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Ausgabe:

Januar/2002

Spalte:

30–33

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Seebass, Horst

Titel/Untertitel:

Genesis.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1996/97/99/2000. 8. I: Urgeschichte (1,1-11,26). VIII, 292 S. Kart. ¬ 39,90. ISBN 3-7887-1517-0. II,1 u. 2: Vätergeschichte I u. II (11,27-36,43). XV, 474 S. Kart. ¬ 29,90 u. 34,00. ISBN 3-7887-1526-X u. 3-7887-1583-9. III: Josephsgeschichte (37,1-50,26). VIII, 239 S. Kart. ¬ 34,00. ISBN 3-7887-1584-7.

Rezensent:

Jan Christian Gertz

Einen Genesis-Kommentar zu schreiben, gleicht einer Fahrt in zwar bekannte, für ihre Untiefen gleichwohl gefürchtete Gewässer: Weit mehr als bei allen anderen Büchern des AT ist mit einem Genesis-Kommentar von vornherein eine größere, über die engeren Fachgrenzen hinausgehende Öffentlichkeit angesprochen, die eine aktuelle, den Gang und die Resultate der Forschung zusammenfassende und aus sich selbst heraus verständliche Darstellung wünscht. Die Kommentatoren sehen sich hingegen nicht nur mit einer ungeheuren Flut an einschlägigen Veröffentlichungen konfrontiert, sie haben es zudem mit einer Forschungssituation zu tun, in der auf Grund eines schwindenden Konsenses beinahe jede Aussage eine immense Begründungsleistung verlangt. Hinzu kommt, dass das Schreiben eines Kommentars dazu zwingt, das Ganze in den Blick zu nehmen, und die Konzentration auf solche Texte verwehrt, die eigenen Vorstellungen über die Literatur des Alten Testaments und ihrer Entstehung besonders günstig erscheinen. Soviel vorweg, um deutlich zu machen, in welchem Rahmen der Genesis-Kommentar von Horst Seebass zu würdigen ist, der, ursprünglich für den KAT vorgesehen, nach beinahe drei Jahrzehnten Arbeit abgeschlossen vorliegt.

Die vier Teilbände, die es zusammen auf immerhin gut 1000 Seiten bringen, werden mit einer wohl proportionierten Einleitung eröffnet, die über "Absicht und Verfahren des Kommentars" (I/9-13) informiert, einen von K. Grünwaldt verfassten "Abriß der Forschungsgeschichte zur Genesis" (I/14-32) enthält und für die "Quellenkritik als Erklärungsmodell" (I/32-35) plädiert, um dann einen Überblick über die "Formen der Überlieferung" (I/36-47) zu geben und "Kontext und Gliederung der Genesis" (I/47-53) darzustellen. Die Josephsgeschichte (im Unterschied zum Buchtitel als "Israel-Joseph-Geschichte" bezeichnet) hat darüber hinaus eine eigene, vorwiegend forschungsgeschichtlich orientierte Einführung (III/1-12).

