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Ausgabe:

Januar/2002

Spalte:

3–22

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Niebuhr, Karl-Wilhelm

Titel/Untertitel:

Jesu Wirken, Weg und Geschick

Zum Ansatz einer Theologie des Neuen Testaments in ökumenischer Perspektive*

Einleitung: Die Vorgabe der Einheit

Die folgenden Überlegungen verdanken sich dem Nachdenken über die Aufgaben einer Theologie des Neuen Testaments im ökumenischen Horizont.1 Die neutestamentliche Fachwissenschaft scheint gegenwärtig vorwiegend andere Wege zu suchen und zu gehen. Als Alternativen zu einer Theologie des Neuen Testaments werden angeboten: eine am Programm von William Wrede anknüpfende "frühchristliche Religionsgeschichte, in der die Kanongrenzen keine Rolle spielen",2 eine kulturwissenschaftlich angeregte "religionswissenschaftliche[n] Beschreibung und Analyse der urchristlichen Religion"3 oder gar "eine radikale Pluralisierung aller theologischen und exegetischen Aussagen" als "sprachliche Konstruktionen von Wirklichkeit, die nicht aus einer Korrespondenz mit außersprachlicher Wirklichkeit sich ergeben, sondern so oder anders gemacht werden können".4 Mir scheint demgegenüber insbesondere im ökumenischen Kontext die Suche nach der Einheit des Neuen Testaments bzw. der Bibel als Vorgabe für die eine Kirche Jesu Christi unaufgebbar,5 und ich vermag mich auch als wissenschaftlich arbeitender Exeget nicht von ihr zu dispensieren.

Freilich kann die Einheit der Schrift als Vorgabe für die Kirche nicht in einem einheitlichen "Text" gesucht werden, der ihr vorgegeben sei, denn der überlieferte "Text" der Bibel verdankt sich geschichtlich gesehen der Kirche. Hier liegen eng beieinander Recht und Grenze eines vergröbert als "katholisch" zu bezeichnenden Einheitsmodells, nach welchem der kirchlichen Lehrtradition eine maßgebliche Funktion bei der Herausbildung und Anerkennung der Schrift als Kanon zugeschrieben wird.6 Die gesuchte Einheit kann aber ebensowenig in einer
theologischen "Mitte" der Schrift oder in einem "Kanon im Kanon" gesucht werden, denn die Bestimmung dieser "Mitte" bzw. dieses "Kanons im Kanon" hinge ja wiederum von den Urteils- und Begründungsmöglichkeiten derjenigen Theologen ab, die jeweils ihre Maßstäbe an die Schrift anlegen. Hier finden wir Recht und Grenze des grob gesagt "protestantischen" Einheitsmodells, in welchem der subjektiv wahrgenommenen Offenbarung bzw. dem persönlichen Glauben bei der Erschließung der Wahrheit der kirchlich überlieferten Schrift eine letztlich maßgebliche Rolle zukommt.7

In dieser Lage könnte m. E. die Suche nach einem Einheitsmodell ökumenische Bedeutung gewinnen, das sich seine Konturen und seine Grundstruktur aus der Schrift selbst vorgeben lässt, ohne dabei die verschiedenen und vielfältigen Texte der Schrift zu einem Einheitstext umschreiben zu müssen. Die Konturen einer solchen Theologie des Neuen Testaments müssten geprägt sein durch Jesu Wirken, Weg und Geschick im Licht des Osterglaubens. Ihre Grundstruktur müsste sich aus den Bezügen der neutestamentlichen Texte auf das Christusgeschehen ergeben, das seiner Bezeugung in der Schrift vorausliegt.



Eine Theologie des Neuen Testaments, die bei Jesus, seinem Wirken, seinem Weg und seinem Geschick im Licht des Osterglaubens ansetzt, ist im Ansatz ökumenisch. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt bei der fundamentalen Bestimmung Jesu von seinem Gottesverhältnis her: "Gott war in Christus ..." (2Kor 5,19). Damit hat die ökumenische Ausrichtung einer solchen Theologie des Neuen Testaments ihren explizit theologischen Grund in der Einheit Gottes als Vorgabe für jede christliche Theologie. Hiervon abgeleitet, erweist sich das Christusgeschehen, sofern es Ausdruck des eschatologischen Handelns dieses einen Gottes an seinem Volk und seiner Schöpfung ist, als die ihre Einheit begründende Vorgabe für eine Theologie des Neuen Testaments.

"Ist Christus etwa zerteilt?", fragt Paulus. "Ist denn Paulus für euch gekreuzigt? Oder seid ihr auf den Namen des Paulus getauft?" (1Kor 1,13). Und er verweist auf die ihm und allen Christusverkündigern vorgegebene, die Einheit der Kirche begründende Aufgabe: "Denn Christus hat mich nicht gesandt zu taufen, sondern das Evangelium zu predigen - nicht mit klugen Worten, damit nicht das Kreuz Christi zunichte werde." (1,17). Die Einheit der Theologie des Neuen Testaments wurzelt somit im Kreuz Christi als dem einen "Ort", wo Gott in Christus gegenwärtig war und ist. In diesem ihrem Ansatz ist sie ökumenisch.

Freilich steht dieser Einheit stiftenden Wurzel der Theologie des Neuen Testaments von Beginn an die Pluralität menschlicher Wahrnehmungen des einen Christusgeschehens gegenüber. Pluralität menschlicher Wahrnehmungen ist weder ein modernes noch gar ein postmodernes Phänomen. Als biblische Modellgeschichte für solche Pluralität bietet sich der Turmbau zu Babel an, als seine neutestamentliche Entsprechung die Pfingstgeschichte, deren Pointe gerade darin liegt, dass das Wahrnehmen und Verstehen der einen, Einheit stiftenden Grundgeschichte der Kirche allein durch die Gabe des göttlichen Geistes ermöglicht wird. Das Neue Testament zeichnet sich nicht bloß durch eine Vielfalt an Zeugnissen aus, die doch alle auf das eine Grundgeschehen von Gott in Christus verweisen. Die Kirche hat diese Vielfalt auch noch "kanonisiert".8 Das Neue Testament hat seine spezifische Gestalt, seine Eigenart gefunden als Nebeneinanderstellung und Zusammenstellung pluraler Zeugnisse von dem einen Gott, der im Christusgeschehen am Werk ist.

Nicht erst die Zeugnisse der Wahrnehmung der Einheit Gottes sind freilich plural, sondern schon die Wahrnehmungen selbst. Wie sich Wahrnehmungen des einen, selben, lebendigen Gottes voneinander unterscheiden, wie sie in Gegensatz zueinander treten, wie sie zu Auseinandersetzungen führen können bis hin zu todbringender Gewalt, das zeigt exemplarisch die Geschichte und Gegenwart der "monotheistischen" Religionen Judentum, Christentum und Islam.



Somit ergibt sich: Weder die Zeugnisse der Schrift können die Einheit der Kirche begründen, noch die Wahrnehmungen der Zeugen, die in der Schrift ihren Niederschlag gefunden haben, sondern allein das aller Wahrnehmung vorgegebene Christusgeschehen. Ein Einheit stiftender Ansatz neutestamentlicher Theologie müsste also gesucht werden nicht bei einem angeblich einheitlichen Verständnis der Schrift, auch nicht bei einem einheitlichen Bekenntnis, das ihren Zeugnissen angeblich zu Grunde liegt, und ebenso wenig bei einer erst von den Theologen zu bestimmenden "Mitte der Schrift" bzw. einem ihr entsprechenden "Kanon im Kanon", sondern beim Christusgeschehen selbst als der einen Vorgabe des pluralen Bekenntnisses zu Gott in Christus, wie es in der Schrift seinen Niederschlag gefunden hat.

Natürlich stellt sich sofort die Frage, wie wir denn Zugang bekommen können zu diesem Christusgeschehen, wenn nicht über die vielfältige Schrift und die in ihr begegnenden vielfältigen Zeugnisse von ihm. Allerdings kann diese Rückfrage den aufgewiesenen Reflexionsweg nicht ad absurdum führen. Sie treibt ihn vielmehr ein Stück voran. Sie führt uns zu einer vertieften Besinnung auf das Schriftprinzip, das zu Recht als eine der Grundbestimmungen reformatorischer Theologie gilt. Gerade in dieser Frage sind nach meinem Eindruck die gegenwärtigen ökumenischen Diskussionen durchaus weiterführend.

Wie verhält sich aber eine solche ökumenisch motivierte Suche nach der Einheit der Schrift als Vorgabe für die Kirche zu den primär nach Differenzierungen suchenden geschichtlichen Zugängen zu ihr, welche seit dem 19. Jh. die Exegese und die Theologie in großen Teilen der protestantischen und seit der zweiten Hälfte des 20. Jh.s auch der katholischen Kirchen wenigstens im (west-)europäisch-nordamerikanischen Raum prägen?9 M. E. hat historische Differenzierung im Rahmen eines theologischen Zugangs zur Schrift, der sich seine Konturen und seine Grundstruktur von ihr vorgeben lässt, wenigstens drei Aufgaben: Sie kann Profile des Bezugs von Texten der Schrift auf das Christusgeschehen herausarbeiten, z. B. unterschiedliche Möglichkeiten narrativer Darstellung der Jesusgeschichte, Wege lehrhafter Argumentation und Reflexion der Heilsbedeutung des Christusgeschehens, Mittel paränetisch-ethischer Ermahnung gemäß der Intention Jesu, Modelle der Organisation und Leitung von Kirche in seiner Nachfolge. Historische Differenzierung bei der theologischen Auslegung der Schrift kann darüber hinaus die Relativität theologischer Interpretationen des Christusgeschehens innerkanonisch vor Augen führen, die Relationen also, in welchen sie zueinander stehen und sich gegenseitig begrenzen. Schließlich sollte historische Differenzierung auch Möglichkeiten der "Anschlussfähigkeit" biblischer Bezugnahmen auf Jesus herausarbeiten, die bei der Aufgabe, heute Bezüge zu Jesus und zum Christusgeschehen herzustellen, hilfreich sind.

