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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1299 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Anselm, Reiner

Titel/Untertitel:

Ekklesiologie als kontextuelle Dogmatik. Das lutherische Kirchenverständnis im Zeitalter des Konfessionalismus und seine Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. 269 S. gr.8 = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 94. Kart. DM 94,-. ISBN 3-525-56203-9.

Rezensent:

Heinrich Assel

Bonhoeffers Forderung: "Es wäre gut, eine Dogmatik einmal nicht mit der Gotteslehre, sondern mit der Lehre von der Kirche zu beginnen, um über die innere Logik des dogmatischen Aufbaus Klarheit zu stiften" (Sanctorum Communio, 85), ist seit längerer Zeit die Programmformel einer Ekklesiologie, die zur Fundamentaldisziplin der Dogmatik wird. Der Vf. legt mit seiner Münchner Habilitationsschrift aus der Schule T. Rendtorffs eine Variante dieses Programms vor (246): Eine deskriptiv-normative Ekklesiologie soll über die innere Logik kontextueller Dogmatik Klarheit stiften. Kirchentheorie sei dazu als "Kombination von dogmatisch-struktureller und empirisch-christentumssoziologischer Ausarbeitung des Kirchenbegriffs" aufzubauen (20, vgl. 11-29).

Diesen Zugang will der Vf. durch den Nachweis plausibilisieren, dass die protestantische Theoriegeschichte der Ekklesiologie präzise diesem Programm gefolgt sei: Das lutherische Kirchenverständnis im Zeitalter des Konfessionalismus habe faktisch eine deskriptive Glaubenslehre individueller Frömmigkeit und eine normative Christentumssoziologie in Form der Drei-Stände-Lehre kombiniert (zweiter Teil, 139-231). Die Rezeptionsgeschichte im 19. und 20. Jh. bringe diese latente Anlage ans Licht (erster Teil, 30-138). Diese Theoriegeschichte wird abschließend zu einer ekklesiologischen Skizze zusammengefasst (232-248).

Der Aufbau des Buches führt mithin eine Vorentscheidung durch, mit der sich der Vf. von der altlutherischen Prinzipienlehre im Kern unterscheidet, sofern deren Methoden-, Geltungs- und Wahrheitstheorie Lehre von Gottes Offenbarung im Wort war. Dies sei aber historisch überholt: "Früher noch als die ständische Orientierung zerbrach die zweite, zeitgebundene Voraussetzung der altlutherischen Kirchenlehre: ihre selbstverständliche Annahme einer suprarationalen Schriftautorität ..." (236). Jede heutige Kirchentheorie, die Kirche konstitutiv als creatura verbi divini verstehe, bleibe daher "geschichtsloses Konstrukt" (16, vgl. 11-13). Wegweisend sei hingegen, dass die altlutherische Ekklesiologie im 19. und 20. Jh. rein funktional rekonstruiert wurde, nämlich als kontextuelle Kirchentheorie. Detailreiche Analysen der Kirchentheorie und Orthodoxie-Rezeption im konfessionalistisch-organizistischen Episkopalismus F. J. Stahls (30-52, v. a. 34-38), in der Gemeindetheologie A. Ritschls und K. Hackenschmidts (53-103, v. a. 63-75) und im charismatisch-organizistischen Episkopalismus der Lutherrenaissance bei G. Holstein und F. Schenke (104-138, v.a. 108-115) führen dies vor.

Diese Idealtypik möglicher Rezeptionen bildet den Grund, um die lutherische Kirchentheorie am Beispiel J. Gerhards als Prolegomenon kontextueller Dogmatik zu aktualisieren (139-150): Der Charakter der "Barocktheologie" (160) erfordere die "gegenseitige Korrelation" (169) von dogmatisch-konfessioneller Bestimmung, frömmigkeitsvermittelter Belebung und institutionell-politischer Sozialisierung christlicher Individualität, kristallisiert in der "Vorstellung der unio mystica" (165, 150-170). Gerhards Kirchentheorie wird unter dieser Maxime als "Soziologie des Christentums in normativer Absicht" (171) vorgestellt. Um die "Symmetrieachse" (177.234) der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche ,gruppierten' (177) sich hier:

(1) Eine antirömische Theorie der Kirchenmitgliedschaft, die Christsein als nicht anstaltskirchliche, aber nie unkirchliche individuelle Glaubensgewissheit bestimmt habe (der eschatologische Sinn des Rechtfertigungsglaubens wird vom Vf. übergangen, 176-195).

