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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1311–1313

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Asbrand, Barbara

Titel/Untertitel:

Zusammen Leben und Lernen im Religionsunterricht. Eine empirische Studie zur grundschulpädagogischen Konzeption eines interreligiösen Religionsunterrichts im Klassenverband der Grundschule.

Verlag:

Frankfurt/M.: IKO 2000. VII, 261 S. 8. Kart. DM 39,80. ISBN 3-88939-535-X.

Rezensent:

Rudolf Englert

Die Vfn. dieses aus einer erziehungswissenschaftlichen Dissertation hervorgegangenen Buches vertritt die Auffassung, dass ein nach Konfessionen getrennter Religionsunterricht im Kontext einer integrativ orientierten Grundschule ein Fremdkörper sei. Die Grundschule brauche eine neue Form des Umgangs mit religiöser Pluralität - und zwar auf der Basis nicht äußerer Differenzierung, sondern gemeinsamen Miteinander-Lebens und -Lernens. Als zukunftsfähig könne von daher allein ein Religionsunterricht im Klassenverband gelten. Die Frage sei "nur" noch, "wie ein solcher gemeinsamer Religionsunterricht in religiös heterogen zusammengesetzten Klassen didaktisch gestaltet werden kann" (1). Die Vfn. geht davon aus, dass innovative Konzepte zunächst nicht in der Theorie, sondern in der Praxis entstehen. Sie versucht daher, die didaktischen Prinzipien eines grundschultauglichen Religionsunterrichts durch eine qualitativ-empirische Analyse von im Verdacht besonderer Innovationskraft stehenden Unterrichtsformen zu entdecken. Aus ihrer Sicht bietet sich dafür vor allem der interreligiös konzipierte Religionsunterricht nach dem sog. "Hamburger Modell" an. Für die Untersuchung wurden drei Grundschul-Klassen ausgewählt, deren Schüler und Schülerinnen durchweg aus Brennpunkt-Stadtteilen mit einem hohen Ausländeranteil kommen.

Unter den Gesichtspunkten "Religion", "Identität" und "Interreligiosität" erläutert die Vfn. ihr Vorverständnis interreligiösen Lernens. Diesen theoretischen Perspektiven lässt sie jeweils eine empirische Analyse ausgewählter Unterrichtssequenzen folgen. Im Lichte dieser Befunde werden die theoretischen Vorannahmen dann nochmals überprüft.

Religion. Sowohl der "substantielle" als auch der "funktionale" Religionsbegriff erscheinen der Vfn. unzulänglich. Im Anschluss an Detlev Pollack sucht sie nach einer Synthese zwischen beiden Sichtweisen und bestimmt Religion als das Zusammenspiel religiöser Fragen und religiöser Antworten - eine Definition, von der allerdings erst noch zu zeigen wäre, dass es sich bei ihr um eine signifikante und nicht doch nur um eine gewöhnliche Tautologie handelt. Die Analyse des empirischen Materials zeigt, dass sich die Kinder für (religiöse) Fragen, die sie existentiell betreffen, und auch für konkrete religiöse Phänomene (bestimmte Geschichten, Feste und Bräuche, heilige Bücher, heilige Räume usw.) interessieren, nicht aber für "abstrakte theologische Vorstellungen und Begriffe". Die Vfn. sieht den Religionsunterricht von daher in der Gefahr, Kinder zu überfordern: durch symbolische Sprache, durch Verweise auf Hintergründiges, durch Vergleiche z. B. christlicher und islamischer Traditionen usw. Die Lehrpläne des Religionsunterrichts an Grundschulen seien entsprechend zu revidieren.

