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Ausgabe:

Januar/2002

Spalte:

27–30

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Millard, Alan R.

Titel/Untertitel:

(1) Reading and Writing in the Time of Jesus.

(2) Pergament und Papyrus, Tafeln und Ton. Lesen und Schreiben zur Zeit Jesu.

Verlag:

(1) Sheffield: Sheffield Academic Press 2000. 288 S. m. Abb. gr.8 = The Biblical Seminar, 69. Kart. £ 15.95. ISBN 1-84127-070-9.

(2) Gießen-Basel: Brunnen 2000, 256 S. m. Abb. 8 = Biblische Archäologie und Zeitgeschichte, 9. Kart. ¬ 19,90. ISBN 3-7655-9809-7.

Rezensent:

Silvia Pellegrini

Die faszinierende Welt des Lesens und Schreibens im 1. Jh. n.Chr. entfaltet sich plastisch und lebendig vor dem Leser dieses gelungenen Buches. Mit souveräner Kompetenz, einfacher Sprache und anschaulicher Darstellung beherrscht der Autor eine Materie, die auf Grund ihres Umfangs, ihres ständigen Anwachsens, ihrer interdisziplinären Verknüpfungen und ihrer übergreifenden Kompetenz von nur noch wenigen Spezialisten dominiert wird. Alan Millard, Professor für Hebräisch und altsemitische Sprachen an der Universität von Liverpool und seit mehr als 20 Jahren Forscher auf dem Gebiet der Geschichte und Kultur des alten Nahen Ostens, hat der Frage des Lesens und Schreibens im 1. Jh. n. Chr. schon mehrere Veröffentlichungen gewidmet - u. a. die Bücher "Discoveries from the Time of Jesus", Oxford: Lion Publishing 1990 und "Discoveries from Bible Times", Oxford: Lion Publishing 1997. Dort kam die Sammlung des Materials und die Zusammenführung der einzelnen Fragestellungen zustande, hier nun in "Reading and Writing in the Time of Jesus" stellt M. das Gesamtergebnis seiner jahrelangen Forschung in abgerundeter und kompakter Form vor.

Das Buch gliedert sich in acht Kapitel.

Kap. 1 präsentiert die verschiedenen Materialien zur Schreib- und Lesekunst, führt den Leser in die Schriftwelt des 1. Jh.s n. Chr. ein und beschreibt das Schicksal der Bücher und ihr seltenes Überleben. Die Welt des Schreibens wird nicht in trockene Zahlen, abstrakte Konzepte und Lehrformeln gefasst, sondern anschaulich anhand von Erzählungen, Bildern, auserlesenen Zitaten und Beispielen vor das Auge des Lesers gestellt. In der Darstellung werden die griechische und die lateinische Welt stets parallel berücksichtigt (z. B. 28 f., wo zuerst die griechische, danach die lateinische Terminologie erklärt wird; ähnlich 21 u. a.). Eine minutiöse Beschreibung der realia - der Werkzeuge, Materialien, Situationen, Bedeutungsinhalte und archäologischen oder literarischen Funde - und eine persönlich geprägte Auswahl der Standardinformationen (vgl. z. B. M.s Präsentierung des Kodexes a auf 43 f. mit der von K. Aland/B. Aland, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart 1981, 21.117) sind Grundmerkmale dieses Kapitels wie des ganzen Buches. Wiederholt betont M. die besondere Situation der Forschung an den erhaltenen Papyri und frühchristlichen Handschriften, die nur einen winzigen Teil des damals existierenden Materials darstellen. Dies gehört unverzichtbar zum hermeneutischen Hintergrund für eine sachgerechte Auswertung des überlieferten Materials: Wenn sich auf Grund des Fehlens von Evangelienfragmenten eine "Lücke" von ca. 40 Jahren herausstellte (vgl. 52), so sei daran nichts verwunderlich, sondern im Gegenteil wäre eher ein in diese Lücke zu datierender Fund die Überraschung!

Vor diesem Hintergrund beschreibt Kap. 2 die Kategorien der erhaltenen Papyri und Handschriften. Dabei werden ständig Verknüpfungen zwischen biblischer und extrabiblischer Welt aufgezeigt (beispielhaft auf S. 63 zu 2Tim 4,13 die interessante Erklärung für tas membranas, die von Kommentaren bisher kaum berücksichtigte extrabiblische Stellen einbezieht). Diese Verflechtung von klassischen und biblischen Echos und Querverweisen steht nicht im Dienste einer besonderen These oder Einzelexegese, sondern sie vermittelt dem Leser einen realistischen, neutralen Blick auf die damalige Welt des Schreibens, wie sie heute nur in den Augen eines Spezialisten erscheinen kann. M. beweist ein unabhängiges Kritikvermögen: anerkannte Prinzipien des wissenschaftlichen Paradigmas geraten unter seiner scharfen Kritik ins Wanken (so stellt er z. B. - und m. E. mit Recht - das Prinzip in Frage, dass einer Früherdatierung eine größere Glaubwürdigkeit der Erzählung entspreche, 53). Andererseits teilt er konsensfähige, ja sogar konservative Meinungen (mit der Mehrheit der Biblisten, und aus den paläographischen Einwänden Boismards destruiert er C. P. Thiedes Thesen zum Magdalen-Papyrus, vgl. 57; aber bei der Spätdatierung von Handschriften folgt er lieber Turner gegen die moderneren neutestamentlichen Textkritiker: vgl. 48).