1. Theologie des Neuen Testaments in ökumenischer Perspektive

Nachdem Ernst Käsemann den Kanon der Schrift als Grund für die Einheit der Kirche prinzipiell in Frage gestellt hatte, indem er auf den Streit der Konfessionen um seine "Mitte" verwies,10 hätte man erwarten können, dass nun gerade die Bibelwissenschaftler der verschiedenen Konfessionen, das Urteil Käsemanns gewissermaßen als "self fulfilling prophecy" bestätigend, divergierende konfessionelle Profile bei der Bestimmung einer solchen Mitte herausarbeiten würden. Das ist offensichtlich nicht geschehen. Vielmehr haben katholische Exegeten nach einem nur als Kehrtwende zu bezeichnenden theologischen und methodischen Neuanfang11 sich in geradezu atemberaubendem Tempo den Arbeitsweisen und Ergebnissen der protestantischen Exegese angenähert und sie bisweilen hinsichtlich historisch-kritischer und auch theologischer Urteile im Anschluss an die reformatorische Tradition sogar "überholt".12 Dies geschah aber selten unter ausdrücklicher Reflexion des jeweils vorausgesetzten Schriftverständnisses. So waren etwa in den Auseinandersetzungen um die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" kaum Stimmen von Exegeten beider Konfessionen zu vernehmen.13

Im Unterschied dazu sind aber in jüngerer Zeit mehrere gründlich ausgearbeitete Stellungnahmen erschienen, die sich
unter anderem auch zu Grundsatzfragen im Umgang mit der Schrift und ihrer Bedeutung im Zusammenhang von Theologie und Kirche äußern. Geradezu im Schatten der "Gemeinsamen Erklärung" ist der Text "Communio Sanctorum"14 erarbeitet und publiziert worden, das Arbeitsergebnis einer bilateralen Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der VELKD. Er nimmt in Kap. IV grundlegende Bestimmungen zur Bedeutung der Schrift in der und für die Kirche vor. Auf katholischer Seite wurde schon 1993 ein Dokument der Päpstlichen Bibelkommission über "Die Interpretation der Bibel in der Kirche"15 durch höchste lehramtliche Autorität rezipiert, das insbesondere zu den Methoden der Exegese Stellung bezieht. Schließlich enthält auch die jüngst veröffentlichte Studie des Theologischen Ausschusses der VELKD mit dem Titel "Traditionsaufbruch" ein ausführliches Kapitel über "Die christliche Überlieferung und die Entstehung des Glaubens".16 Hier wird das Verhältnis zwischen dem Offenbarungsgeschehen, der Schrift, die von ihm zeugt, und dem Glaubensbekenntnis der Kirche grundlegend zu bestimmen versucht.

Wir können diese Texte hier nicht analysieren. Sie sind je auf ihre Weise Beleg dafür, dass die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Zeugnis der Schrift und der Lehre der Kirche gegenwärtig wieder diskutiert wird.17 Wie sich bei dieser Diskussion traditionelle konfessionelle Profile bisweilen merkwürdig verschieben können, möchte ich an einem Beispiel zeigen.

Der Text der lutherisch-katholischen Arbeitsgruppe ist in der bisherigen Diskussion von evangelischer Seite her als "katholisierend" kritisiert worden.18 Seine Ausführungen zum Wort Gottes enthalten aber m. E. bemerkenswerte Passagen zur kritischen Funktion der Schrift gegenüber der Kirche einschließlich ihres Lehramts, die von beiden Seiten gemeinsam, also auch von den katholischen Gesprächspartnern vertreten werden.19 Zwar
wird im Abschnitt über das kirchliche Lehramt ausdrücklich auf weiter bestehende Differenzen wie "die noch nicht gelöste Kontroverse hinsichtlich der Träger des Lehramtes"20 und "die Kontroverse um die ,Unfehlbarkeit'" verwiesen.21 Aber davon unberührt kann gemeinsam vom Zusammenwirken von fünf "Bezeugungsinstanzen" der Wahrheit gesprochen
werden, die das eine Wort Gottes, die Christusoffenbarung, in der Kirche zur Sprache bringen und vermitteln: 1) die Heilige Schrift, 2) die Überlieferung des Glaubens (Tradition), 3) das Zeugnis des ganzen Volkes Gottes (Glaubenssinn der Gläubigen), 4) das kirchliche Amt (Lehramt), 5) die Theologie.22

Entscheidend ist nun, dass die Schrift nicht nur die erste Stelle im Zusammenspiel dieser Bezeugungsinstanzen der Wahrheit einnimmt, sondern dass ihr auch gegenüber allen übrigen Instanzen einschließlich des Lehramtes eine kritische Funktion zugeschrieben wird. Zwar muss die Bibel "im Zusammenhang der Glaubens- und Zeugnisgemeinschaft der Kirche befragt werden", aber: "Diese muß wiederum an der Heiligen Schrift gemessen werden." (CS 50) Ebenso gilt gegenüber der Tradition: "Das Zeugnis der Heiligen Schrift ist das Kriterium, mit dem zu prüfen ist, ob die Tradition das Wort Gottes richtig und vollständig wiedergibt." (CS 56)23 Im Blick auf das Lehramt wird schließlich "gemeinsam festgestellt, daß die Lehrverantwortung des Amtes eingebunden ist in das Glaubenszeugnis der gesamten Kirche und daß das verbindliche Lehren unter der Norm des Evangeliums steht" (CS 61).24

Zusammenfassend heißt es unter der Überschrift "Interaktion der Bezeugungsinstanzen": "Die Heilige Schrift ist die erste und grundlegende Bezeugungsgestalt des Wortes Gottes. Sie ist die unüberholbare Norm
für Kirche, kirchliche Verkündigung und Glauben. Daher müssen sich auch alle anderen Bezeugungsinstanzen an ihr verbindlich ausrichten, insofern sie sie auslegen, tiefer ergründen, auf die jeweilige Situation beziehen und für das christliche Leben fruchtbar machen."25

Blicken wir von diesem angeblich "katholisierenden", aber hinsichtlich der kritischen Funktion der Schrift gegenüber allen kirchlichen Instanzen erkennbar reformatorisch geprägten ökumenischen Dokument nun auf die offizielle Studie der VELKD.26 Zwar betont auch sie, dass "der Heiligen Schrift ein einzigartiger Rang in der christlichen Überlieferung und für diese zukommt", "weil sie die exklusive Normativität der Christusbotschaft als Kanon im Gottesdienst für alle Überlieferungsvollzüge und ihre Resultate festhält und repräsentiert" (TA 31). Da aber die Schrift in ihrer kanonischen Gestalt selbst Ergebnis eines kirchlichen Überlieferungsprozesses ist, sucht die Studie nach einem Weg, auch dieser Überlieferung gegenüber einen kritischen Maßstab zu gewinnen.27 Sie findet ihn in der "österlichen Christusbotschaft als Kanon im Gottesdienst". Diese bilde, zusammen mit der Heiligen Schrift und dem Bekenntnis, die "Kernformen der Überlieferung".28

Mit der etwas ungewöhnlichen Verwendung des Wortes "Kanon" wird hier offenbar auf das Osterbekenntnis der frühesten christlichen Gemeinde(n) Bezug genommen, das "zunächst in feste mündliche, dann in schriftliche Form" gefasst worden sei. "Die ältesten derartigen Formen der Christusbotschaft sind Formeln wie Lk 24,34 ... oder 1Kor 15,3-5. Die späteste Form der Christusbotschaft als Kanon im Gottesdienst ist die ganze Heilige Schrift, wie sie noch heute in der Liturgie, als Lesung und für die Predigt in Gebrauch steht."29 Man erkennt in solchen chronologischen Einordnungen unschwer bestimmte Urteile der deutschen neutestamentlichen Forschung des vergangenen Jahrhunderts wieder, insbesondere solche der formgeschichtlich arbeitenden Exegese.

Nun wollen wir dahingestellt sein lassen, ob diese Urteile unter Exegeten und Patristikern im inzwischen begonnenen 21.Jh. noch konsensfähig sind. Schwerwiegender könnte zunächst der theologische Einwand erscheinen, dass hier ein durch Auslegung der Schrift gewonnenes Kriterium derselben als
Maßstab gegenübergestellt wird. Indessen entspricht dieser hermeneutische Zirkel durchaus lutherischem Schriftverständnis und ist gar nicht hintergehbar, wenn die Schrift nicht bloß ein formales Kriterium sein soll. Die Suche nach einem theologischen Kriterium, mit dessen Hilfe auch der Überlieferungsprozess kritisch beurteilt werden kann, der zur Schrift in ihrer
kanonischen Gestalt führte, ist also nicht von vornherein abzulehnen. Allerdings muss ein solcher Maßstab auch selbst wiederum an das Zeugnis der Schrift in ihrer Ganzheit und Vielfalt zurückgebunden werden!

Hier fällt auf, dass in der VELKD-Studie zwar im Abschnitt zum Lehrbekenntnis durchaus von der "kritischen Normativität der Heiligen Schrift in Bezug auf alle menschlichen Überlieferungsakte" gesprochen wird.30 Dort aber, wo es um die Heilige Schrift selbst geht, ist nur noch von der "exklusive[n] Normativität der Christusbotschaft als Kanon im Gottesdienst" die Rede, welche in der Schrift festgehalten und repräsentiert sei.31 Der Grund dafür liegt in der Unterscheidung zwischen der österlichen Christusoffenbarung bzw. dem Offenbarungshandeln Gottes selbst und ihrer bzw. seiner in der Heiligen Schrift überlieferten Gestalt. Allein die Selbstmanifestation Gottes im Christusgeschehen bildet den normativen Grund für die Kirche, für ihre Überlieferung und auch für die Heilige Schrift.32

Man wird allerdings fragen müssen, ob denn diese Selbstmanifestation Gottes im Christusgeschehen anders zugänglich werden kann und aussagbar ist als in Gestalt des Zeugnisses der Schrift, auf das sich die Bekenntnisbildung der Kirche und die Lehraussagen aller ihrer Theologen zu stützen haben. Auch die Rede von der "geistgewirkte[n] Gegenwart der ,Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi' (2Kor 4,6) selber" (TA 31), auf die sich der Text an der entscheidenden Stelle bezieht, hat ja einen durchaus spezifischen biblischen Ursprungsort, nämlich den Rückblick des Apostels Paulus auf den Ursprung seines Verkündigungsauftrages bei seiner Christusbegegnung
vor Damaskus. Diese wiederum war Teil seines eigenen Weges vom Verfolger der Gemeinde Gottes zum Verkündiger des Evangeliums für die Völker, und der Zusammenhang, in dem Paulus auf dieses Ursprungsgeschehen zu sprechen kommt, ist maßgeblich bestimmt durch Auseinandersetzungen um Lehre und Praxis der Adressatengemeinde in Korinth und um die Stellung des Apostels ihr und ihnen gegenüber.33 Man wird also schwerlich gerade eine solche (ebenso wenig wie eine beliebige andere) biblische Formulierung aus ihrem Kontext reißen, sie der "österlichen Christusbotschaft als Kanon im Gottesdienst"
zuordnen und gegenüber anderen Sprachgestalten der Schrift mit einem exklusiven Normativitätsanspruch versehen können. Jedenfalls müsste zuvor geklärt werden, nach welchen Auswahlkriterien bei einem solchen Vorgehen verfahren werden soll. Es wird dann sehr schnell deutlich werden, dass dies nur im Rahmen des schon erwähnten hermeneutischen Zirkels geschehen kann und muss, in welchem jede aus der Schrift abgeleitete Bekenntnis- oder Lehraussage wiederum am Zeugnis der Schrift zu messen ist.