Identität. Die Vfn. setzt sich hier mit der für interreligiöse Lernprozesse grundlegenden Frage auseinander, wie das Verhältnis von religiöser Identität und religiöser Pluralität entwicklungsgerecht zu bestimmen sei. Vor dem Hintergrund identitätstheoretischer Überlegungen plädiert sie dafür, dass Kinder im Religionsunterricht von Anfang an mit religiöser Pluralität konfrontiert werden sollten. Der EKD-Denkschrift "Identität und Verständigung", die in diesem Punkte anders argumentiert, hält die Vfn. vor, sie sei an einem eindimensionalen, substantiellen Identitätsbegriff orientiert und setze "religiöse Identität" gleich mit der Identifikation mit einer religiösen Tradition. Im Unterschied zur Familie gehe es in der Schule aber nicht um die Ausprägung religiöser Identifikationen, sondern um Information und Auseinandersetzung. Wenn dabei nun freilich, wie es im interreligiösen Religionsunterricht häufig der Fall sei, sehr stark auf religiöse Praktiken abgehoben würde, stelle sich die Frage, wie die Ausgrenzung von Kindern ohne religiösen Sozialisationshintergrund vermieden werden könne.

Interreligiosität. Die Perspektivik der Vfn. ist in diesem Punkt zunächst durch die Pluralistische Religionstheologie und ihr "Dialogparadigma" bestimmt. Konstitutiv dafür ist, dass interreligiöse Begegnung als die gemeinsame Wahrheits-Suche religiös gebundener Menschen gedacht wird. Es zeigt sich jedoch, dass da, wo interreligiöses Lernen in den untersuchten Klassen wirklich gelang, in keinem einzigen Fall der dialogische Ansatz zielführend war bzw. dass da, wo man sich konzeptionell dem Dialogparadigma verpflichtet fühlte, eine Reihe schwerwiegender unterrichtspraktischer Probleme entstand: so etwa die Erhebung muslimischer Kinder in den Expertenstand für "ihre" Religion, die, so gut sie gemeint sein mag, schnell sowohl zu einer Überforderung als auch zu einer Diskriminierung dieser Schüler und Schülerinnen führen kann. Auch eine auf die Entdeckung von Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen unterschiedlichen religiösen Traditionen (z. B. Abraham/Ibrahim) abzielende Unterrichtsarbeit ging offensichtlich am Interesse der Kinder vorbei. Von daher revidiert die Vfn. ihr Vorverständnis und deklariert im Anschluss an Sundermeier die "Konvivenz" zum Ziel interkultureller Hermeneutik. "Die These dieser Arbeit ist, daß die Gemeinsamkeiten der Kinder auf der individuellen und der Beziehungs-Ebene den Umgang mit radikaler Pluralität auf der Ebene der Religionen und der Religiosität ermöglichen." (223 f.)

Das Buch stellt einen weiterführenden Beitrag zur Theorie und Praxis interreligiösen Lernens dar. Die hier aus erziehungswissenschaftlicher Sicht geleistete Auseinandersetzung mit religionspädagogisch einflussreichen "Religions-", "Identitäts-" und "Interreligiositätskonzepten" macht auf wichtige weiter diskussionswürdige Punkte aufmerksam. Das - allerdings ziemlich schmale - empirische Material der Unterrichtsprotokolle verschafft dieser Problemanzeige zudem eine hohe Anschaulichkeit. Es wird sehr deutlich, in welche Untiefen man mit interreligiösen Lernformen geraten kann. Etwas ärgerlich ist allerdings, wie undifferenziert und wie wenig sachkundig die Vfn. über den konfessionellen Religionsunterricht und die durchaus auch in diesem Rahmen gegebenen Möglichkeiten interreligiösen Lernens urteilt. Insgesamt ist die Arbeit in kritisch-analytischer Hinsicht deutlich stärker als in prospektiver: Ich jedenfalls finde nicht, dass die von der Vfn. als beispielhaft bezeichneten Unterrichtssequenzen wirklich zufriedenstellen können. Die Beispiele verstärken eher noch die Befürchtung, dass das im Grunde erfreuliche Bemühen der Vfn. um eine lebensweltliche Verankerung religiösen Lernens manchmal doch sehr auf Kosten seiner fachlichen Solidität gehen könnte. Doch auch wenn sie sich von manchen Thesen vielleicht distanzieren werden: Die an Fragen interreligiösen Lernens interessierten Leserinnen und Leser werden die Studie allemal mit Gewinn lesen.