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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1318–1320

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Kuld, Lothar, u. Stefan Gönnheimer

Titel/Untertitel:

Compassion. Sozialverpflichtetes Lernen und Handeln.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2000. 160 S. u. 59 S. Anhang gr.8. Kart. DM 35,-. ISBN 3-17-016304-3.

Rezensent:

Günter Böhm

Wenn in einem Buchtitel der zentrale Begriff in seiner fremdsprachlichen Fassung beibehalten wird, deutet dies auf Schwierigkeiten beim Versuch einer exakten Übersetzung. Compassion mit "Mitleid" wiederzugeben wäre nach Meinung der Autoren des vorliegenden Bandes höchst missverständlich, denn diese "sicher ambivalente, historisch betrachtet auch riskante Vokabel" bezeichne "Hilfsbereitschaft, aber auch Selektion und ,tödliches Mitleid'" (8). Compassion meint Mitleidensfähigkeit, will "Leiden, welcher Art und aus welchen Gründen auch immer, nicht indifferent hinnehmen", ist eine "Haltung der engagierten Mitmenschlichkeit" (8).

In religiöser Sinngebung ist Compassion - nach J. B. Metz - die Haltung uneingeschränkter, universeller Solidarität mit den Armen und Leidenden in der Nachfolge Jesu von Nazareth, insofern das "Schlüsselwort" des Christentums überhaupt (10). In dieser Sinngebung liegt nach Meinung der Autoren sicherlich die Grenze der Übertragbarkeit des unter diesem Begriff entwickelten Praktikumsprojekts auf Schule und Gesellschaft als ganzes, während die "Zumutung sozialverpflichteten Handelns" im oben erläuterten Sinn allgemein gelten dürfe und in einer Phase verstärkter Individualisierung der Lebensentwürfe und wachsender Entsolidarisierung der Gesellschaft als gesellschaftspolitischer Impuls und pädagogisches Handeln dringend gefordert sei (7).

Damit ist das Motiv des Projekts "Compassion" genannt, das ursprünglich im Auftrag einer Arbeitsgruppe der Zentralstelle Bildung der Katholischen Deutschen Bischofkonferenz für Schulen in kirchlicher Trägerschaft entwickelt und in der Zeitschrift "Engagement" 1994 erstmals beschrieben worden ist. Der vorliegende Band enthält den zusammenfassenden Bericht über die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung des zwischen 1996/97 und 1997/98 durchgeführten Modellversuchs in Baden-Württemberg mit zunächst vier, danach mit acht (kirchlichen und staatlichen) Schulen, zu denen noch drei als Kontrollgruppe hinzugezogen wurden. Waren in der Pilotphase 180 Schüler einbezogen, so wurden in der Hauptphase 300 Praktikanten erfasst, zu denen in der Kontrollgruppe noch 150 Schüler hinzukamen. Als Schulform wurde das Gymnasium mehrfach, die Realschule, Hauptschule und Förderschule je einmal berücksichtigt. Die für die Praktika angesetzten Zeiträume liegen absichtlich in unterschiedlichen Jahrgangsstufen, um die Realisierbarkeit des Ansatzes sowohl in der Sekundarstufe II als auch in der Sekundarstufe I erproben zu können. Die zur Auswertung verfügbaren Fallzahlen bilden dadurch allerdings eine etwas schmale Basis. Es kann den Verfassern aber bestätigt werden, dass sie bei den statistischen Prozeduren, insbesondere bei der Analyse der Ergebnisse vor verschiedenen Hintergrundvariablen, sehr behutsam vorgehen und die Grenzen ihres empirisch ermittelten Datenmaterials beachten.

