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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1317 f

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Hueck, Nikolaus

Titel/Untertitel:

Lerngemeinschaft im Erziehungsstaat. Religion und Bildung in den evangelischen Kirchen in der DDR.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2000. IV, 255 S. gr.8. Kart. DM 68,-. ISBN 3-579-02656-9.

Rezensent:

Michael Domsgen

Zehn Jahre eines wieder vereinten Deutschland geben Gelegenheit zum Rückblick und zur Bestandsaufnahme. Der Prozess des Zusammenwachsens zwischen Ost und West verläuft nicht so reibungslos, wie anfänglich gedacht und erhofft. Auch im Zusammenspiel der evangelischen Kirchen gab und gibt es unterschiedliche Positionen: vor allem bei denjenigen Fragen, die die gesellschaftliche Rolle der Kirchen betreffen. Nikolaus Hueck widmet sich in seiner Dissertation einem dieser Problembereiche, indem er die Frage der Bildungsverantwortung thematisiert und "die Entstehungsbedingungen jener Motive" zu analysieren versucht, "die bei ostdeutschen Kirchenvertretern eine Zurückhaltung bei der Übernahme gesellschaftlicher Bildungsverantwortung hervorrufen" (6).

Methodisch arbeitet er in einer "Kombination von historischer und systematisch-theologischer Perspektive" (7). H. beleuchtet Stationen im Verhältnis von Staat und Evangelischer Kirche in der DDR und nimmt die katechetische Theoriebildung in den Blick. Dabei betont er, dass die Fragen der Katechetik grundlegend waren für die Formulierung einer ostdeutschen Ekklesiologie. Gleich eingangs vermerkt er, dass eine "Mitwirkung am Bildungswesen außerhalb der Gemeinde ... von den Voraussetzungen der Katechetik her nicht zu legitimieren" (10) war. Ganz bewusst stellte sich die Katechetik gegen die Tradition einer Beteiligung der Kirchen an den gesellschaftlichen Bildungsprozessen, indem sie sich gegen den Bildungsbegriff wandte, in dem man ein unsachgemäßes Autonomiestreben erblickte. Diese Kritik am neuzeitlichen Bildungsgedanken bildete nach H. den Hintergrund für die Entstehung einer "spezifisch ostdeutschen Rückzugsekklesiologie" (10).

In fünf Schritten versucht H., seine These vom Zusammenhang zwischen theologischer Bildungskritik und dem kirchlichen Rückzug aus der Gesellschaft zu untermauern. Zuerst skizziert er die äußeren Rahmenbedingungen, unter denen sich die pädagogische Reflexion der ostdeutschen Kirchen vollzog (13-42). Knapp umreißt er die Entwicklung des sozialistischen Bildungssystems bis 1965 und beleuchtet den Erziehungs- und Bildungsbegriff in der DDR. Anschließend widmet er sich ausführlich dem Verhältnis von Bildung und Religion (43-117). Für H. gehört die "Teilnahme der Kirchen an den gesellschaftlichen Bildungsprozessen zum Proprium kirchlicher Arbeit" (48). Mehrfach verweist er auf die Unverzichtbarkeit des Bildungsbegriffs, da er aus seinen religiösen Traditionen das "Mo-ment der Unverfügbarkeit" (49) von Beginn an transportiert und sich damit als "strukturanalog zu religiösen Grundfunktionen" (98) erweist. Um das zu belegen, referiert er Schleiermacher, der Religion und Bildung grundsätzlich für vereinbar hält.

Dass dieser Zusammenhang zwischen Religion und Bildung im 20. Jh. auf Seiten der Theologie heftig bestritten wurde, belegt H. in der Auseinandersetzung mit Karl Barth und Oskar Hammelsbeck (118-143). Hier tritt Bildung "geradezu als Widerpart von Religion" auf und "verliert alle Zuständigkeiten für den Bereich, der die wahre Identität des Menschen begründet: das Gottesverhältnis" (142). Diese Kritik führte zu einem Rückzug der Kirchen aus der traditionellen Bildungsverantwortung. Welche Auswirkungen diese Position für die evangelischen Kirchen in der DDR hatte, untersucht H. in einem weiteren Schritt (144-210). Seine These dabei lautet: "Die ,Christenlehre' oder die spezifisch ostdeutsche Form der Gemeindepädagogik sind Elemente einer Theorie der Kirche als ,Lerngemeinschaft', die - äußerer Notwendigkeit und innerer Einsicht folgend - wahres Lernen nur im Raum der im Gegenüber zur Gesellschaft befindlichen Kirche für realisierbar hält" (146). Die staatlichen Repressionen im Bildungsbereich wurden von den Kirchen durchaus zur Sprache gebracht, doch ging es dabei nicht um eine Beteiligung am Bildungssystem. Die "Rolle der Kirchen als kulturprägender Faktor ... wurde nicht nur von staatlicher Seite negiert. Auch in der Selbstwahrnehmung einer zunehmenden Anzahl von Theologen und Kirchenfunktionären spielte die kulturelle Bedeutung der Kirchen und damit die kirchliche Bildungsverantwortung keine Rolle mehr" (160).

Trotzdem jedoch blieb es nicht nur bei der Kritik am Bildungssystem. Auch "die Konzeption und Durchführung eigener, freilich in ihrem Umfang stark begrenzter öffentlicher Alternativangebote läßt sich in der Praxis der kirchlichen Arbeit in der DDR beobachten" (211). H. benennt in einem abschließenden Kapitel die Schulbuchanalyse von 1986/87 sowie das sächsische Fernstudium "stud.christ" als Beispiele dafür (211-238). Er sieht darin einen Beleg, dass die Praxis dazu anregte, "die - einerseits von außen, andererseits von der ekklesiologischen Theorie gezogenen - Grenzen der Kirchen zu überschreiten und sich gesamtgesellschaftlich zu engagieren" (212). Ob sich hier - wie H. in seinen zusammenfassenden Thesen (239-242) vermerkt - "Elemente einer älteren, die Legitimität des neuzeitlichen Bildungsgedankens anerkennenden theologischen Tradition erhalten" (239) haben, bleibt zu fragen, da doch gerade die Schulbuchanalyse zuallererst vom Lernort Gemeinde aus denkt. Eigene konzeptionelle Vorstellungen zur Gestaltung der Schule tauchen hier explizit noch nicht auf. Die werden erst im Zuge des IX. Pädagogischen Kongresses formuliert.

Insgesamt gesehen liefert H. eine interessante Darstellung des Problems, wobei anzufragen ist, ob der zeitgeschichtliche Aspekt im Vergleich zu den systematischen Überlegungen genügend Raum findet. Auf alle Fälle bietet dieses Buch einige gute Anregungen, um den Bildungsaspekt innerhalb der Diskussion um die gesellschaftliche Rolle der ostdeutschen Kirchen zu bedenken.