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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1313–1315

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Fraas, Hans-Jürgen

Titel/Untertitel:

Bildung und Menschenbild in theologischer Perspektive.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2000. 274 S. 8. Kart. DM 78,-. ISBN 3-525-61381-4.

Rezensent:

Horst F. Rupp

In den vergangenen knapp zwei Jahrzehnten hat die pädagogische Wissenschaft den lange Zeit vermiedenen und verdrängten Begriff der "Bildung" wiederentdeckt. War man in den Jahren zuvor auf "Ersatzbegriffe" bzw. Äquivalente aus anderen Wissenschaftsfeldern wie Sozialisation, Identität, Qualifikation, Emanzipation u. ä. ausgewichen, so besinnt man sich seit dieser Zeit wieder auf den vermeintlich pädagogisch autochthonen Begriff der Bildung, der damit eine geradezu erstaunliche und kaum mehr für möglich gehaltene Renaissance feierte. Und auch die Theologie bzw. die Religionspädagogik denken neu über den Bildungsbegriff und die Möglichkeit einer semantischen Kompatibilität mit ihren eigenen Anliegen nach. Insbesondere wären hier die einschlägigen Arbeiten von Reiner Preul (1980), Karl-Ernst Nipkow (1990 und 1998), Peter Biehl (1991) und Horst F. Rupp (1994 bzw. 21996) zu nennen. Die Theologie kann dabei gleichsam ein Anciennitätsrecht für sich in Anspruch nehmen, da - betrachtet man nämlich die Geschichte des Bildungsbegriffs - die pädagogische Verwendung von Bildung erst ab dem 18. Jh. datiert, er jedoch zuvor schon seit dem Spätmittelalter in einem religiös-theologischen Verwendungskontext erscheint. Nicht weniges von dieser religiös-theologischen Semantik transportiert der Bildungsbegriff auch nach seinem Ortswechsel in die Pädagogik - meist unerkannt! - mit sich.

Vor kurzem hat nun auch der inzwischen emeritierte Münchner Religionspädagoge Hans-Jürgen Fraas einen entsprechenden Entwurf vorgestellt, der unter dem Titel "Bildung und Menschenbild in theologischer Perspektive" eine theologische bzw. religionspädagogische (Wieder-)Annäherung an den Bildungsbegriff versucht.

Das Werk weist folgende Gliederung auf: Nach einleitenden Überlegungen zum "Sinn von Bildung" reflektiert ein erster Abschnitt über die "Veränderbarkeit des Menschen als Voraussetzung von Bildung und die Bedeutung des Glaubens für das Lernen". Ein erster Exkurs "Über die Vermittelbarkeit des Glaubens" schließt sich hier an. Der zweite Hauptabschnitt bietet grundlegende Überlegungen zum Verhältnis von "Erziehung und Menschenbild". Hier liegt natürlich das inhaltliche Zentrum der Fraasschen Ausführungen. Der Autor erinnert daran, dass der Bildungsbegriff notwendig auf ein Menschenbild angewiesen ist und dass hier natürlich gerade die christliche Religion und Theologie substantiell etwas anzubieten haben. Das dritte Kapitel zeichnet die "Geschichte des Bildungsbegriffs" nach, beginnend mit seiner christlich-theologischen Herkunft bei Meister Eckhart, Martin Luther, J. A. Comenius und A. H. Francke über die "Emanzipation des Bildungsverständnisses von der Theologie" etwa bei Paracelsus von Hohenheim und W. Ratke, hin zu den Vermittlungsversuchen, die mit den Namen Herder, Schleiermacher und Hegel verbunden sind, bis zur neuhumanistischen Bildungstheorie Humboldts; dieses historische Kapitel wird abgeschlossen mit einem Blick auf bildungskritische Bewegungen sowohl der Theologie wie aber auch innerhalb der Pädagogik, samt ihren "Gegenbewegungen gegen den Subjektivismus", wie sie etwa in der sog. "empirischen Wende" oder auch der "Wissenschaftsorientierung" zu sehen sind. Das vierte Kapitel des Werkes befasst sich mit der ethischen Dimension des Bildungsbegriffes. Hier wird vom Autor ein Überblick über die ethische Diskussion der vergangenen dreißig Jahre geboten, von der Grundwertediskussion der siebziger Jahre bis hin zur postmodern-pluralistischen Situation der Ethik in der Gegenwart.