Die Kommentierung weiß sich dem vor allem von B. S. Childs propagierten "canonical approach" verpflichtet und setzt folglich konsequent mit der Auslegung des uns vorliegenden Endtextes ein, während Überlegungen zur Textentstehung nachgeordnet sind. Hieraus ergibt sich dann auch die Anlage der abschnittsweise vorgehenden Kommentierung in Übersetzung, Textkritik, Abgrenzung der Texteinheit, Form (gemeint sind Struktur und Aufbau des Endtextes des jeweiligen Abschnitts), Erklärung (nach Sinneinheiten, die zum Teil mit eigenen Überschriften versehen sind) und Überlieferungsgeschichte (hier werden die im weiteren Sinne literarhistorischen Fragen der Textgenese verhandelt). Den Abschluss bildet jeweils eine theologische Würdigung, die sich um eine aktualisierende, biblisch-theologische Orientierung durch die als Teil der christlichen Bibel gelesene Genesis bemüht (vgl. I/13). Dem gewählten Verfahren entspricht ferner, dass Ausführungen zur Gliederung des Endtextes jeweils die Auslegung des "Abraham-Zyklus" (11,27-32; 12,1-15,21; 15,1-22,19; 22,20-25,6; 25,7-11), des "Isaak-Zyklus" (25,19-28,22; 29,1-32,3; 32,4-33,20; 34,1-35,29 rahmende Zwischenstücke in 25,11-18; 36,1-43) und des "Jakob/Israel-Zyklus" (37,1-38,30; 39,1-41,57; 42,1-45,28; 46,1-50,14) eröffnen, während erst am Ende des letzten Bandes über die wichtigen und besonders kontrovers diskutierten entstehungsgeschichtlichen Fragestellungen zur Komposition der "Israel-Joseph-Geschichte" (III/209-219), der Überlieferungsgeschichte der Erzvätertraditionen (III/219-233) und der Verheißungen an die Erzväter (III/233-239) ausführlicher Rechenschaft abgelegt wird. In die Kommentierung eingebunden sind schließlich Exkurse, vor allem zum religionsgeschichtlichen Vergleich: die Wendung "eine Lippe" in 11,6 (I/280-282); H. Gunkels (Genesis, HK I/1, Göttingen 91977, 199 f.) Erklärung von Gen 18 (II/125 f.); Menschenopfer im Alten Orient und im AT (II/205-207, von K. Engelken) oder ägyptische Namen (III/71 f.) u. v. m.

Einzelheiten der Kommentierung können hier natürlich nicht ausführlich vorgestellt werden. So muss der Hinweis auf den beträchtlichen argumentativen Aufwand genügen, mit dem nicht zuletzt die umfangreiche Diskussion der Forschung aufgearbeitet wird, und zwar - ungeachtet des spürbaren Engagements des Vf.s - weitgehend erfreulich unpolemisch. Zuweilen mag man allerdings bezweifeln, ob die notwendig gedrängte Darstellung für die Nicht-Fachleute unter den Benutzern des Kommentars noch ohne weiteres verständlich ist. Doch ist dies vermutlich der notwendige Tribut an die Seitenvorgaben des Verlags, eine sehr ausdifferenzierte Forschungssituation und höchst unterschiedliche Leseerwartungen. Einzelheiten der sehr um Wörtlichkeit bemühten Übersetzung, wie "Dies ist der Moment! Bein von meinen Gebeinen / und Fleisch von meinem Fleisch! Dieser soll 'woman' zugerufen werden / denn von 'man' wurde diese genommen" (2,23) und "der Schlang" (3,1), weil nahas masc. ist, sind hingegen wohl Geschmackssache.

Der Analyse des Textes liegt eine modifizierte Gestalt der Urkundenhypothese zu Grunde, die wacker am "Elohisten" festhält, den "Jahwisten" im Vergleich mit der klassischen Ausprägung des gewählten Modells jedoch relativ spät datiert, und zwar in das frühe 8. Jh. v. Chr., und die in Anlehnung an M. Noth mit einer beiden Quellenschriften vorausliegenden Grundschrift aus dem 10. Jh. v. Chr. rechnet, die sich allerdings wegen der Lückenhaftigkeit des "Elohisten" nicht mehr rekonstruieren lasse (I/39 f.). Da sich der Vf. andernorts ausführlich zur Diskussion um die Entstehung des Pentateuch geäußert hat, verzichtet er mit gutem Grund auf eine Wiederholung der Diskussion, statt dessen vertraut er auf eine gewisse Selbstevidenz des gewählten Modells: Die Auslegung soll die Erklärungsleistung der Urkundenhypothese bei einer vergleichsweise geringen Hypothetik (mit der eingestandenen Ausnahme der Josephsgeschichte; vgl. I/13, III/209-219) unter Beweis stellen.

