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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1333–1335

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Lüdemann, Ernst August [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Vision: Gemeinde weltweit. 150 Jahre Hermannsburger Mission und Evangelisch-lutherisches Missionswerk in Niedersachsen.

Verlag:

Hermannsburg: Verlag der Missionshandlung in Hermannsburg 2000. 798 S. m. zahlr. Abb. gr.8. Lw. DM 75,-. ISBN 3-87546-120-7.

Rezensent:

Jobst Reller

Zum Jubiläum 1999 geplant, aber ein Jahr später erschienen ist der umfangreiche, sorgfältig edierte und mit vielen Fotos versehene Band von insges. 798 S. zur Hermannsburger Missionsgeschichte der letzten 150 Jahre - einer großen Bewegung, die von Ludwig Harms als Bauernmission aus einem Dorf in der Lüneburger Heide ausgehend heute partnerschaftliche Beziehungen zu Kirchen in allen Kontinenten pflegt.

Nach Geleitworten des damaligen Landesbischofs Horst Hirschler (23-25) und einer Einleitung durch den gegenwärtigen Direktor des Missionswerkes Ernst August Lüdemann (27-31; Nachwort 741-761) folgen Beiträge zur Gesamtgeschichte wie zu fast sämtlichen Arbeitsfeldern der Geschichte des Werkes in Südafrika, Indien, Persien, Nord- und Südamerika, Australien und Neuseeland, Äthiopien und Zentralafrika. Nur die volksmissionarische Arbeit in Deutschland, die etwa in der Isolierungszeit nach dem 1. Weltkrieg eine beachtliche Rolle spielte, ist nicht eigens dargestellt.

Am Ende jedes Beitrages sind in der Regel Literaturangaben, Zeittafeln und wichtige Dokumente aus der behandelten Periode mitgeteilt, so dass der Band auch als Quellensammlung dient. Die wohl durchdachte Systematik des Bandes nebst Anhängen zu missionstheologischen Begriffen (763-768), Sach- wie Personenregister (769-788), Karten- und Bildnachweisen machen das Werk zu einem praktischen und unentbehrlichen Handbuch eines bedeutenden Teils der norddeutschen Missionsgeschichte. Die allgemeinverständliche Sprache macht das Buch für einen breiten Leserkreis wie auch für Kirchen- und Missionsgeschichtler interessant.

Martin Tamcke gibt zu Anfang (33-125) einen gerafften Überblick über die Geschichte von 1849-1959. Dabei fußt er für die Zeit unter dem großen Gründer Ludwig Harms 1849-65, seinem Bruder und Nachfolger Theodor Harms 1865-85, Egmont Harms 1885-1916 im Wesentlichen auf der letzten großen Gesamtdarstellung, der hannoverschen Missionsgeschichte des vormaligen Direktors der Missionsanstalt Georg Haccius, von 1909-1920 in vier Bänden erschienen (101, Anm.1). Die anschließenden Überblicke über die Arbeit der Direktoren Schomerus (1926-43) und August Elfers (1943-59) tragen nach seinen Worten noch vorläufigen Charakter. Damit legt Tamcke ein Problem der Hermannsburger Missionsgeschichte offen, das unten noch einmal aufzunehmen sein wird, die bisher unzureichende wissenschaftliche Erforschung der Quellen. Tamcke bietet eine knappe instruktive Darstellung. Sein psychologisches Urteil über den angesichts von Rückschlägen enttäuschten, dem politisch-restaurativen Typus des 19. Jh.s zugehörigen Ludwig Harms kann hingegen auf der Basis des ausgebreiteten Materials nicht überzeugen (46). Aber über Person und Werk des Gründers, der seinerseits papierener Bürokratie abgeneigt war und damit historische Forschung erschwert, ist trotz der Studien von Hartwig F. Harms (1998) und Christopher W. Grundmann (1994) das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Hartwig F. Harms stellt mit großer Detail- und Hintergrundkenntnis die Entwicklung der Missionsanstalt zum evangelisch- lutherischen Missionswerk in Niedersachsen dar (seit 1977; 127-232). Die wechselseitige Beziehung von Trägerkirchen und bis dahin eigenständig auf Spendenbasis arbeitenden Missionen und ihren Partnerkirchen wird in ihren Facetten deutlich.