Eingelagert in dieses Kapitel sind zwei weitere Exkurse, einer zur Werteproblematik im ethischen Kontext sowie ein weiterer zu den psychoanalytischen Konzepten "Ödipus und Narziß". In diesem letztgenannten Exkurs sichtet der Autor die beiden in ihrer Begrifflichkeit aus der griechischen Mythologie entlehnten psychoanalytischen Modelle, die den Wandel in der Sozialisation der nachwachsenden Generationen beschreiben: von einem Modus der Sozialisation, der sich in der Auseinandersetzung mit der übermächtigen Vaterfigur abarbeitete hin zu dem Modus, dem gleichsam die Vaterfigur abhanden gekommen ist und der sich in selbstbezogener liberalistischer Triebbefriedigung ergeht. Das abschließende fünfte Kapitel steht unter der Überschrift "Die Rückkehr zum Bildungsbegriff und der Beitrag der Theologie" und wird vom Vf. mit einem ausführlichen Exkurs zum "Bildungsauftrag der Kirche" eingeleitet. Hier beschreibt F. das sog. "Bildungsdilemma" der Kirche, das darin besteht, dass sie einerseits natürlich ein Interesse an den gesellschaftlichen Bildungsbemühungen haben, andererseits aber feststellen muss, dass die Neigung zum Austritt steigt, je höher der Bildungsgrad der Menschen ist. Nichtsdestotrotz schließt sich F. aber der von Nipkow formulierten Theorie kirchlicher bzw. evangelischer Bildungsverantwortung an, die sich in drei konzentrischen Kreisen realisiert (vgl. 201): Im engsten Kreis sind die innerkirchlichen pädagogischen oder Bildungs-Aktivitäten angesprochen, also etwa Konfirmandenarbeit, gemeindepädagogische Aktivitäten u. ä. Im zweiten Kreis ist das Feld des Religionsunterrichts lokalisiert, das die Kirche in Kooperation mit dem Staat gestaltet. Und im dritten, weitesten Kreis schließlich ist die übergreifende Verantwortung der Kirche im gesamtgesellschaftlichen Bildungsdiskurs unserer Zeit betroffen "mit dem Ziel einer humanen Bildung für alle, weil Bildung auf das Wesen des Menschseins ausgerichtet ist und damit einen Auftrag der biblischen Botschaft anspricht, der weit über die spezifisch religiöse Erziehung hinausgeht" (201). Dieses letzte Kapitel des Buches thematisiert aber vor allem die anthropologischen Grundlagen, die die Religion mit dem Bildungsbegriff verknüpfen: F. ortet hier drei Dimensionen, die die Religion im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung bedeutsam machen: die Leiblichkeit, die Sozialität und schließlich die Transzendentalität. Und: "Bildung muß den Menschen zur Wahrnehmung und Ausgestaltung seiner Bestimmung befähigen. Aufgabe der Theologie ist es, die vollständige Wahrnehmung dieser in ihrer dreifachen Struktur anzumahnen" (229). Überlegungen zu "Protestantismus und die postmoderne Freiheit" sowie zu "Globalisierung und Regionalisierung" runden den Band ab.

Die Stärke des hier zu besprechenden Bandes ist in der exzellenten Kompetenz seines Vf.s zu sehen, die Theologie bzw. Religionspädagogik ins Gespräch mit den Humanwissenschaften, insbesondere natürlich der Religionspsychologie, der Entwicklungs- und der pädagogischen Psychologie zu bringen, und dies im vorliegenden Falle vermittelt über den Bildungsbegriff. So scheinen neue Dimensionen und Aspekte des Bildungsbegriffes auf, die in den bislang geführten Diskursen in dieser Form noch nicht thematisiert worden sind. Damit hat mit Sicherheit der Bildungsbegriff auch an theologischer Tiefendimension gewonnen.