Kap. 3 diskutiert den Übergang von der Schriftrolle über das Pergamentheft zum Pergamentbuch (= Kodex), das wahrscheinlich im 1. Jh. n.Chr. in Rom erfunden wurde, und die besonderen Merkmale christlicher Bücher, die sich - in ihrer äußeren Form - als nicht-literarische Werke präsentieren.

Kap. 4 "möchte einen Eindruck von dem beschrifteten Material vermitteln, das aus dieser Zeit in den damals in Palästina geläufigen Sprachen- Aramäisch, Griechisch, Hebräisch und Lateinisch - überdauert hat" (81; Englisch: 84 f.). Es zeigt sich, dass die Mitanwesenheit der Sprachen im täglichen Leben eine größere Rolle spielte, als es von der Forschung meist wahrgenommen wurde (vgl. 131; vgl. auch 138).

Kap. 5 zieht aus dem Ergebnis von Kap. 4 die Konsequenz, dass das herodianische Palästina eine mehrsprachige Gesellschaft war, und wendet diesen Schluss spezifisch auf die Rekonstruktion des historischen Jesus an: "Es besteht durchaus die Möglichkeit, daß Jesus Griechisch verstand und gelegentlich benutzte" (146; Englisch: 147). Dennoch "gibt es keine Möglichkeit festzustellen, ob wir in den Evangelien das lesen, was als seine ureigenen Worte in dem von ihm gesprochenen Griechisch wiedergegeben wird" (146; Englisch: 147).

Kap. 6 widerlegt die inzwischen anerkannte These von W. V. Harris, dass der Anteil der alphabetisierten Bevölkerung weniger als 30 % der freigeborenen Männer betrug (vgl. 154 f.). Im Gegenteil beweise das gefundene Schriftmaterial, dass ein weit höherer Prozentsatz der Bevölkerung schreiben und/oder lesen konnte. Unter diesem Belegmaterial erregte besonders die "Kurzschrift" die Aufmerksamkeit der Forschung, denn sie unterstützt die Möglichkeit, dass jemand aus dem Hörerkreis Jesu in seiner Anwesenheit bzw. in kurzem Zeitabstand seine Worte hätte aufschreiben können. Dennoch: "Im herodianischen Palästina gab es keine Stenographen" (178; Englisch: 176).

Kap. 7 widmet sich der in der neutestamentlichen Exegese ausführlich diskutierten Frage nach dem Verhältnis zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung. In einer Kritik an der Formgeschichte (vgl. 197) widerlegt der Autor vehement die Ansicht, die mündliche Tradierung im 1. Jh. n. Chr. sei außerstande gewesen, mit längeren als nur ein- oder zweizeiligen Aussprüchen umzugehen oder auch nur ganz kurze Geschichten aufzubewahren (vgl. 203, Englisch: 197). Ganz im Gegenteil dazu "gab es fast überall Leute, die das, was sie hörten, aufschreiben konnten" (203, Englisch: 197 f.). Die Schreibtäfelchen boten hierfür eine einfache und handliche Möglichkeit.

Das letzte Kap. 8 ("Antike Schreibkunst und die Evangelien") wendet die Ergebnisse der Forschung auf die Frage nach der Entstehungsgeschichte der Evangelien an. Durch Vergleiche insbesondere mit dem jüdischen Material von Qumran (das einzigartige Dokument MMT spielt hier die Hauptrolle) erscheint es als plausibel, ja nach M.s Meinung als bewiesen, dass die Überlieferung der Worte und Taten Jesu sehr früh durch schriftliche Notizen von Augenzeugen begann (vgl. 223 f.). Eine lebendig skizzierte hypothetische Szene in einem galiläischen Dorf schließt das Buch, mit dem offenen Bild von dem Sekretär des Hauptmanns (Lk 7,1-10 und par.), der unter Diktat einen Brief an den Bruder seines Herrn schreibt, in dem von der Heilung eines der Knechte des Hauptmanns erzählt wird (vgl. 225 f.).