Wie kann aber, so wird man fragen müssen, die Schrift gegenüber aller theologischen Lehrformulierung und aller menschlichen Überlieferung noch eine kritische Funktion ausüben, wenn betont wird: "Das Christusgeschehen bleibt Maßstab auch der Schrift; es kann sogar nötig werden, Christus als Mitte der Schrift gegen die Schrift aufzubieten." (TA 30) Auch die "Christusbotschaft als Kanon im Gottesdienst" ist ja doch wohl, sofern sie als Wort von Menschen laut wird, eine Gestalt menschlicher Überlieferung, selbst wenn die Kirche als Glaubensgemeinschaft "nur hingenommen und festgehalten" hätte, "was ihr durch die Christusoffenbarung selbst als Botschaft von Christus aufgetragen ist" (ebd.). Bezeichnenderweise wird im Text des Theologischen Ausschusses der VELKD gerade dort, wo es um die kritische Beurteilung der Bezeugung des Christusgeschehens und um die Festlegung dessen geht, "was zum Kern der Botschaft und damit auch ins Zentrum des Kanons im Gottesdienst gehört und was an seinen Rand", die Kirche zum Subjekt der Aussagen.34

2. Der christologische Ausgangspunkt


Das im vorangegangenen Abschnitt erreichte Ergebnis soll nun im Blick auf mögliche Konturen einer Theologie des Neuen Testaments hin weiter bedacht werden. Wir waren zu dem etwas überraschenden Ergebnis gekommen, dass in einem offiziellen lutherischen Studientext letztlich der Kirche die Beurteilungskompetenz über den Kern der Christusbotschaft zugesprochen wird. Die prinzipielle Infragestellung des biblischen Kanons von seiner auf eine Formel gebrachten christologischen "Mitte" her, wie sie Ernst Käsemann vor Jahrzehnten mit seinem berühmten
Diktum ausgesprochen hatte, scheint im Kerngebiet reformatorischer Theologie auch heute noch zu gelten. Andererseits hatte sich ergeben, dass katholische und lutherische Theologen gemeinsam von der normativen Bedeutung der Schrift gegenüber jeder Gestalt kirchlicher Überlieferung und Lehrbildung einschließlich des Lehramtes sprechen können.35 Auch bei der näheren Bestimmung des der Schrift vorgegebenen Christusgeschehens wird das Gesamtzeugnis der Schrift in den Aussagen von Communio Sanctorum deutlicher erkennbar als in der Rede der VELKD-Studie von der "österlichen Christusbotschaft als
Kanon im Gottesdienst" bzw. den ihr zu Grunde liegenden, aus ihrem biblischen Kontext herausgelösten "Formeln". So heißt es in dem ökumenischen Text: "Offenbarung ist die Selbstmitteilung Gottes in der Geschichte, die ihren Höhepunkt und ihre Vollendung in Jesus Christus hat, ... ,der durch sein ganzes Dasein und seine ganze Erscheinung, durch Worte und Werke, durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine herrliche Auferstehung von den Toten, schließlich durch die Sendung des Geistes der Wahrheit die Offenbarung erfüllt und abschließt ...'".36

Die hier erkennbaren Grundzüge des Christusgeschehens: Dasein und Erscheinung, Worte und Werke, Zeichen und Wunder, Tod und Auferstehung, bieten m. E. für eine Theologie des Neuen Testaments eher schriftgemäße Anknüpfungspunkte als der Ansatz bei einer zu rekonstruierenden "Mitte", die durch ein der Schrift vorausliegendes, angeblich "frühes" Auferweckungskerygma gefüllt wird.37 Die Besinnung auf das Verhältnis von vorgegebenem Christusgeschehen und seiner Wahrnehmung und Bezeugung durch Menschen in der Schrift führt uns somit zu den Grundzügen des Christusgeschehens. Jesu Wirken, Weg und Geschick im Lichte der Ostererfahrung seiner Anhänger - hier scheinen mir Konturen einer Theologie des Neuen Testaments sichtbar zu werden.

Bei der Nachzeichnung dieser Grundzüge des Christusgeschehens wird nun allerdings die entscheidende Frage lauten: Wie kann das Wirken und die Verkündigung Jesu mit dem Osterglauben der Gemeinde zusammengedacht werden?38 Zugang zu Jesus ist ja erreichbar nur über die Zeugnisse von ihm,
die durch und durch vom Osterglauben geprägt sind. Allerdings gibt es im Neuen Testament auch kein Osterkerygma, das nicht entscheidend durch die Grundzüge des Christusgeschehens bestimmt ist. Es ist der Gekreuzigte, dessen Auferweckung das Bekenntnis zur Sprache bringt, und der Kreuzestod ist nicht allein eine kerygmatische Bestimmung Jesu, sondern Ende seines irdischen Wirkens und Weges. Einerseits wird also das österliche Kerygma der Gemeinde an den Grundzügen der Jesus-Geschichte zu messen, andererseits aber aufzuweisen sein, dass die Jesus-Geschichte erst und nur im Lichte der Auferweckung des Gekreuzigten ihre für die Kirche maßgebliche Gestalt gewinnt.39 Dieser Zusammenhang soll nun zunächst thesenartig dargelegt und anschließend im Blick auf sein biblisch-theologisches Fundament, auf seine Konkretion in der Jesus-Christus-Geschichte und auf seine exemplarische Entfaltung in der paulinischen Theologie skizziert werden.

M. E. kann das Zusammendenken der Jesus-Geschichte und des Osterglaubens nur gelingen, wenn das christologische Grundbekenntnis: Jesus Christus, wahrer Mensch - wahrer Gott, seinen Ausgangspunkt bildet. Dafür sprechen folgende fünf Gründe: 1) Im christologischen Grundbekenntnis werden der Glaube Jesu und der Glaube an Jesus zusammengehalten. Damit wird eine die Gestalt des Neuen Testaments prägende grundlegende Spannung offensiv theologisch bearbeitet. 2) Im christologischen Grundbekenntnis stimmen alle neutestamentlichen Zeugen bei durchaus unterschiedlicher sprachlicher und konzeptioneller Ausgestaltung sachlich überein. Jesus, ein Mensch "in Raum und Zeit", in dem Gott heilsam an den Menschen handelt, ist gemeinsamer Bezugspunkt aller neutestamentlichen Schriften, und ebenso der alttestamentlichen, sofern sie im Licht des Neuen Testaments gelesen werden. 3) Das christologische Grundbekenntnis bestimmt schon die frühesten im Neuen Testament erkennbaren Zeugnisse und "Lehrbildungen". Es kann nicht auf einzelne Gruppen, "Traditionsschichten" oder theologische Konzeptionen fixiert werden, sondern ist ihnen allen gemeinsam vorgegeben. 4) Auch der dogmengeschichtliche Entwicklungsstand der Christologie zur Zeit der Kanonbildung folgt in seiner Struktur dem christologischen Grundbekenntnis der neutestamentlichen Zeugnisse. Im zentralen theologischen Gehalt stimmt damit das christologische Zeugnis des Neuen Testaments mit der Interpretationsstufe der Schrift überein, die für die Kirche maßgeblich und prägend geworden ist. 5) Eine beim christologischen Grundbekenntnis ansetzende Theologie des Neuen Testaments, die den Zusammenhang mit der Jesusgeschichte wahrt und die verschiedenen neutestamentlichen Zeugnisse von ihr in sich integriert, wird dem reformatorischen Schriftprinzip gerecht. Fundamental und normgebend für den christlichen Glauben ist diesem Prinzip entsprechend nicht der Wortlaut der Texte der Schrift, sondern das von ihr durch sie bezeugte Christusgeschehen.40

3. Das biblisch-theologische Fundament


Dem beschriebenen christologischen Ansatz entsprechend muss das im Neuen Testament bezeugte Christusgeschehen als Ursprung und Kriterium für alle im Neuen Testament zusammengeführten theologischen Konzeptionen herausgearbeitet werden. Von einer Theologiegeschichte des Neuen Testaments unterscheidet sich dieser Ansatz darin, dass vor der Darstellung der theologischen Konzeptionen neutestamentlicher Autoren bzw. Schriften das Christusgeschehen selbst als deren Kriterium und Maßstab erhoben wird. Von der biblischen Dogmatik hebt er sich dadurch ab, dass die Grundzüge des Christusgeschehens mit Hilfe exegetischer Methoden aus den vielfältigen neutestamentlichen Zeugnissen über Jesu Wirken, Weg und Geschick im Licht des Osterglaubens erhoben werden.

Bevor der zentrale Teil einer so aufgebauten Theologie des Neuen Testaments ausgearbeitet werden kann, muss aber zunächst sein biblisch-theologisches Fundament gelegt werden. Als Theologie muss die Theologie des Neuen Testaments in den Strukturen ihrer Gottesaussagen dem gesamtbiblischen Zeugnis von Gottes Handeln und Sein entsprechen. Weil der Gott des christologischen Grundbekenntnisses der Gott der ganzen Bibel ist, steht vor der Darstellung des Christusgeschehens als Ursprung und Kriterium neutestamentlicher Theologie die Erarbeitung von Grundstrukturen des biblischen Gottesverständnisses. Allerdings kann auch dieser Schritt nicht unter Absehung vom Christusgeschehen vollzogen werden. Auch für eine gesamtbiblische Theologie des Neuen Testaments muss das christologische Grundbekenntnis den Ausgangspunkt bilden.41 Von ihm her gelesen ergibt die Schrift neuen Sinn, und zwar in einer doppelten Perspektive: Die Schrift erst gibt dem Christusgeschehen den Sinn eschatologischer Erfüllung der Verheißungen Gottes. Und das Christusgeschehen erst verleiht der Schrift den Sinn der Verheißung des endzeitlich-endgültigen Handelns Gottes.

Die Einheit der beiden Testamente der christlichen Bibel ist somit nicht begründet in dem, was sie je für sich sagen, sondern allein in dem, von dem sie zeugen: dem einen Gott Israels, der der Vater Jesu Christi ist. Im Christusgeschehen handelt dieser eine, selbe Gott neu und endgültig. Das einheitliche biblische Zeugnis vom Handeln des einen Gottes der Bibel ergibt sich also erst aus der "Zusammenschau" des Alten und des Neuen Testaments. Der Dreh- und Angelpunkt einer biblischen Theologie beider Testamente liegt demnach sozusagen zwischen ihnen, nämlich beim Christusgeschehen selbst. Es folgt dem Zeugnis des Alten Testaments, insofern es dessen Aussagen von ihrer Erfüllung her erst zu Verheißungen macht. Und es geht dem Zeugnis des Neuen Testaments voraus, insofern erst vom christologischen Grundbekenntnis her die Jesus-Geschichte als Erfüllung der Verheißungen Gottes wahrgenommen werden kann.

Für die materiale Ausarbeitung des fundamentalen Teils der Theologie des Neuen Testaments ergibt sich aus der spezifischen Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament im Argumentationszusammenhang christlicher Theologie: Die maßgeblichen Wahrnehmungen Gottes sind zuerst am Christusgeschehen zu machen. Sodann sind, ausgehend von solchen Wahrnehmungen, sachlich entsprechende Zeugnisse biblischer Rede von Gott in beiden Testamenten zu erheben, und zwar
zunächst je für sich. Strukturen biblischen Gottesverständnisses als Fundament einer Theologie des Neuen Testaments ergeben sich aber erst aus dem dritten Schritt, der Zusammenschau solcher Zeugnisse biblischer Rede von Gott aus der Perspektive des christologischen Grundbekenntnisses.

