den großen Linien und der Kraft zur theologischen Synthese ein eindrucksvolles Zeugnis fruchtbarer exegetischer Arbeit. Für die weitere Erforschung des Deuteronomismus ist sie schlechthin grundlegend.