Interessantes Anschauungsmaterial bietet die dargebotene Missionsgeschichte mit Anwendungsbeispielen lutherischer Ethik und der Zwei-Reiche-Lehre. Das ausgewiesen lutherische Profil der Hermannsburger Arbeit vergangener Tage steht außer Zweifel. Konfessorisch führte es in Indien zur strikten Ablehnung des Kastenwesens, damit aber umgekehrt auch zum Ausschluss der oberen Gesellschaftsschichten vom christlichen Glauben (Grafe, 368 f. zum Kastenstreit 1871-1873). In Südafrika wird auf offene Stellungnahme gegen die Apartheid (Voges, 281 f.321 ff.) bis zum Kairos-Dokument 1985 eher verzichtet. Im Äthiopien der Revolution bittet Kirchenpräsident Emmanuel Abraham (Bauerochse, 676 f.) die Partner in Europa um Zurückhaltung trotz massivster mörderischer Übergriffe der Revolutionsregierung. Die Situationsbedingtheit lutherischer Ethik wird deutlich.

Hans Walter Krumwiede hat in seiner Kirchengeschichte Niedersachsens das Fehlen historisch-kritischer Forschungen zu Hermannsburg vermerkt, das bisher Vorliegende als teilweise legendarisch-unzuverlässig beschrieben und neue Forschung angemahnt. Archivarisches Quellenmaterial ist in Fülle vorhanden, eine wissenschaftliche Aufarbeitung in Einzelstudien fehlt aber weitestgehend noch, wenn auch die Arbeitsfeldbeiträge im vorliegenden Band bereits als historische, quellengestützte Studien gelten müssen: Heinrich Voges über Südafrika von 1854 an (233-355), Hugald Grafe über die Lutherische Südandrakirche seit 1864, die ev.-luth. Kirche des barmherzigen Samariters seit 1978 und die ev.-luth. Tamil-Kirche seit 1977 (357-443), Hartwig F. Harms über Australien und Neuseeland 1861-ca. 1900 (445-490), Martin Tamcke über die Arbeit unter Nestorianern und Kurden 1868-1939 (511-47), Ernst Bauerochse über Äthiopien von 1927 an (585-709) und Wolfgang Marwedel über Zentralafrika seit 1978 (711-739).

Reinhart Müller hat in den Beiträgen zu Nord- (1854-1912) und Südamerika (seit 1898) in diesem Band ein eher erinnerndes bzw. praktisch-theologisches, gegenwärtige Arbeit präsentierendes Interesse (491-510 bzw. 549-584). Die historischen Einzelstudien zu diesen beiden Arbeitsfeldern hat er aber im Falle Südamerikas angekündigt bzw. für Nordamerika bereits 1998 vorgelegt: "Die vergessenen Söhne Hermannsburgs in Nordamerika" (in der Reihe ,Quellen und Beiträge zur Geschichte der Hermannsburger Mission und des ev.-luth. Missionswerkes', Bd.VII). In derselben Reihe haben auch die meisten anderen Autoren des Bandes vertiefende Arbeiten angekündigt.

Mit der kritischen oder besser wissenschaftlichen Erforschung der neueren Missionsgeschichte ist erst ein Anfang gemacht. Im Fall der Hermannsburger sind da die Studien von Fritz Hasselhorn, Bauernmission in Südafrika (1988) und Wolfgang Proske, Botswana und die Anfänge der Hermannsburger Mission (1989) zu nennen; eine Göttinger Dissertation über den ersten Indienmissionar August Mylius durch Joachim Lüdemann steht kurz vor dem Abschluss. Viel ist zu tun, aber der vorliegende Band ist ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg.

Spezifische Leitgedanken in 150 Jahren Missionsgeschichte auf fast allen Kontinenten auszumachen, fällt auch dem Nachwort schwer. Aber vielleicht ist genau das spezifisch. Man hat in Hermannsburg immer die im Augenblick mögliche Verkündigung des Evangeliums angepackt im Zusammenwirken von Missionsleitung, Freundeskreisen und Mitarbeitenden und heute Partnerkirchen vor Ort. Äthiopien war verschlossen, im Süden Afrikas öffnete sich ein Feld. Wer die Herzen, Augen und Hände offen hat, wird immer neue Felder für das Evangelium entdecken.