Die "Leserichtung der christlichen Bibel"42 führt also, theologisch betrachtet, nicht vom Alten zum Neuen Testament, so dass das Alte Testament als "Fundament" des Neuen Testaments
oder das Gottesbild des Alten Testaments als Kriterium des christlichen Gottesverständnisses anzusehen wäre. Vielmehr kann als der Gott der christlichen Bibel nur der Gott des trinitarischen Bekenntnisses geglaubt werden, der freilich kein anderer war und ist als der Gott, der Israel zu seinem erwählten Volk gemacht hat und ihm über all seine Untreue und all seinen Unglauben hinweg bis heute die Treue hält. Dass Gott, der Vater Jesu Christi, dass der Gott des trinitarischen Bekenntnisses schon eine "Vorgeschichte" mit dem einen, exklusiv vor allen Völkern erwählten Israel hat, und dass er sich von dieser seiner "Vorgeschichte" auch angesichts seines eschatologisch-neuen und endgültigen Handelns im Christusgeschehen nicht dispensiert hat, dies ist die theologische Herausforderung, die im geschichtlichen Charakter des Christusgeschehens, in der Inkarnation des Gottessohnes also, angelegt ist. Insofern muss auch das Zeugnis der ganzen Bibel, das Zeugnis beider Testamente, als Zeugnis für den einen trinitarischen Gott des Christusbekenntnisses in Anschlag gebracht werden. Nur dann kann das Alte Testament seinen Platz als Teil der christlichen Bibel bewahren.43

4. Strukturkomponenten von Jesu Wirken, Weg und Geschick im Licht des Osterglaubens


Wenn Jesu Wirken, Weg und Geschick im Licht des Osterglaubens Gegenstand der Theologie des Neuen Testaments und Kriterium aller theologischen Konzeptionen neutestamentlicher Autoren sein soll, dann kann nicht ein historisch-kritisch rekonstruiertes Minimum angeblich "zuverlässiger" Jesus-Überlieferung die Basis einer solchen Darstellung bilden. Weder eine ipsissima vox noch eine ipsissima intentio Jesu sind geeignet, das Jesus-Phänomen als Ganzes zu erfassen. Aber nur als Ganzes kann es Maßstab und Kriterium für die Theologie des Neuen Testaments sein. Wir werden also versuchen müssen, Jesu
Wirken, Weg und Geschick im Zusammenhang, in einer "Zusammenschau" wahrzunehmen.

Damit soll die kritische Untersuchung einzelner Überlieferungen und historischer Informationen über Jesus keineswegs ausgeblendet werden.44 Aber sie darf nicht im Sinne eines Ausscheidungskriteriums der Erfassung des Gesamtphänomens
vorgeschaltet werden, so dass für die Zeichnung des Gesamtbil-
des Jesu nur noch ein "kritisch gesicherter" Restbestand zur Verfügung stünde. Zum einen deshalb, weil sich bisher noch immer bei näherem Hinschauen dieser angeblich "gesicherte" Restbestand als ziemlich unsicher erwiesen hat. Zum anderen aber, weil einem solchen Selektionsverfahren seinerseits ein, wenn auch meist unreflektiertes, Gesamtbild von Jesus zu Grunde liegt. Demnach hätte Jesus nämlich im Wesentlichen "sporadisch" gewirkt, etwa durch prägnante und provozierende Sprüche, durch ebenso provokative, Aufsehen erregende Handlungsweisen und Aktionen, möglicherweise noch durch eine speziell profilierte Verkündigung von der Gottesherrschaft.

Natürlich gibt es für alle diese Einzelphänomene jeweils eine relativ gute Quellenbasis, und sie erfassen auch jeweils durchaus Wichtiges an Jesus. Aber damit erfassen sie noch keineswegs Jesus, es sei denn, wir behaupteten, Jesu Wirken habe eben gerade aus solchen fragmentarischen Aktionen und Sprüchen bestanden und einem Ende, das ihnen mehr oder weniger zufällig gefolgt sei. Aber genau das ist eben auch ein Gesamtbild, und zwar eines, das sich erst aus einer Analyse der Zeugnisse über Jesus ergibt, also keineswegs ihr "kritisch gesicherter" oder gar "neutraler" Ausgangspunkt ist. Die neutestamentlichen Zeugnisse jedenfalls geben nicht einen fragmentierten Jesus zu erkennen, sondern sie zeichnen ein Gesamtbild mit bestimmten Grundzügen von seinem Wirken, Weg und Geschick. Da sie es aus dem Rückblick zeichnen, und zwar aus einer vom Osterlicht beleuchteten Perspektive, geben sie diesem Bild Konturen, die Jesu Wirken, Weg und Geschick im heilvollen Handeln Gottes verankern.

Dieses Jesus-Bild der neutestamentlichen Zeugen ist eingespannt in eine Reihe von Koordinaten und weist eine Reihe von Strukturkomponenten auf, die bei aller Verschiedenartigkeit der Zeugnisse durchaus nachgezeichnet werden können. Als maßgebliche Koordinaten sind m. E. anzugeben: 1) der vielfältige religiöse Kontext des Frühjudentums, insbesondere die in aktueller Auslegung gegenwärtige Schrift Israels mit ihren auf die eschatologische Heilszeit weisenden Verheißungen, 2) eine an den sozialen und kulturellen Lebensbedingungen galiläischer Juden in römischer Zeit orientierte individuelle Biographie, 3) ein herausgehobenes Personbewusstsein Jesu als der endzeitliche Bote und Repräsentant des Gottes Israels, 4) der spezifische Bezug Jesu auf eine Anhängergruppe mit eigengeprägter, zeichenhafter Lebensweise, 5) die positive Anknüpfung der nachösterlichen Jesus-Anhänger an Jesu Wirken, Weg und Geschick, und zwar in partieller Diskontinuität und Kontinuität zu seinen vorösterlichen Anhängerkreisen, sowie 6) die durch das Oster-
geschehen hervorgerufene Gewissheit, in Jesu Wirken, Weg und Geschick habe Gott selbst an seinem Volk und seiner Schöpfung endzeitlich heilvoll gehandelt.

In diese sechs Koordinaten lassen sich eine Reihe von "Strukturkomponenten" einordnen, aus denen sich das Gesamtphänomen von Wirken, Weg und Geschick Jesu zusammensetzt. Wilhelm Thüsing hat in seinem großen, leider unvollendet gebliebenen Werk zur Theologie des Neuen Testaments den Versuch unternommen, das Jesus-Christus-Geschehen als Kri-
terium aller neutestamentlichen Theologien und Basis derTheo-logie des Neuen Testaments zu erfassen und darzustellen.45 Zu diesem Zweck hat er zwei Kriterienreihen entwickelt, deren erste der Erfassung der theologischen Strukturen von Botschaft, Wirken und Leben Jesu von Nazaret dient, während die zweite die Strukturen von Christologie und Soteriologie in nachösterlicher Transformation nachzeichnet. Erst aus der Zusammenschau beider Kriterienreihen ergibt sich nach Thüsing die Gesamtstruktur des Jesus-Christus-Geschehens, das als kritischer Maßstab den neutestamentlichen Theologien gegenübergestellt werden kann.46

Thüsing möchte zwar Jesu Wirken von vornherein unter Berücksichtigung des von der neutestamentlichen Überlieferung vorgegebenen Osterglaubens entfalten. Gleichwohl erfasst er die theologischen Strukturen von Botschaft und Werk Jesu "zuerst für sich, in Differenzierung von den Kriterien der nachösterlichen Transformation".47 Dabei kommt es ihm darauf an, über Einzelbeobachtungen hinaus zu einer Gesamtstruktur des "Jesuanischen" vorzustoßen. Eine solche Gesamtstruktur lässt sich nicht auf eine Formel oder "Mitte" reduzieren, sondern fächert sich auf in ein ganzes Bündel von Einzelkriterien. Diese Einzelkriterien sind aber nicht einfach identisch mit Einzelzügen der Jesusüberlieferung, sondern werden abgeleitet aus der Gesamtstruktur des Wirkens Jesu. Dafür prägt Thüsing den Begriff "Strukturkomponenten".48

Ansatzpunkte zur Ermittlung der Strukturkomponenten des Wirkens Jesu findet Thüsing in geschichtlichen Sachverhalten, die sich aus der Jesusüberlieferung erheben lassen, z. B. den Konflikten Jesu, seiner Basileia-Verkündigung oder seinem Nachfolgeruf. In den Konflikten Jesu (etwa mit den Pharisäern oder mit der sadduzäischen Tempelaristokratie) werden als Strukturkomponenten sichtbar: eine Grundhaltung der Metanoia gegenüber Gott, die Forderung schrankenloser Liebe, das Eintreten für Randexistenzen der Gesellschaft. "Hinter diesen Verhaltensweisen und Forderungen steht Jesus als der prophetisch-charismatische Bote des Neuen von Gott her, das er Herrschaft Gottes nennt, und steht vor allem sein singulärer Sendungsanspruch. Mit diesem Anspruch Jesu, das Eschatologisch-Neue zu bringen (und damit das Alte zu relativieren), hängt der Vorwurf der Gotteslästerung zusammen".49

Die Basileia-Verkündigung Jesu lässt als Strukturkomponenten erkennen: "das Engagement Jesu für die Geltung und die Herrschaft des Vaters und damit den Vorrang der Theozentrik; die Destruktion der falschen Gottesbilder; das spannungsreiche
Verhältnis von Zukunft und Gegenwart des verheißenen Heils und die Funktion Jesu selbst für das Nahekommen und das zukünftige Hereinbrechen der Basileia."50 Jesu unbedingter Nachfolgeruf stellt seine eigene Rolle im Mittelpunkt des Geschehens von Heilsangebot und Entscheidung heraus. Für die Christologie wird relevant, dass "die Gemeinschaft der Berufenen mit Jesus Einbeziehung in seine Haltung ist, Einbeziehung in seinen ,Glauben', das heißt: in seine gehorsam vertrauende Bejahung seiner Sendung".51

Auf der Basis dieser Überlegungen hat Thüsing einen Katalog von achtzehn Strukturkomponenten entwickelt, die er noch einmal unterteilt in ein durchgängig wirksames Strukturprinzip und fünf Gruppen von Einzelkomponenten.52 Das Struktur-
prinzip besteht in der "Spannungseinheit" von Anspruch Got-
tes und Schenken von Freiheit im Zusammenhang der Sendung Jesu. Die Einzelkomponenten gruppieren sich in A. Eschatologie und Theozentrik Jesu, B. die keimhafte Christologie Jesu, C. die von Jesus geforderten und gelebten religiös-ethischen Grundhaltungen, D. gemeinschaftstheologische Aspekte der vorösterlichen Jesusbewegung und E. die Stellung Jesu zu seinem Tod. Anschließend stellt Thüsing eine analoge Kriterienreihe zu den Strukturkomponenten des Osterglaubens auf. Sie soll dazu dienen, die "Neuheitsaspekte der nachösterlichen Transformation" zu erfassen, nämlich das "nachösterlich-neue Zusammendenken von Jesus und Gott" (sc. die Christologie), die "nachösterlich-neue Bestimmung des Soteriologischen" (sc. die Heilsbedeutung des Todes Jesu) und das "nachösterlich-neue Evangeliale und Ekklesiologische" (sc. die Universalität des Evangeliums und der Mission der Kirche).53

Thüsings Ansatz ist m. E. geeignet, das Jesus-Christus-Geschehen in seiner theologischen Bedeutung umfassend zu würdigen. Seine z. T. sehr dichte Sprache ist bewusst nicht "biblisch", sondern reflektierend und systematisierend. Sie erweist sich aber beim gründlichen Nach-Denken als den biblischen Zeugnissen durchaus angemessen und kann sie, reflektierend auf das Jesus-Christus-Geschehen als Ganzes, erhellen. Die verschiedenen, miteinander nicht systematisch ausgleichbaren Einzelzüge der Jesus-Überlieferung und der Zeugnisse frühchristlichen Osterglaubens erhalten dadurch einen Ort im Ganzen des Jesus-Christus-Geschehens, ohne dabei formalisiert oder schematisiert werden zu müssen. In diesem Sinne kann man den Überlegungen und Formulierungen Thüsings auch eine indirekte Textnähe zusprechen.