Die Autoren stehen an der Nahtstelle von schulischer Praxis und Erziehungswissenschaft: Gönnheimer ist Gymnasiallehrer, Kuld ist Hochschullehrer an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe, die die wissenschaftliche Begleitung des Projekts verantwortet hat. Die Projektbeschreibung ist um den Nachweis empirischer Zuverlässigkeit bemüht, will aber nicht weniger nachdrücklich Praktiker für das Projekt aufschließen und motivieren. Sie umfasst eine gesellschaftspolitische und bildungstheoretische Begründung des Projekts vor dem Hintergrund unseres heutigen Wissens über die moralische Entwicklung Heranwachsender, differenziert hier einleuchtend zwischen Jungen und Mädchen, nimmt auf neuere Erhebungen zu Wertorientierungen in unserer Gesellschaft Bezug und arbeitet kritisch Ertrag und Grenzen erlebnispädagogischer Ansätze auf. Das Spezifikum des Compassionprojekts - die Verbindung von Praktikumserfahrung mit begleitendem Unterricht - wird damit plausibel entwickelt. An dieser Stelle liegt allerdings auch das von den Autoren nicht geleugnete Problem. Die Schwierigkeit einer gelingenden Verzahnung von Praktikum und Unterricht mit dem Ziel, eine entsprechende Handlungsbereitschaft bei den Schülern zu fördern, ist ein wichtiges Ergebnis der Untersuchung. Es verweist auf notwendige Veränderungen in den Einstellungen der Lehrkräfte ebenso wie auf den erheblichen Bedarf an gesicherten Erfahrungen im Bereich ethischer Erziehung und Bildung.

Im Hinblick auf den u. a. durch die Shell-Studie 1997 festgestellten Befund, dass sich bei der Wertorientierung heutiger Jugendlicher Eigeninteresse/Individualismus und Altruismus keinesfalls ausschlössen, gingen die Autoren bei der in mehreren Schritten durchgeführten Befragung von der Hypothese aus, dass in dem Maße, in dem die Praktikanten das Projekt für sich selbst als persönlichen Gewinn betrachten würden, sie "ihr Engagement für andere als bereichernd betrachten und Handlungsbereitschaft im Sozialen entwickeln werden" (19).

Die Untersuchung der Einstellungen vor und nach dem zweiwöchigen Praktikum in Krankenhäusern, Altenheimen, Behinderteneinrichtungen, in geringerem Maße auch in Kindergärten, erwies eine hohe Akzeptanz des Projekts. Für 90 % der Befragten waren die Erfahrungen ein persönlicher Gewinn, auch wenn sie während dieser Unterbrechung ihres Schülerdaseins nicht selten eigene Grenzen feststellen mussten. Positiven Einfluss auf die konstruktive Einstellung der Schüler hatte dabei die Elternbeziehung: Je positiver die Eltern zu dem Vorhaben standen, desto offener waren auch die Jugendlichen darauf eingestellt. Ebenfalls positiv wirkte sich eine kirchliche Einbindung aus, wobei die Autoren auf Grund einer genauen Analyse nüchtern feststellen: "Es ist nicht religiöse Selbstverpflichtung, von der die Jugendlichen sprechen. Die Kirche rangiert bei ihnen wie anderen auch am Ende der Rangskala der für sie wichtigen Einrichtungen. Trotzdem scheint das kirchliche Milieu, wahrscheinlich in Verbindung mit einer entsprechenden Familienkultur, noch immer so beschaffen zu sein, dass es jene altruistischen Verhaltensbereitschaften auszubilden vermag, die im Compassion-Projekt zur Geltung kommen" (152).

In einer Phase, in der nicht nur Schulen in evangelischer Trägerschaft mit steigender Aufmerksamkeit diakonisches Lernen thematisieren und Diakoniepraktika einrichten, sondern auch staatliche Schulen - wie in den neuen Thüringer Lehrplänen - Soziales Lernen in den Vordergrund rücken, verdient die vorliegende Studie über das Compassion-Projekt besondere Aufmerksamkeit. Es ist nicht zuletzt ein Beleg für die innovatorische Dynamik, die das im Grundgesetz ausdrücklich bejahte Schulwesen freier Träger für das Schulwesen insgesamt in unserer Gesellschaft besitzt, und sollte damit auch den Kirchen in einer Zeit finanzieller Engpässe die Dringlichkeit eines verstärkten bildungspolitischen Engagements vor Augen führen.