(2) Eine Amts- und Vokationstheorie, die das ministerium ecclesiasticum (CA 5) mit dem ordo ecclesiasticus (CA 14) identifiziert und den göttlich gestifteten Lehrstand als Garant der Lehrreinheit professionell normiert habe (die Diskussion um die Differenz von CA 5 und 14 bleibt abgeblendet, 190-195.195-211).

(3) Eine christentumssoziologische Stände-Lehre, welche gegenüber territorialem Frühabsolutismus, traditionaler Ständehierarchie und frühbürgerlicher Emanzipation variable Koalitionen und Widerstände ermöglicht habe; verbunden damit eine naturrechtlich-gebotsethische Theorie des Staatskirchenrechts und eine Tugendlehre des christlichen Fürsten zum Gebrauch für Hofprediger (211-231).

Insgesamt entsteht das Bild einer funktionalen Kirchentheorie, welche die lutherische Partikularkirche und Frömmigkeit als wahrhaft katholische und christliche legitimiert und sie berufsständisch, sozial- und mentalitätsgeschichtlich normiert habe. Selbstbehauptung lutherischer Kirchlichkeit und Selbstauflösung des supranaturalistischen Kirchenverständnisses gingen dabei Hand in Hand (208-211.235 f.). Im Methodenbündel von dogmatischer Theoriegeschichte und Kirchen-, Sozial-, Rechts- und Frömmigkeitsgeschichte der frühen Neuzeit gibt diese Studie so eine Probe vom Nutzen der Historie für das christlich-individuelle Leben und seine ,institutionelle Reflexion' (23, vgl. 245-248).

Zwei Fragen bleiben unbeantwortet: Rechtfertigt die Konstruktion von Rezeptionen der orthodoxen Kirchentheorie die Maxime, ihren eigenen Geltungsanspruch zu übergehen? Das ist zunächst schlicht eine Anfrage an die historische Interpretation. Wäre die These des Vf.s nicht mindestens durchzuführen an Ekklesiologie und Prinzipienlehre J. Gerhards?

Der Vf. beschränkt sich hingegen auf eine Analyse der topischen Ekklesiologie Gerhards im Sinn seines Programms. Das ist methodisch ein Zirkel. Die Ekklesiologie ist nämlich in der altlutherischen Dogmatik bereits in den Prolegomena präsent, z. B. durch die Unterscheidung von wahrer und falscher Religion, welche die Sozialität des Glaubens vorprägt. Wichtiger noch ist eine theologische Anfrage: Erfüllt der Vf. den Anspruch, eine fundamentaltheologische Beschreibung von Kirche zu liefern, die methodische Klarheit für eine Theorie der Theologie stiftet?

Dazu könnte er auf deutschsprachigen und angelsächsischen Vorarbeiten aufbauen (z. B. G. Sauter; G. Wainwright; G. Lindbeck; M. Welker; Chr. Schwöbel; R. Hütter), die eine deskriptive Theorie der Kirche im Sinne Bonhoeffers anstreben. Doch die dort geführte Diskussion über Logik und Soziologie der Dogmatik bleibt unberücksichtigt. Stattdessen benennt der Vf. zwar das Desiderat: "Da ... die Realitätswahrnehmung maßgeblich von den zur Verfügung stehenden kategorialen Mustern beeinflusst wird, liegt in diesem Bereich die wohl gravierendste theoretische Herausforderung für die dogmatische Ekklesiologie der Gegenwart." (243) Man wünschte sich aber, dass die Untersuchung mehr zur Behebung dieses Desiderats beitrüge.