Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1296–1298

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Krötke, Heike

Titel/Untertitel:

Selbstbewußtsein und Spekulation. Eine Untersuchung der spekulativen Theologie Richard Rothes unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Anthropologie und Theologie. Hrsg. von H.-W. Schütte.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1999. VIII, 344 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 103. Lw. DM 168,-. ISBN 3-11-016695-X.

Rezensent:

Matthias Heesch

Die Theologie Richard Rothes nimmt in gewisser Weise eine Zwischenstellung im Ganzen der Theologie des 19. Jh.s ein. Einerseits ist Rothe als Schleiermacher-Schüler und in selbständiger Aneignung vor allem der philosophischen Ethik aber auch der Hermeneutik seines Lehrers ein früher Pionier des historisch-hermeneutischen Denkens: Nach Rothes Theorie bietet das, näherhin evangelische, Christentum auf seinem jeweiligen Entwicklungsstand die geschichtlichen Voraussetzungen für (geschichtlich-relativ) angemessene theologische Erkenntnis, die demzufolge an einen bestimmten Ort in der Geschichte gebunden ist und sich damit von dieser geschichtlichen Lokalisierung her sowohl begründet als auch relativiert. Demgegenüber steht aber der Anspruch Rothes, mit Hilfe eines subjektivitätsmetaphysischen Ansatzes eine universale Theorie der Wirklichkeit und insbesondere eine Theologie aus reinen Begriffen als Theorie der transzendentalen Konstitution dieser Wirklichkeit zu bieten. Zwar löst sich die Spannung grob gesehen so, dass Rothe eben die geschichtliche Einbindung der universalen Theorie (Spekulation) vertritt und dass geschichtliche Ermöglichung der spekulativen Theorie und Geschichtsdeutung von jener Theorie her eine Art hermeneutischen Zirkel bilden. Dennoch besteht eine latente Spannung zwischen der auf absolute Erkenntnis zielenden Spekulation und ihrer impliziten Relativierung durch historische Einbindung. Das führt dazu, dass bezüglich Rothe zwei Interpretationsrichtungen möglich sind, je nachdem, ob man in ihm den Hermeneutiker in der Nachfolge Schleiermachers sieht oder ihn als Spätidealisten in der Nachfolge vor allem Schellings versteht.

Dezidiert die letztere Richtung beschreitet die hier zu besprechende Arbeit. In zwei Argumentationsgängen entfaltet sie den Gedanken der Spekulation - also der reinen denkenden Selbsttätigkeit von Subjektivität - sofern deren Subjekt der Mensch (22-167) oder Gott (168-331) ist, also als Spekulation endlicher und unendlicher Subjektivität. Dies ist der Rahmen, innerhalb dessen Rothes Begrifflichkeit - anders als in den, wie es in der Arbeit heißt, harmonisierenden Bemühungen früherer Interpreten - ernst genommen werden soll, was einschließt, dass sie auf Widersprüche hin befragt wird. Daraus soll sich schließlich ein adäquates Gesamtverständnis des Autors ergeben (18). Die Arbeit will dabei auch, im Sinne ihrer Verortung Rothes als Idealisten, den Gesichtspunkt der von Rothe beanspruchten Überzeitlichkeit des spekulativen Wissens bedenken (76, Anm. 242). Das stellt nun vor die Aufgabe, Rothes im Einzelnen überaus komplexe Theorie der Genese von Subjektivität zu rekonstruieren. In sehr kenntnisreicher Weise werden die entsprechenden Passagen aus Rothes Hauptwerk, der Theologischen Ethik, dargestellt und in ihren philosophiegeschichtlichen Kontext eingeordnet. Vor allem in der Inbeziehungsetzung Rothes gegenüber Schelling und Fichte wird ein Detailreichtum und eine Stringenz entfaltet, die über das in den bisherigen Monographien zu Rothe Geleistete erheblich hinausgehen. Wir müssen uns auf die Wiedergabe des geltend gemachten Hauptgesichtspunktes beschränken:

Rothe entwickelt den Subjektgedanken, wie die Arbeit ausführlich rekonstruiert, von der Vorstellung her, dass sich Subjektivität konstitutiv auf ein Nicht-Ich bezieht. Dieses "Andere" von Subjektivität ist nach Rothe die Materie, die damit die Bedingungen des Selbstvollzuges endlicher (menschlicher, 131-139, insbesondere 137) und in gewisser Weise auch unendlicher (göttlicher, 299-306) Subjektivität wesentlich mitprägt. Diese Prägung hat nun eine prekäre Implikation: Die Materie ist nämlich einerseits Möglichkeitsbedingung von Subjektivität, andererseits - eben als ihr "Anderes" - aber auch ein dieser schlechthin widerstrebendes Prinzip (90 f., 303 f. u. ö.). Rothe verkennt das, wie die Arbeit vielfach und richtig betont, keineswegs: Im Gegenteil, Subjektivität hat die Aufgabe, sich die widerstrebende Materie handelnd anzueignen und damit deren Widerständigkeit im je persönlichen Freiheitsgebrauch nicht nur aufzuheben, sondern sie für die Freiheit quasi zu instrumentalisieren (87 u. ö.). Die Persönlichkeit soll also Organisationsprinzip der ihr angebildeten Materie werden (86). Weil Rothe hierin die Essenz des ganzen Weltlaufs sieht, hat er seinen theologischen Entwurf auch Ethik genannt. Nun ist es so, dass die Materie als das "Andere" von Subjektivität - und d. h. als Inbegriff all dessen, was den Selbstvollzug von Subjektivität negiert, also als, wie es in der Arbeit heißt, Abstraktion, die man aber als eine implizite Destruktion verstehen muss (304) - nach Rothes Auffassung dennoch für Subjektivität bedingend ist. Das gilt, wenn auch in unterschiedlicher Hinsicht, sowohl für endliche wie auch für transzendentale Subjektivität. Also ist Subjektivität nicht anders denkbar als über den Vollzug ihrer völligen Negation, mit anderen Worten: Rothes Subjektivitätstheorie ist, natürlich gegen die Absicht ihre Urhebers, nichts anderes als die Beschreibung der Selbstvernichtung des Subjektes (314 u. ö.).