Da der Vf. an diesem Punkt selbst nicht mit einer ungeteilten Zustimmung rechnet, seien hier einige Rückfragen gestattet: Ich gestehe frank und frei, dass es mir nicht einleuchtet, worin ein Weniger an Hypothetik liegt, wenn neben der Priesterschrift mit zwei zu rekonstruierenden Quellenschriften, dem "Jahwisten" und dem lückenhaften "Elohisten" gerechnet wird, statt zunächst nur mit einer - wie auch immer zu benennenden- nichtpriesterschriftlichen Größe. Dass der nichtpriesterschriftliche Text nicht aus einem Guss ist, wird kaum jemand ernsthaft bezweifeln können, doch zunächst ist es dieser Text, der der Analyse bedarf, zumal dann, wenn man vom vorgegebenen Sicheren zum Unsicheren voranschreiten will. An dieser Stelle ist es dann sehr unbefriedigend, wenn der Vf. in der Einleitung und im Vollzug der Kommentierung den vor- und zugleich nichtpriesterschriftlichen Textbestand, in der Terminologie der Urkundenhypothese den "Jehowist", nicht als "Hypothese", sondern als einen "der Erklärung bedürftigen Bestand" bezeichnet und eine solche Erklärung ausbleibt (I/34). Dass aber die Aufteilung des vor- und zugleich nichtpriesterschriftlichen Textes auf zwei Quellenschriften unter der Hilfsannahme einer nicht mehr rekonstruierbaren, gleichwohl wahrscheinlichen gemeinsamen Vorlage G weniger hypothesenfreudig ist als eine redaktionsgeschichtlich argumentierende Ergänzungshypothese, bleibt bloßes Postulat (I/34 u. ö.). Was die Verifizierung der Urkundenhypothese durch die Auslegung betrifft, so stellt sich schnell eine gewisse Ernüchterung ein, insofern das Profil der Quellenschriften jenseits der durch die einzelnen Abschnitte gesetzten Grenzen undeutlich bleibt. Zusammenfassende Darstellungen etwa zur "Jahwistischen Urgeschichte" fehlen leider - abgesehen davon, dass durch derartige Betrachtungen jede theologische Würdigung der biblischen Texte an Tiefe gewönne. Größere Zustimmung dürften hingegen die Ausführungen zur "Form der Überlieferung" finden, die im Anschluss an die Untersuchungen P. Kirkpatriks zur Volksüberlieferung (The Old Testament and Folklore Study, JSOT.S 62, Sheffield 1988) zu Gunsten des "relativ vagen Terminus ,Erzählung' (narrative)" (I/38) auf eine Unterscheidung verschiedener Erzählgattungen in der Genesis verzichten und zu Recht feststellen, dass es "nicht angeht, wirkliche Erzählungen in ihre Motive aufzulösen, als seien diese so etwas wie die Urerzählung" (I/39).

Für die Zurückhaltung, das Profil der angenommenen Quellenschriften stärker herauszustellen, gibt es vorderhand freilich gute Gründe, nämlich das Beharren auf einer Auslegung, die der Endgestalt der einzelnen Perikopen eine ausführliche theologische Würdigung zukommen lässt. Die Komposition der uns vorliegenden Textgestalt kommt - sieht man von einigen Notizen zum "canonical shape" einzelner Kapitel ab - dagegen ganz überwiegend nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Gliederung in den Blick, sowohl für das Pentateuchganze als auch für das Buch Genesis nach der Büchertrennung. Für das Pentateuchganze schlägt der Vf. eine Zweiteilung mit beachtlichem Achtergewicht vor: Die Urgeschichte in Gen 1,1-11,26 und die in sieben Abschnitte gegliederte Geschichte von Gottes Berufung und Konstitution seines Volkes in Gen 11,27-Dtn 34,12 (I/48-50). Natürlich wären hier auch andere Gliederungen denkbar, etwa eine Anordnung um das sinaitische Gesetz oder eine Einbeziehung der vorderen Propheten, doch ist Eindeutigkeit schon auf Grund der komplizierten literarischen Genese kaum je zu erwarten und wegen der Vielstimmigkeit der alttestamentlichen Texte wohl auch nicht zu wünschen. Schade ist freilich, dass die Großkomposition(en) und die Redaktionen, die auf die Herstellung ihres jeweiligen Endtextes bis hin zu dem uns vorliegenden Buch Genesis sehr viel Mühe und Arbeit verwendet haben, weder literatur- noch theologiegeschichtlich genauer eingeordnet werden. Doch werden darin nur diejenigen eine deutliche Kritik sehen, die nicht um die Schwierigkeiten wissen, die notwendige wie mühevolle Verbindung von einer am Endtext orientierten Auslegung und der Frage nach der Genese des Textes in einem Kommentar zu leisten.