5. Die paulinische Theologie als exemplarische Konzeption einer neutestamentlichen Theologie

Abschließend soll als exemplarischer Entwurf einer neutestamentlichen theologischen Konzeption die paulinische Theologie in ihren Grundzügen zur Sprache kommen. Dabei müssen die folgenden Überlegungen zunächst noch skizzenhaft bleiben. Sie bedürfen der näheren Ausarbeitung in Diskussion mit der einschlägigen Fachexegese. Ich kann einstweilen lediglich in den Anmerkungen auf einige Gesichtspunkte hinweisen, die ich in verschiedenen anderen Zusammenhängen in Auseinandersetzung mit der dort jeweils genannten Literatur formuliert habe.

Im Horizont einer neuen Sicht auf Paulus ist mit der Besinnung auf Israel innerhalb der paulinischen Theologie die Gottesfrage als Grund jeder theologischen Reflexion und damit
auch der Rechtfertigungslehre neu in den Blick gekommen.54 Nach paulinischer Sicht, die ihren exemplarischen Niederschlag im Römerbrief gefunden hat, hat sich der eine Gott Israels im Christusgeschehen neu und endgültig offenbart (Röm 1,1-4. 16f.). Das charakteristische "nun aber" (Röm 3,21) markiert die Wende im geschichtlich erfahrbaren Handeln Gottes. Die Verheißung von Israels endzeitlicher Rettung hat Gott somit nirgendwo anders als im Geschehen von Tod und Auferweckung Jesu zur Erfüllung gebracht (Röm 3,21-26). Zugang zu diesem endzeitlichen Heilsgeschehen finden alle Menschen, Juden wie Heiden, nicht auf dem Weg des Gesetzes, sondern allein auf dem des Glaubens. Gerade darin hat sich der Gott Israels als Gott nicht allein der Juden, sondern auch der Heiden erwiesen (Röm 3,27-31).

Paulus deutet die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes im Christusgeschehen als Erfüllung der Verheißungen der Schrift über Israel und bringt sie in der Sprache der Schrift zum Ausdruck. Dieses paulinische Verständnis der Schrift als Zeugnis für das endzeitlich-neue Handeln Gottes im Christusgeschehen kann freilich nicht unmittelbar aus der Schrift bzw. der Glaubensüberlieferung Israels abgeleitet werden. Es ergibt sich nur und erst beim Lesen der Schrift aus der Perspektive des Christusgeschehens. Wer nicht Gott im Christusgeschehen erfahren hat, kann auch die Schrift nicht als Zeugnis dieses Geschehens lesen und verstehen. Dies ist die Perspektive der Juden, die in Jesus nicht den Messias, in dem Gekreuzigten nicht den von Gott auferweckten endzeitlichen Repräsentanten erkennen. Paulus kann freilich, ebenso wenig wie er Gott und sein Gesetz voneinander trennen kann, Gott und das Christusgeschehen voneinander trennen. Deshalb muss er auch den Juden gegenüber daran festhalten, dass der Weg in die endzeitliche Heilsgemeinschaft über Christus führt, nicht über das Gesetz. Das paulinische Evangelium gilt jedem, der glaubt, Juden und Heiden.

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Paulus und Jesus im Rahmen einer Theologie des Neuen Testaments muss m. E. nun lauten: Kann Paulus für seinen Anspruch, das endzeitliche Handeln Gottes an seinem Volk und seiner Schöpfung im Christusgeschehen zu verkündigen, sich theologisch zu Recht auf Jesus berufen, nicht freilich auf Jesus im Sinne einer isoliert zu rekonstruierenden Verkündigung des vorösterlich-historischen Jesus, sondern im Sinne des Gesamtphänomens von Wirken, Weg und Geschick Jesu im Licht des Bekenntnisses zu seiner Auferweckung durch Gott? Zur Beantwortung dieser Frage greifen wir noch einmal auf die Strukturkomponenten von Jesu Wirken, Weg und Geschick aus der Perspektive des Osterglaubens zurück.

Hinsichtlich des Verhältnisses von Eschatologie und Theozentrik im Wirken Jesu haben wir zu fragen, ob in der paulinischen Verkündigung die Botschaft Jesu von der unmittelbar andringenden Nähe der Gottesherrschaft in österlicher Transformation sachgemäß zur Sprache gebracht wird. Zur Beantwortung dieser Frage können wir auf den eschatologischen Charakter der paulinischen Missionspredigt verweisen, die in den von ihm gegründeten Gemeinden offenbar von Beginn an mit Geisterfahrungen verbunden war.55 Wir können weiter darauf verweisen, dass Paulus die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes im Christusgeschehen als Einbruch der endzeitlichen Gottesherrschaft in die Geschichte deklariert und das Rechtfertigungsgeschehen als Anbruch der neuen Schöpfung interpretiert.56

Im Blick auf die Spannungseinheit von eschatologisch-einzigartigem Anspruch Jesu und seiner "Theozentrik", d. h., der Wahrung der Einzigkeit Gottes, können wir darauf verweisen, dass auch bei Paulus die christologische Entfaltung des Glaubens an den Gott Israels dessen Einzigkeit gerade nicht gefährdet, sondern eschatologisch zur Geltung bringt. Nach 1Kor 8,6 tritt dem Bekenntnis zu dem einen Gott als Schöpfer der Welt und "Vater" Israels das Bekenntnis zu Jesus Christus, dem einen Herrn aller Glaubenden und "Mittler" der Schöpfung, an die Seite, nicht entgegen.57 Die Zuwendung des Evangeliums an
die Völker bleibt auf Israel als Gottesvolk rückbezogen und
somit Teil der einen universalen Heilsgeschichte des einen Gottes.58

Hinsichtlich des Verhältnisses von Zuspruch und Anspruch in der Forderung Jesu können wir darauf verweisen, dass die Tora wie im Frühjudentum59 und bei Jesus60 so auch bei Paulus Ausdruck des guten, ordnenden und heilsamen Willens Gottes für die Glaubenden bleibt, deren Forderungen im Liebesgebot exemplarischen Ausdruck finden.61 Wenn es aber um den Zugang zur eschatologischen Christuswirklichkeit geht, kommt allein die Gerechtigkeit Gottes zur Geltung, und zwar in Gestalt der souveränen Durchsetzung seiner Barmherzigkeit gegenüber der Sünde aller Menschen. Wir finden also auch bei Paulus die charakteristische Asymmetrie zwischen Gottes Forderung und der Zusage seiner Barmherzigkeit.

Schließlich lassen sich m. E. auch im Blick auf die Stellung Jesu zu seinem Tod Bezüge zur paulinischen Theologie herstellen. Dem inneren Zusammenhang von Wirken, Weg und Geschick Jesu entspricht bei Paulus die soteriologische Zuspitzung dieses Geschehens aus österlicher Perspektive auf die Versöhnung der Welt durch Gott. Der Grundzug der "Proexistenz Jesu" wird im Deutungszusammenhang paulinischer Theologie soteriologisch transformiert und angesichts der Herausforderungen seiner Missionsaufgabe interpretiert als Befreiungsakt, in dem sich Gott gegenüber den die Menschen beherrschenden Mächten von Sünde, Gesetz und Tod souverän durchsetzt.

Die paulinische Theologie erweist sich somit als eine charakteristische österliche Transformation der Jesus-Christus-Geschichte. Ihre exemplarische und normative Bedeutung wurzelt darüber hinaus im Anspruch des Paulus, als Apostel Jesu Christi mit seinem Missionswerk wie in seiner theologischen Reflexion und Argumentation selbst dem Christusgeschehen zu seiner eschatologischen Vollendung zu verhelfen. Gemessen an den erhobenen Strukturkomponenten von Jesu Wirken, Weg und Geschick kann dieser Anspruch als theologisch sachgemäß gelten.

Schluss: Gott in Christus (Meditation zu 2Kor 5,19 f.)

"Gott war in Christus", das steht da vor uns wie ein Pfeiler im Gelände, schwer zu begreifen, geradezu unzugänglich: Gott war in Christus, der Kernsatz "hoher" Christologie, die Zwei-Naturen-Lehre in nuce, ein Pfeiler in der Landschaft, geradezu abweisend. Lieber wären uns vielleicht ein paar bunte Blumen auf der theologischen Wiese, die Lilien auf dem Felde, die Vögel
unter dem Himmel, Jesus als Vorbild oder Lehrer der Weisheit,
Nächstenliebe, Ehrfurcht vor dem Leben und Bewahrung der Schöpfung, die Welt ganzheitlich-religiöser Erfahrung.

Aber von uns ist hier gar nicht die Rede, sondern von Gott und Christus, und - ganz unpersönlich - von der Welt, dem Kosmos: "und versöhnte die Welt mit sich und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu". Es geht um grundlegende, fundamentale Feststellungen, an denen nicht zu rütteln ist. Wie sollen sie uns zugänglich werden? Kann man so von Gott und den Menschen reden, so "objektiv"? Was hat diese theologische Welt, die Welt von Gott und Christus, von Übertretung und Anrechnung der Sünde, von Versöhnung zwischen Gott und dem Kosmos, was hat diese Welt mit mir zu tun, mit meiner Lebenserfahrung und meinem Glauben?

Das Wort von der Versöhnung, von dem das Neue Testament zeugt, das seinen Kern und seine Mitte ausmacht, kommt offenkundig nicht aus unserem Mund, entspringt nicht unseren Gedanken. Es wird uns vorgesetzt, hingestellt, hineingepflanzt in unsere Landschaft wie ein Pfeiler aus Beton: "Er hat unter uns aufgerichtet (themenos) das Wort von der Versöhnung." Aber dieses Wort kann, ja, soll zu unserem eigenen Wort werden. Botschafter an Christi Statt, für Christus sollen wir sein, nein: sind wir in dem Moment, wenn wir uns dem vor uns hingepflanzten Wort von der Versöhnung stellen. Hier erst kommen "wir" vor in diesem Wort. Jetzt wird es persönlich, jetzt eignen wir uns dieses vorgegebene Wort an: "So sind wir nun Botschafter an Christi Statt", so redet nun Gott durch uns, so sprechen wir aus, was Gott in Christus der Welt sagt: "Lasst euch versöhnen mit Gott."

Hier erst kommen Gott, Christus und wir Menschen zusammen, im Wort von der Versöhnung, das zum Dienst der Versöhnung wird. Gott in Christus, das Wort von der Versöhnung: Dass dieses Wort Dynamik in sich birgt, dass es heilsames Wort ist für uns Menschen wie für die Welt, das erfahren wir erst, wenn wir es uns aneignen, wenn wir es zu unserem Wort machen. Dann beginnt das Wort Gottes zu reden, zu uns selbst und zu anderen, ja sogar zur Welt!