Diese subtil herausgearbeitete unwillentliche Implikation von Rothes idealistischem Ansatz steht im Mittelpunkt der Arbeit. Wie ist die darauf aufbauende Interpretationsleistung nun zu bewerten? Zunächst ist auf die Stringenz und Plausibilität der Gedankenführung sowie auf den Materialreichtum bei der Erschließung des idealistischen Hintergrundes Rothes hinzuweisen. Wie schon gesagt, übertrifft die hier vorgelegte Würdigung des Idealisten Rothe alles, was bisher - zumeist im Rahmen von Monographien, die Rothe allerdings nicht als reinen Idealisten, sondern als idealistisch mitbeeinflussten Hermeneutiker und Geschichtstheoretiker würdigen - geleistet worden ist. Man wird der Arbeit also zu Gute halten, dass sie einen wichtigen Aspekt von Rothes Denken mit bisher nicht erreichter Präzision und Detailliertheit herausgearbeitet hat. An keiner wesentlichen Stelle scheint mir ein Widerspruch gegen das, was die Arbeit bietet, sachlich gerechtfertigt. Sehr wohl aber erscheinen Einsprüche möglich auf Grund dessen, was die Arbeit konsequent außer Acht lässt: Der oben erwähnte Aufweis der Interdependenz von geschichtlicher Lokalisierung und theologischer Theoriebildung ist Rothe auch dann als eine große Leistung anzurechnen, wenn man - mit der hier zu besprechenden Arbeit und aus den guten Gründen, die die Arbeit darstellt - Rothes Subjektivitätsmetaphysik für verfehlt hält.

Denn Rothes "urprüngliche Einsicht" ist eben nicht die überspannte Transzendentaltheorie, die die Arbeit analysiert, sondern die Herausarbeitung der Tatsache, dass jedes theologische Bemühen durch seinen geschichtlichen Kontext sowohl ermöglicht wie relativiert wird. Dass Rothes spekulative Theologie dieser Einsicht nicht nur nicht ausreichend Rechnung trägt, sondern ihr - bis hinein in eine aporetische Theorie des Absoluten, die einen in die Selbstnegation führenden Absolutheitsanspruch impliziert - vielfach direkt widerstreitet, ist zwar richtig, sollte aber nicht überbewertet werden. Eine solche Überbewertung des problematischsten Aspekts von Rothes Denken ist aber Kern der Kritik, die gegen die Arbeit - bei voller Würdigung ihrer Verdienste - denn doch zu richten ist. Man könnte diese Kritik auch theologiegeschichtlich formulieren: Rothe ist zwar Idealist auf Fichtes und Schellings Bahnen. Aber er ist auch - und m. E. zuerst - Schüler seines Berliner Lehrers Schleiermacher, sorgfältiger Leser von dessen fragmentarischer philosophischer Ethik, die er in gewisser Weise, freilich mit Mitteln, die Schleiermacher nicht akzeptiert hätte, fortgesetzt und vollendet hat. Bezeichnenderweise werden die philosophischen Ethikmanuskripte und die entsprechenden Akademieabhandlungen Schleiermachers in ihrer Bedeutung für Rothe kaum gewürdigt. Sie betreffen zwar nicht unmittelbar Rothes Subjektivitätsheorie, die Rekonstruktion ihres Einflusses hätte aber die Bedeutung dieser Subjektivitätstheorie für Rothe als Autor insgesamt relativiert. Ohne eine solche Relativierung wird die aporetische Subjektivitätsmetaphysik Rothes zum zentralen Interpretationgegenstand und einer Arbeit, deren Hauptanliegen - trotz allen subtilen und kenntnisreichen Eingehens auf diesen Autor - die Distanzierung von Rothe zu sein scheint.

Es bleibt also der Hinweis auf eine Arbeit, die als Studie zur Spätgeschichte des Deutschen Idealismus inhaltlich und methodisch Hervorragendes bietet, als Gesamtinterpretation Rothes aber nur teilweise überzeugt, weil sie die historisch-hermeneutischen Aspekte in Rothes Denken vernachlässigt, die diesem als theologischem Denker bis heute ein Interesse sichern.