Ein Vergleich mit der deutschen Übersetzung, die textgetreu und akkurat ist, lässt manche Orientierungen der deutschen Ausgabe erkennen. Der Titel der englischen Originalausgabe ("Reading and Writing in the Time of Jesus") ist in der deutschen Übersetzung zum Untertitel geworden ("Lesen und Schreiben zur Zeit Jesu"). Der deutsche Titel ("Pergament und Papyrus, Tafeln und Ton") entspricht vielleicht dem Ideal der Konkretheit, dennoch grenzt er m. E. ein wenig die Interessensphäre des Buches ein: Nicht nur um Materialien, Schreibwaren und archäologische Befunde geht es dort, sondern um das ganze Phänomen des Lesens und Schreibens in seinen literarischen, sozialen und kulturellen Dimensionen - so hätte ich den Titel lieber als Titel beibehalten.

Weitere Beobachtungen zu den Formalia: Im Vergleich zum englischen Inhaltsverzeichnis, das nur die erste Ebene - d. h. nur die Titel der Kapitel - enthält, ist das deutsche Inhaltsverzeichnis angenehm vervollständigt, indem auch die Unterteilung der Kapitel in Paragraphen hilfreich angegeben ist. Im deutschen Inhaltsverzeichnis ist auch hier und dort (vgl. 8) manche sprachliche oder formale Verbesserung in der Unterteilung der Paragraphen positiv zu vermerken. Auch einige Schreibfehler der englischen Ausgabe sind korrigiert worden: der Vorname von R. Bultmann ist von "Rudolph" (186) wieder zu "Rudolf" (190) geändert, und der dritte Autor der neutestamentlichen Grammatik BDR heißt wieder korrekt "Rehkopf" (147) anstatt "Rohrkopf" (148.286); doch Professor "S. Towers" (82.287 englisch und 79 deutsch) wird immer noch nicht als "Stanley K. Stowers" erkannt. Das Abkürzungssystem ist präzis und angepasst, während das Bibelstellenverzeichnis weniger akkurat und verkürzt erscheint. Es ist keine Bibliographie vorhanden; das Zitiersystem für die Anmerkungen streicht aus dem Original die Information des Verlagshauses. Die Trennung in Namensregister und Sach- und Ortsregister erweist sich als nicht glücklich, da die Namen der antiken und die der modernen Autoren zusammen aufgelistet werden, anders als in der englischen Ausgabe, die einen getrennten Index für die modernen Autoren bietet. Die Auswahl des Sach- und Ortsregisters entspricht nicht der des "Subject Index" und ist restriktiver: sie verrät ein stärkeres Interesse der deutschen Ausgabe an den biblischen Aspekten als an den archäologischen Befunden. Insgesamt ist der englische "Subject Index" ausführlicher und interessanter.

Es wird sich schwerlich ein anderes Buch über dieses Thema finden, das mehr oder besser verarbeitete Informationen bietet. Nicht die Neuentdeckungen stellen die Stärke des Buches dar, sondern die exemplarische, neue Auswahl der Information, die präzise Begründung der Urteile und die Art der Darstellung mit klaren Beispielen, numerischen Beweisen, detaillierten Beschreibungen und vielen Abbildungen. Das Buch "erzählt" das Material mit einer Freude an malerischer Komposition: nie langweilig, didaktisch hervorragend, auch für den Kenner vertieft informierend.

Wichtig und konsequenzenreich erscheint mir besonders die Betonung der Dimensionen des Verlustes von Textmaterial und Schreibresten in der Antike: Dieser Sachverhalt wurde seitens der biblischen Exegeten bisher noch niemals hinreichend wahrgenommen, wenn es darum ging, das überlieferte neutestamentliche Material hinsichtlich der Geschichte der Textform "Evangelium" auszuwerten. Der theologisch relevante Schluss - die Jesusgeschichte (bzw. Teile davon) habe schon zur Zeit Jesu einen schriftlichen Niederschlag finden können - wirkt für das traditionelle Forschungsparadigma als destabilisierend, ja sogar revolutionär. Ob diese These nun positiv aufgenommen oder, was wahrscheinlicher ist, angegriffen wird, so kann sie doch nicht ignoriert werden: Die präzisen und ausführlichen Belege M.s lassen es nicht mehr zu, wissenschaftlich über Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu argumentieren, ohne diese wahrzunehmen und zu diskutieren. Doch das ist m. E. auch nicht das Hauptergebnis des Werkes, sondern ein kostbares Nebenprodukt. Das Buch wurde nicht geschrieben, nur um diese eine These zu beweisen, sondern um die reiche und verlorene Welt der fixierten Sprache des 1. Jh.s n. Chr. zu schildern. Als solches ist es allerseits sehr zu schätzen.