Gottes Wort sich zu Eigen machen, das könnte Ziel sein für eine Theologie des Neuen Testaments. Dazu ist freilich mehr nötig als exegetische und historische Information. Dazu ist aber auch mehr nötig als das Wiederholen von biblischen Sätzen und theologischen Lehren. Dazu ist nötig die Bereitschaft, die vielfältigen Stimmen der neutestamentlichen Texte wahrzunehmen als das Zeugnis von dem einen Geschehen, in welchem Gott gegenwärtig wird, Gott uns Menschen begegnet und uns seine heilsame, versöhnende Macht erfahren lässt, wahrzunehmen das Zeugnis vom Christusgeschehen.

Summary

The unity of Scripture can neither be substantiated by its 'text' nor through specification of its "Mitte". It is to be gleaned from reference made by the New Testament texts to the Christ event. The function of Scripture vis-à-vis all ecclesiastical tradition and doctrine is differently accentuated in current documents.

Whereas 'Communio Scantorum' allocates Scripture a critical function vis-à-vis all other witnessing authorities, the VELKD document Traditionsaufbruch [Renewing Tradition] presents the Church as final judge over the Christ event as testified by Scripture. In order that Scripture can assert its independent authority vis-à-vis the Church, the Christ event in all its aspects must be taken into account and be understood in a coherent vision.

Fussnoten:

*Traugott Holtz zum 70. Geburtstag

1) Sie wurden beim akademischen Festakt der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg anlässlich des 70. Ge-burtstages von Prof. Dr. Traugott Holtz am 9. Juli 2001 vorgetragen.

2) H. Räisänen, Die frühchristliche Gedankenwelt. Eine religionswissenschaftliche Alternative zur "neutestamentlichen Theologie", in: C. Dohmen, T. Söding, Eine Bibel - zwei Testamente. Positionen Biblischer Theologie (UTB 1893), Paderborn u. a. 1995, 253-265: 256 f.; vgl. ders., Beyond New Testament Theology, London, Philadelphia 1990.

3) G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 13.

4) U. Luz, Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein? Über die Aufgabe der Exegese in einer religiös-pluralistischen Gesellschaft, NTS 44, 1998, 317-339: 327, der sich a. a. O., 326-331, kritisch mit der "linguistischen Wende" in der Exegese auseinandersetzt. Kritisch zu Luz wiederum M. Reiser, Bibel und Kirche. Eine Antwort an Ulrich Luz, TThZ 108, 1999, 62-81.

5) So mit T. Söding, "Mitte der Schrift" - "Einheit der Schrift". Grundsätzliche Erwägungen zur Schrifthermeneutik, in: T. Schneider, W. Pannenberg [Hrsg.], Verbindliches Zeugnis. III: Schriftverständnis und Schriftgebrauch (DiKi 10), Freiburg, Göttingen 1998, 43-82: 60-65.

6) Maßgeblich für die katholische Position sind die Festlegungen des Tridentinums hinsichtlich der Anzahl und Auswahl biblischer Schriften, ihrer verbindlichen Sprachgestalt im Wortlaut der Vulgata und der Unterordnung ihrer Auslegung unter die Autorität der Kirche (vgl. H. Denzinger, A. Schönmetzer [Hrsg.], Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, Freiburg 361976, Nr. 1501-1507; J. Neuner, H. Roos, Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, neu bearb. von K. Rahner, K.-H. Weger, Lizenzausg. d. 10. Aufl., Leipzig 1980, Nr. 87-93). Dass in der gegenwärtigen katholischen Exegese und Theologie hier sehr viel stärker differenziert wird, soll damit nicht in Abrede gestellt werden, vgl. etwa H. Fries, Kirche und Kanon. Perspektiven katholischer Theologie, in: W. Pannenberg, T. Schneider [Hrsg.], Verbindliches Zeugnis. I: Kanon - Schrift - Tradition (DiKi 7), Freiburg, Göttingen 1992, 289-314. Insbesondere ist evangelischerseits in jüngeren katholischen Stellungnahmen die stark betonte Rückbindung des Lehramtes an den sensus fidelium zur Kenntnis zu nehmen, vgl. bes. T.Söding, Neutestamentliche Exegese und Ökumenische Theologie. Probleme, Projekte und Perspektiven, in: Ökumene vor neuen Zeiten (FS T. Schneider), hrsg. v. K. Raiser, D. Sattler, Freiburg u. a. 2000, 99-131: 119f.; ders., Wissenschaftliche und kirchliche Schriftauslegung. Hermeneutische Überlegungen zur Verbindlichkeit der Heiligen Schrift, in: W. Pannenberg, T. Schneider [Hrsg.], Verbindliches Zeugnis. II: Schriftauslegung- Lehramt - Rezeption (DiKi 9), Freiburg, Göttingen 1995, 72-121: 84 f.; ders., Geschichtlicher Text und Heilige Schrift - Fragen zur theologischen Legitimität historisch-kritischer Exegese, in: C. Dohmen, C. Jacob, T. Söding, Neue Formen der Schriftauslegung?, hrsg. v. T. Sternberg (QD 140), Freiburg u. a. 1992, 75-130: 103 f.

7) Zur Grundlegung des hermeneutischen Modells bei Luther vgl. P. Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik (GNT 6), Göttingen 21986, 97-105; zur gegenwärtigen Diskussion vgl. ders., Biblische Theologie des Neuen Testaments. Bd. II: Von der Paulusschule bis zur Johannesoffenbarung. Der Kanon und seine Auslegung, Göttingen 1999, 304-321; J. Roloff, Die Autorität der Kirche und die Interpretation der Bibel. Eine protestantische Sicht, in: J. D. G. Dunn, H. Klein, U. Luz, V. Mihoc [Hrsg.], Auslegung der Bibel in orthodoxer und westlicher Perspektive. Akten des west-östlichen Neutestamentler/innen-Symposiums von Neamt vom 4.-11. September 1998 (WUNT 130), Tübingen 2000, 81-102; W. Schrage, Die Frage nach der Mitte und dem Kanon im Kanon des Neuen Testaments in der neueren Diskussion, in: Rechtfertigung (FS E. Käsemann), hrsg. v. J. Friedrich u. a., Tübingen, Göttingen 1976, 415-437. - Ob sich neben einem "katholischen" und neben einem "protestantischen" auch ein "orthodoxes" Einheitsmodell der Schrifthermeneutik idealtypisch beschreiben ließe, lässt sich gegenwärtig noch nicht erkennen, da der Prozess des gegenseitigen vertieften Kennenlernens zwischen "westlicher" (= evangelischer und katholischer) und "östlicher" (= orthodoxer) Exegese gerade erst beginnt. Dieser Beginn ist jetzt dokumentiert in dem in dieser Anm. o., bei Roloff, Autorität, bibliographierten Sammelband; vgl. dazu die ausführliche Würdigung von M. Reiser, Geist und Buchstabe. Zur Situation der östlichen und der westlichen Exegese, TThZ 110, 2001, 67-80. Ein zweites Symposium hat inzwischen im September 2001 im Rila-Kloster in Bulgarien stattgefunden. Grundlegende Bestimmungen zu Offenbarung, Heiliger Schrift, Tradition, Inspiration und Bibelkanon sind in den ökumenischen Dialogen der "Gemeinsamen Lutherisch-Orthodoxen Kommission" zwischen 1981 und 1989 erarbeitet worden, vgl. Lutheran-Orthodox Joint Commission, Agreed Statements 1985-1989, Divine Revelation, Scripture and Tradition, Canon and Inspiration, Geneva 1992.

8) Die theologische Bedeutung des neutestamentlichen Kanons für die neutestamentliche Exegese habe ich in einem demnächst erscheinenden Beitrag zum Colloquium Biblicum Lovaniense zu skizzieren versucht, s. K.-W. Niebuhr, Exegese im kanonischen Zusammenhang. Überlegungen zur theologischen Relevanz der Gestalt des neutestamentlichen Kanons, in: J.-M. Auwers, H. J. de Jonge [Hrsg.], The Biblical Canons (BEThL), Leuven.

9) Vgl. zum Verhältnis von theologischer und historisch-kritischer Schriftauslegung in der gegenwärtigen evangelischen und katholischen Exegese U. Wilckens, Schriftauslegung in historisch-kritischer Forschung und geistlicher Betrachtung, in: Pannenberg, Schneider, Verbindliches Zeugnis II (s. o., Anm. 6), 13-71; T. Söding, Geschichtlicher Text (s. o., Anm. 6), 115-130.

10) E. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, in: ders. [Hrsg.], Das Neue Testament als Kanon. Dokumentation und kritische Analyse zur gegenwärtigen Diskussion, Göttingen 1970 (Lizenzausgabe Berlin 1973), 124-133 (= EvTh 11, 1951/52, 13-21).

11) Das entscheidende Signal zum Aufbruch setzte die päpstliche Bibelenzyklika "Divino afflante Spiritu" (1943), veröffentlicht zusammen mit anderen einschlägigen offiziellen Stellungnahmen in: Über die zeitgemäße Förderung der biblischen Studien. Rundschreiben Pius' XII. Divino afflante Spiritu vom 3. September 1943 und wichtige römische Dokumente zur Heiligen Schrift, Stuttgart 1964 (Lizenzausgabe Leipzig 1965). Den seither zurückgelegten Weg der katholischen Exegese dokumentiert ein neueres offizielles Papier der Päpstlichen Bibelkommission: Die Interpretation der Bibel in der Kirche. Das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission vom 23.4.1993 mit einer kommentierenden Einführung von L. Ruppert und einer Würdigung durch H.-J. Klauck (SBS 161), Stuttgart 1995, in welchem in Abschnitt I. A. (a. a. O., 96-101) die historisch-kritische Methode nicht nur lehramtlich anerkannt, sondern geradezu für verbindlich erklärt wird. Nach Ruppert, a. a. O., 22, war die Bibelkommission der Überzeugung, "daß gerade diese Methode die unerläßliche Basismethode ist, ohne die oder gegen die jegliche Schriftauslegung Gefahr läuft, die Grundintention des biblischen Textes zu verfehlen". Anschließend weist Ruppert darauf hin, dass die historisch-kritische Methode beschrieben werde, "wie sie sich in ihrer heutigen, vor allem im deutschen Sprachraum weiterentwickelten Form präsentiert, welche durch die Einbeziehung auch synchroner methodischer Schritte gekennzeichnet ist". Eine kritische Reflexion der von der historisch-kritischen Methode beherrschten Exegese bietet J. Ratzinger, Schriftauslegung im Widerstreit. Zur Frage nach Grundlagen und Weg der Exegese heute, in: ders. [Hrsg.], Schriftauslegung im Widerstreit (QD 117), Freiburg u. a. 1989, 15-44.

12) Signifikantes Beispiel dafür sind die Lexikonartikel von G. Schneider und K. Kertelge zu den Stichwörtern dikaios ktl. im "Exegetischen Wörterbuch zum Neuen Testament", das von einem evangelischen (H. Balz) und einem katholischen Neutestamentler (G. Schneider) gemeinsam herausgegeben wurde, vgl. EWNT I, 1980, 781-810. In aller Breite dokumentiert wird die Annäherung der exegetischen Arbeit beider Konfessionen in der Kommentarreihe "Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament" (EKK).

13) Die Inhaltsübersicht zu den 22 Folgen der epd-Dokumentation zur "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre", EpdD 45, 1999, 70-76, nennt für den Zeitraum von August 1997 bis Oktober 1999 mehr als 350 publizierte Beiträge, darunter lediglich drei von Neutestamentlern (Alttestamentler finden sich gar nicht), von denen zwei Bischöfe sind (E. Lohse, J. Wanke). An einschlägigen Veröffentlichungen von Exegeten sind zu nennen: W. Klaiber, Gerecht vor Gott. Rechtfertigung in der Bibel und heute, Göttingen 2000; T. Söding [Hrsg.], Worum geht es in der Rechtfertigungslehre? Das biblische Fundament der "Gemeinsamen Erklärung" von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund. Unter Mitarb. v. F.-L. Hossfeld, K. Kertelge, H. Hübner, K.-W. Niebuhr, M. Theobald, U. Wilckens (QD 180), Freiburg u. a. 1999; E. Lohse, Rechtfertigung und Kirche, KuD 43, 1997, 111-123; M. Theobald, Rechtfertigung und Ekklesiologie nach Paulus. Anmerkungen zur "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre", ZThK 95, 1998, 103-117; F. Hahn, Gerechtigkeit Gottes und Rechtfertigung des Menschen nach dem Zeugnis des Neuen Testaments, EvTh 59, 1999, 335-346; M. Karrer, Rechtfertigung bei Paulus. Eine Reflexion angesichts der aktuellen Diskussion, KuD 46, 126-155; T. Söding, Der Skopos der paulinischen Rechtfertigungslehre. Exegetische Interpretationen in ökumenischer Absicht, ZThK 97, 2000, 404-433.

14) Communio Sanctorum. Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen. Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Paderborn, Frankfurt am Main 2000 (im Folgenden zitiert als CS mit Angabe der Ziffern).

15) S. o., Anm. 6.

16) Traditionsaufbruch. Die Bedeutung der Pflege christlicher Institutionen für Gewißheit, Freiheit und Orientierung in der pluralistischen Gesellschaft. Hrsg. im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD von D. Wendebourg und R. Brandt, Hannover 2001, 15-34 (im Folgenden zitiert als TA mit Angabe der Seiten).

17) Verwiesen sei hier nochmals auf die Publikation der mehrjährigen Arbeit des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen, hrsg. v. W. Pannenberg und T. Schneider, Verbindliches Zeugnis. I: Kanon - Schrift - Tradition (DiKi 7), Freiburg, Göttingen 1992; II: Schriftauslegung - Lehramt - Rezeption (DiKi 9), Freiburg, Göttingen 1995; III: Schriftverständnis und Schriftgebrauch (DiKi 10), Freiburg, Göttingen 1998. Vgl. zu Bd. II die ausführliche Besprechung von J. Zehner, Schriftauslegung und Lehramt. Zusammenfassung der neueren ökumenischen Diskussion. Perspektiven aus evangelischer Sicht, ThLZ 123, 1998, 943-954.

18) Besonders massiv von A. Beutel, Versöhnte Vielfalt? Hermeneutisch-methodologische Bemerkungen zu Bedeutung und Funktion der "Bezeugungsinstanzen" in "Communio Sanctorum", ZThK 98, 2001, 247-264, der im Blick auf den Abschnitt über die Heilige Schrift von "der unverkennbar katholisierenden Tendenz dieser bibelhermeneutischen Aussagen" (254) spricht. Eine ausgewogene Einführung in den Text bietet dagegen G. Wenz, Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen. Zum jüngsten Text der Bilateralen Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der VELKD, KuD 47, 2001, 42-66.

19) CS 40-73 ("1. Wort Gottes"). Eingeordnet sind diese Aussagen in den Teil "IV. Gemeinschaft der Heiligen durch Wort und Sakrament" (CS 35-89).

20) "Sie ,... betrifft die Frage, ob diese der Kirche im ganzen verheißene Untrüglichkeit im Glauben zum Ausdruck kommt und vermittelt wird durch bestimmte Strukturen (Bischofskollegium, Konzil, Papst), die der Kirche durch Christus eingestiftet sind und darum unter bestimmten Bedingungen unfehlbare Entscheidungen treffen können'." (CS 63 mit Zitat aus dem Dokument der Bilateralen Arbeitsgruppe "Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament" von 1984, Ziffer 13) Im Folgenden wird als "Kern des Problems" (CS 64) auf die Bindung des Lehramtes an die Autorität der Bischöfe und des Papstes nach katholischem Verständnis verwiesen, im Unterschied zur lutherischen Auffassung, wonach das "geordnete Zusammenwirken von ordinierten und nichtordinierten Gemeindegliedern ... auf die umfassende Übereinstimmung (magnus consensus)" zielt (CS 65 f.).

21) CS 67; zur Ausführung der Kontroverse vgl. CS 68: "Lutheraner glauben, daß die Heilige Schrift aufgrund der Zusage Gottes selbst die Kraft hat, die Wahrheit Gottes zur Geltung zu bringen und sich auszulegen (Autopistie). In der katholischen Kirche ist die Authentizität und Irrtumslosigkeit des kirchlichen Lehramtes selber Gegenstand des Glaubens." Als "gangbarer Weg" zu einer künftigen Verständigung wird der Ausgangspunkt bei der "Selbstauslegungskraft des Wortes Gottes" angesehen, also bei einer lutherischen Position, "die in modifizierter Form auch Inhalt des katholischen Glaubens ist". Verwiesen wird dabei auf das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission von 1993, das in Kap. III, B. 3. (s. o., Anm. 11, 144) ausdrücklich auf den ",Glaubenssinn' (sensus fidei), der das ganze Volk (Gottes) auszeichnet" verweist. Vgl. dazu auch die o., Anm. 6, notierten katholischen Positionen.

22) Beide Kirchen "stimmen auch darin überein, daß das Empfangen, Erkennen und Bezeugen der Wahrheit Aufgabe der Kirche als ganzer ist und daß hierbei verschiedene Erkenntnis- und Bezeugungsinstanzen zusammenwirken müssen" (CS 45). Die unbefangene Rede von "unseren" bzw. "beiden Kirchen" durchzieht das gesamte Dokument von seinem Vorwort an.

23) Auch in diesem Zusammenhang wird der sensus fidelium akzentuiert. Der Glaubenssinn der Gläubigen wird in Analogie gesehen zur lutherischen Position von "der Verantwortung aller Glaubenden, jeweils an ihrem Ort Zeugnis für den Glauben zu geben, und andererseits in dem Recht und der Pflicht, die dargebotene Lehre auf ihre Schriftgemäßheit zu prüfen" (CS 58). Ausdrücklich wird als gemeinsame Position festgestellt: "Der Glaubenssinn der Gläubigen darf nicht reduziert werden auf die Zustimmung zu den anderen Erkenntnis- und Bezeugungsinstanzen." (CS 59) "Die Manifestationen des sensus fidelium sind eine Bereicherung, Befruchtung und Vertiefung des Glaubens. Sie haben Rückwirkungen auf die Theologie und das Amt und können zu deren Korrektiv werden." (CS 60)

24) Vgl. auch CS 72 (44): "Das kirchliche Lehramt in den verschiedenen Formen, wie es jeweils in unseren Kirchen von den hierfür bevollmächtigten Instanzen wahrgenommen wird, hat die Aufgabe, durch Interpretation und Verkündigung den Gehalt des Wortes Gottes zu bewahren, gegen Irrtümer zu verteidigen und so der Einheit zu dienen. Dieses Lehramt steht unter dem Wort Gottes und darf die Schrift nur auslegen und so die apostolische Tradition weitergeben. Hierzu bedarf das Lehramt der wissenschaftlichen Theologie, der Impulse der Gläubigen und der Aufnahme (Rezeption) seiner Entscheidungen durch diese."

25) CS 72 (43). Auch zur Tradition wird hier nochmals ausdrücklich festgestellt: "Als Auslegung des Wortes Gottes steht sie unter der Norm der Schrift".

26) Die Aussagen zur Heiligen Schrift und zum Wort Gottes (TA 27-34) stehen unter der Überschrift "Die Christusbotschaft als Kanon im Gottesdienst, die Heilige Schrift und das Bekenntnis". Sie sind eingeordnet in Teil A ("Die christliche Überlieferung und ihre Pflege") und gehören hier in Kapitel I ("Die christliche Überlieferung und die Entstehung des Glaubens") zu Abschnitt 2 ("Das glaubenweckende Wirken des Heiligen Geistes und die christliche Überlieferung"). Voran geht ein Abschnitt über "Die Entstehung des Glaubens", in dem zu Beginn "Der Grund des Glaubens in der Offenbarung Gottes" behandelt wird.

27) TA 30: "Die Heilige Schrift ist als diese schriftliche Gestalt der österlichen Christusbotschaft selber in einem Überlieferungsprozeß zustande gekommen. Daher kann und darf sie ihm gegenüber nicht abstrakt verselbständigt werden. Vielmehr kommt es darauf an, das Überlieferungsgeschehen, in das die Heilige Schrift eingebettet ist, richtig zu verstehen."

28) TA 27. Die Rede von der "österlichen Christusbotschaft als Kanon im Gottesdienst" findet sich in mancherlei Variationen immer wieder.

29) Alle Zitate TA 27.

30) TA 32 f.: "Diese Normativität der Schrift für alle Überlieferungsvollzüge wird zwar schon in einigen Texten der Heiligen Schrift selbst angedeutet (2Tim 3,16), aber der eigentliche Ort für die ausdrückliche Erklärung und Entfaltung der kritischen Normativität der Heiligen Schrift in Bezug auf alle menschlichen Überlieferungsakte ist das kirchliche Lehrbekenntnis ... Das Bekenntnis ist diejenige Institution innerhalb der christlichen Überlieferung, durch die die Überlieferung selbst festhält, daß sie auf die exklusive Normativität der Heiligen Schrift verpflichtet ist, und zwar auf eben die exklusive Normativität der Heiligen Schrift, die allein darin begründet ist, daß in ihr die inspirierte Christusbotschaft gegeben ist, und die allein so weit reicht, wie dies der Fall ist. Das Bekenntnis sagt in diesem Sinne die Heilige Schrift als norma normans aus und sich selbst als norma normata."

31) TA 31: "Es ist ausschließlich dieses Offenbarungshandeln Gottes selbst, welches die Überlieferung ermöglicht, verlangt und ihr, indem es sie für seine fortlaufende Selbstvergegenwärtigung frei benutzt, Identität, Einheit und Kontinuität verleiht. Damit ist aber auch klar, daß, warum und inwieweit der Heiligen Schrift ein einzigartiger Rang in der christlichen Überlieferung und für diese zukommt. Dieser Rang kommt ihr zu, weil sie die exklusive Normativität der Christusbotschaft als Kanon im Gottesdienst für alle Überlieferungsvollzüge und ihre Resultate festhält und repräsentiert."

32) Vgl. TA 31, Anm. 21: "Es bleibt also eine Aufgabe, auch den Überlieferungsprozeß, der zur Heiligen Schrift als der schriftlichen Gestalt der Christusbotschaft geführt hat, an der Christusbotschaft selbst zu prüfen."

33) Vgl. K.-W. Niebuhr, Heidenapostel aus Israel. Die jüdische Identität des Paulus nach ihrer Darstellung in seinen Briefen (WUNT 62), Tübingen 1992, 66-78; ders., Jesus Christus und der eine Gott Israels. Zum christologischen Gottesglauben in den Paulusbriefen, Bekenntnis (= FuH) 34, 1995, 10-29.

34) "Im Lichte dieses durch das Evangelium als Kraft Gottes erschlossenen Verständnisses der Christusoffenbarung vermochte - und vermag - die Kirche alle Gestalten der Bezeugung dieser Offenbarung, alle Formulierungen der Christusbotschaft auf ihre Sachgemäßheit hin zu beurteilen. Sie hielt und hält fest, was sich ihr dabei als Zeugnis, das der Christusoffenbarung als seinem Grund und Gegenstand gemäß ist, also als eine wahre Gestalt der Christusbotschaft eingeprägt hat. Sie unterschied und unterscheidet bis heute, was zum Kern der Botschaft und damit auch ins Zentrum des Kanons im Gottesdienst gehört und was an seinen Rand; und sie stellt auch fest, was der Christusbotschaft nicht gerecht wird." (TA 30)

35) Gegen den offenkundigen Wortlaut der Vorlage will Beutel in seiner streckenweise undifferenzierten und unsachlichen Kritik auch dies in Abrede stellen (Versöhnte Vielfalt [s. o., Anm. 18], 259). Seiner Polemik gegen einen "weithin un- bzw. vorkritische[n] Schriftgebrauch" und seiner Forderung nach "professionell betriebenem exegetischen Handwerk" (250) bzw. nach einem "argumentativen Rekurs auf die Bibel" gemäß "den Standards historisch-kritischer Exegese, die an den katholisch- und evangelisch-theologischen Fakultäten in einhelliger methodischer Sorgfalt gelehrt und gepflegt werden" (264), würde man noch lieber zustimmen, wenn seine eigenen Darlegungen etwas davon erkennen ließen.

36) CS 40 (mit Zitat aus Dei Verbum 4).

37) Vgl. auch die Problemskizze von F. Hahn, Vielfalt und Einheit des Neuen Testaments. Zum Problem einer neutestamentlichen Theologie, BZ 38, 1994, 161-173, der a. a. O., 165, feststellt: "Jedenfalls greift die bloße Frage nach der Mitte des Neuen Testaments zu kurz. Damit ist ja lediglich ein Verweis auf die Tatsache des gemeinsamen Christuszeugnisses gegeben, ohne daß im einzelnen expliziert wird, wie die zweifellos vorhandene Konvergenz der Zeugnisse konkret aussieht."

38) Hinter dieser Formulierung verbergen sich Anliegen und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, wie sie der katholische Neutestamentler Wilhelm Thüsing in seinem großen Werk, das er leider nicht mehr vollständig ausführen konnte, entworfen hat: Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus. Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments. Bd. I: Kriterien aufgrund der Rückfrage nach Jesus und des Glaubens an seine Auferweckung, Münster 21996; Bd. II: Programm einer Theologie des Neuen Testaments mit Perspektiven für eine Biblische Theologie, Münster 1998; Bd. III: Einzigkeit Gottes und Jesus-Christus-Ereignis, hrsg. v. T. Söding, Münster 1999; Bd. IV: Exemplarische Darstellungen zu neutestamentlichen Theologien (in Vorbereitung). Ausdrücklich hingewiesen sei in unserem Zusammenhang auf die tiefschürfenden Überlegungen Thüsings "Zu den Fragen nach der ,Mitte der Schrift' und dem ,Grund des Glaubens'" (so die Überschrift zu Kapitel 6.3 in Bd. II, a. a. O., 169-185).

39) Für den Zusammenhang von Osterkerygma und Botschaft und Wirken Jesu als Basis einer neutestamentlichen Theologie plädiert auch Hahn, Vielfalt (s. o., Anm. 37), 166 f.

40) Vgl. hierzu die grundsätzlichen Ausführungen von I. U. Dalferth, Jenseits von Mythos und Logos. Die christologische Transformation der Theologie (QD 142), Freiburg u. a. 1993, 247-295.

41) So auch Dalferth, a. a. O., 292: "Christliche Theologie hat es mit einem anderen Text zu tun, da sie das Alte Testament nur im Kontext des Neuen Testaments kennt. Wird dieser Zusammenhang ignoriert, dann hat man es theologisch nicht mehr mit dem Alten Testament zu tun, auch wenn man sich mit Texten beschäftigt, die sich gleichermaßen in den heiligen Schriften der Synagoge und der Kirche finden. Denn nicht diese Texte als solche, sondern diese Texte in dem durch das Neue Testament angezeigten christozentrischen Kontext sind das, was eine nach dem Wort Gottes fragende Theologie auszulegen hat, für die Gottes Wort vollgültig in der Geschichte Jesu Christi zur Darstellung gekommen ist."

42) Vgl. B. Janowski, "Verstehst du auch, was du liest?" Reflexionen auf die Leserichtung der christlichen Bibel, in F.-L. Hossfeld [Hrsg.], Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie (QD 185), Freiburg u. a. 2001, 150-191. Janowski entwickelt, ausgehend von einer Interpretation der lukanischen Erzählungen vom äthiopischen Kämmerer (Apg 8,26-39) und von den Emmaus-Jüngern (Lk 24,13-35), das Modell einer "zweifache[n] Leserichtung der christlichen Bibel": "Es geht also weder um den verborgenen christologischen Sinn der Schrift, den es zu erheben gilt, noch entsteht das Christusbekenntnis aus der Schrift. Es entsteht vielmehr aus dem Glauben an Jesus als den Christus, der nicht die Schrift, sondern sich selbst im Horizont der Schrift auslegt. Dem entspricht, dass die Zusammenstellung der beiden Testamente zu der einen zweigeteilten christlichen Bibel nicht einfach aus dem Gedanken einer historischen Kontinuität zwischen Israel und Kirche entsteht, sondern die Absicht verfolgt, eine theologische Kontinuität zu behaupten, die aber als kontrastive Einheit zu bestimmen ist. Diese - wegen der bleibenden ,Israelerinnerung' der Kirche nicht aufhebbare - Spannung ist der hermeneutische Wegweiser zur Lektüre der zweigeteilten christlichen Bibel, die zugleich das ,Alte Testament' als kanonische Schrift des Judentums (Bibel Israels) respektiert." (a. a. O., 181)

43) Mit diesen Bestimmungen versuche ich in der Diskussion um eine "gesamtbiblische Theologie" Stellung zu nehmen, ohne schon auf einen eigenen ausgeführten Entwurf verweisen zu können. Einige skizzenhafte Überlegungen habe ich formuliert in K.-W. Niebuhr [Hrsg.], Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung (UTB 2108), Göttingen 2000, 28-31. Zur aktuellen Diskussionslage vgl. Dohmen/Söding, Bibel (s. o., Anm. 2); T. Söding, Entwürfe Biblischer Theologie in der Gegenwart. Eine neutestamentliche Standortbestimmung, in: H. Hübner, B. Jaspert [Hrsg.], Biblische Theologie. Entwürfe der Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 1999, 41-103.

44) Zur gegenwärtigen Diskussion um Kriterien bei der Rekonstruktion eines Gesamtbildes vom Wirken Jesu vgl. als Einführung G. Theißen, A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 21997, 96-124, weiterhin G. Theißen, D. Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium (NTOA 34), Göttingen, Fribourg 1997; A. Scriba, Echtheitskriterien der Jesus-Forschung, Stuttgart angekündigt für 2001, sowie die Sammelbände von B. Chilton/C. A. Evans [Hrsg.], Studying the Historical Jesus. Evaluations of the State of Current Research (NTTS 19), Leiden 1994; dies., Authenticating the Activities of Jesus; Authenticating the Words of Jesus (NTTS 28,1.2), Leiden 1999, und das "Themenheft: Jesus Christus" der Zeitschrift für Neues Testament (1, 1998).

45) S. o., Anm. 38. Zum methodischen Ansatz s. Bd. I, 21-53.

46) I, 57-207.

47) I, 32.

48) Vgl. I, 37-43.

49) I, 65. Vgl. zum Begriff "das Eschatologisch-Neue" I, 75 f.

50) I, 67.

51) I, 68.

52) Vgl. dazu die detaillierte Übersicht in Bd. I, 208-211.

53) I, 139-144.

54) Vgl. dazu K.-W. Niebuhr, Die paulinische Rechtfertigungslehre in der gegenwärtigen exegetischen Diskussion, in: Söding [Hrsg.], Rechtfertigungslehre (s. o., Anm. 13), 106-130.

55) Vgl. 1Thess 1,5 f.; Gal 3,1-5; 1Kor 2,3 f.; 12,3. Vgl. dazu K.-W. Niebuhr, Identität und Interaktion. Zur Situation paulinischer Gemeinden im Ausstrahlungsfeld des Diasporajudentums, in: J. Mehlhausen [Hrsg.], Pluralismus und Identität (VWGTh 8), Gütersloh 1995, 339-359: 350-353.

56) Vgl. Röm 1,16 f.; 2Kor 5,17; Röm 8,1 ff. Vgl. dazu Niebuhr, Heidenapostel (s. o., Anm. 33), 74-77; ders., Rechtfertigungslehre (s. o., Anm. 54), 124-126.

57) Vgl. dazu Niebuhr, Jesus Christus (s. o., Anm. 33), 23-28. Zu Gott als "Vater Israels" vgl. bes. a. a. O., 11-16.

58) Vgl. Röm 11,11-32. Vgl. dazu Niebuhr, Heidenapostel (s. o., Anm. 33), 171-175.

59) Vgl. dazu K.-W. Niebuhr, Gesetz und Paränese. Katechismusartige Weisungsreihen in der frühjüdischen Literatur (WUNT 2, 28), Tübingen 1987, 232-242; ders., Rechtfertigungslehre (s. o., Anm. 54), 118-123.

60) Vgl. dazu K.-W. Niebuhr, Die Antithesen des Matthäus. Jesus als Toralehrer und die frühjüdische weisheitlich geprägte Torarezeption, in: Gedenkt an das Wort (FS W. Vogler), hrsg. v. C. Kähler, M. Böhm, C. Böttrich, Leipzig 1999, 175-200; ders., Weisheit als Thema biblischer Theologie, KuD 44, 1998, 40-60.

61) Vgl. nur Gal 5,14; Röm 13,8-10. Zur Bedeutung der Tora für die paulinische Paränese vgl. K.-W. Niebuhr, Tora ohne Tempel. Paulus und der Jakobusbrief im Zusammenhang frühjüdischer Torarezeption für die Diaspora, in: B. Ego, A. Lange, P. Pilhofer [Hrsg.], Gemeinde ohne Tempel - Community without Temple. Zur Substituierung und Transformation des Jerusalemer Tempels und seines Kults im Alten Testament, antiken Judentum und frühen Christentum (WUNT 118), Tübingen 1999, 427-460.