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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1294–1296

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Hell, Leonhard

Titel/Untertitel:

Entstehung und Entfaltung der theologischen Enzyklopädie.

Verlag:

Mainz: von Zabern 1999. IX, 233 S. gr.8 = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 176. Lw. DM 58,-. ISBN 3-8053-2532-0.

Rezensent:

Kurt Nowak

1983 veröffentlichte der amerikanische Theologe Edward Farley seine Studie "Theologia. The Fragmentation and Unity of Theological Education". Farley skizzierte die Geschichte des Fachs "Theologische Enzyklopädie" in drei Epochen. In der Zeit nach der Reformation kristallisierte sich aus der Literatur zum Studium der Theologie die Gattung "Theologische Enzyklopädie" in ersten Umrissen heraus (erste Epoche). Die Gattung verfestigte sich im 17./18. Jh. und erreichte in Schleiermachers "Kurzer Darstellung" (1811; 18302) einen Höhepunkt (zweite Epoche). In die zweite Epoche ist die bis heute andauernde dritte Epoche eingelagert. Ihr Kennzeichen ist die vierfache innere Gliederung der Theologie ("fourfold pattern") in exegetische, historische, systematische, praktische Theologie (Farley, 27 ff.). 1989 erlebte Farleys Studie eine zweite Auflage. Dennoch scheint sie im deutschsprachigen Raum nur wenigen Spezialisten bekannt zu sein.

Ist der hier zu rezensierenden Freiburger Habilitationsschrift des römisch-katholischen Theologen Leonhard Hell ein ähnliches Schicksal beschieden, obwohl keine sprachliche Hürde überwunden werden muss? In kritischer Anknüpfung an Farley, an die ältere "Encyklopaedie der Heilige Godgeleerdheid" von Abraham Kuyper sowie an den Artikel "Enzyklopädie, theologische" von Gert Hummel (TRE 9, 1982, 716-742) unternimmt H. den Versuch, die Geschichte der "Theologischen Enzyklopädie" samt ihren Vorläufern in einer materialintensiven Studie zu entfalten. Um falschen Erwartungen und Assoziationen vorzubeugen, die durch den Terminus "Enzyklopädie" hervorgerufen werden könnten, schärft er den Lesern gleich auf der ersten Seite ein, wie er "Theologische Enzyklopädie" verstanden wissen will. "Er [scil. der Begriff] bezeichnet diejenige Gattung theologischer Literatur, die - unter diesem oder einem anderen Titel - die Einheit theologischer Wissenschaft in der Mehrzahl ihrer Disziplinen darstellt und begründet" (1). Mit diesem Verständnis weiß sich der Vf. eins mit Schleiermachers "Kurzer Darstellung" und Johann Sebastian Dreys "Kurzer Einleitung in das Studium der Theologie" (1819).

Seine Begriffsbestimmung befähigt den Vf., auf die Fülle des Materials einen scharf begrenzendes Raster zu legen. Sein erstes größeres Kapitel heißt "Vermeintliche Vorläufer der Theologischen Enzyklopädie" (11-37), das zweite "Tatsächliche Vorläufer der Theologischen Enzyklopädie seit der Mitte des 16. Jahrhunderts". Die Trennlinie zwischen "vermeintlich" und "tatsächlich" ergibt sich aus der Nichtakzeptanz oder Akzeptanz der fachlichen Diversifikation in der theologischen Arbeit durch den jeweiligen Autor einer Enzyklopädie. Die "vermeintlichen" Vorläufer behaupteten, Theologie sei trotz ihrer "verschiedenartige[n] Quellen und methodische[n] Instrumentarien" (35) eine unteilbare Einheit, während die "tatsächlichen" Vorläufer eine innere Aufgliederung der Theologie konstatierten, welche das Festhalten an der "Einheit" der Theologie zur wissenschaftlichen Herausforderung werden ließ. In "De recte formando Theologiae studio" des Hyperius von 1556 finde sich Farleys "fourfold pattern" schon vorgebildet, wenngleich man, wie der Vf. warnt, die enzyklopädische Leistung dieses Gelehrten keineswegs überbewerten dürfe (39 f.). Im Kapitel "Elemente theologischer Enzyklopädik im 17. Jahrhundert" (81-116) unternimmt der Vf. einen Streifzug durch die protestantische Landschaft (Calixt, J. Gerhard, J. H. Alsted u. a.), um die Genesis der Gattung weiter zu verfolgen. Dem gleichen Zweck dient das Kapitel, in dem die Beiträge von Antonius Perizonius, Etienne Gaussen und A. H. Francke analysiert werden (117-145). Francke erscheint als Repräsentant einer Synthese der bisherigen Entwürfe, als ein Repräsentant aber auch in dem Sinne, dass er die Theorie der Theologie und die pastorale Ausbildung integrativ behandelte. Im 17./18. Jh. hatte die Theologie, gleichviel ob protestantisch oder römisch-katholisch, einen so nachhaltigen Prozess der inneren Differenzierung durchlaufen, dass Widerstand gegen ihn fruchtlos blieb (Jean Mabillons "Traité des études monastiques"; Louis Ellies Du Pins "Méthode pour étudier la théologie").

Den Höhepunkt des Buches bildet das Kapitel "Die akademische Institutionalisierung fachspezifischer Enzyklopädien und ihre Übernahme in der Theologie" (167-186). In ihm hält der Vf. dreierlei fest. Erstens: Die theologische Enzyklopädik erhielt in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s einen entscheidenden Anstoß durch die fächerübergreifende enzyklopädische Bewegung an der Universität Göttingen. Zweitens: Der Hallenser Professor Samuel Mursinna machte durch seine "Primae lineae" (1764; 17842) den Terminus "Enzyklopädie" in der Theologie heimisch. Dass Mursinna, wie oft zu lesen ist, die erste theologische Enzyklopädie verfasste, ist hingegen falsch (171-173). Drittens: Erhebliche Bedeutung für die weitere Entwicklung kommt den enzyklopädisch-theologischen Schriften des Göttinger Kirchenhistorikers G. J. Planck von 1794/95 und 1813 zu. Der Vf. beschließt seine Studie mit einem Ausblick auf theologische Enzyklopädien in der Bahn von Schellings "Vorlesungen über die Methode des academischen Studium" (Carl Daub, Ignaz Thanner) und mit einer Zusammenfassung, in der er die Bedeutung enzyklopädiehistorischer Forschungen für das Fach Theologie unterstreicht. Im 17./18. Jh. mutierte die "Theologische Enzyklopädie" von der Studienpropädeutik zu einem integrierenden Teil der Theologie. Sie entwickelte sich unter den Herausforderungen des neuzeitlichen Wissenschaftsbetriebs im Spannungsfeld von disziplinärer Spezialisierung und der Suche nach der bleibenden Einheit der Theologie.

Der Vf. hat zahlreiche Studienanleitungen und Enzyklopädien vom 16. bis zum frühen 19. Jh. durchgearbeitet. Die Prägnanz, die an seiner Studie beeindruckt, ist mitunter mit allzu großer Kürze erkauft. Man wünscht selten, dass ein Buch länger sein möge. Hier ist es der Fall. Ungeachtet der Weite seines Blicks, die sich gerade auch im interkonfessionellen Zugriff auf das Material bewährt, neigt der Vf. m. E. zu mancherlei Engführungen. Ist es richtig, die "Theologische Enzyklopädie" immer nur als literarische Gattung zu behandeln? War sie nicht auch eine Subdisziplin der Theologie, die im 18./19. Jh. zum Standardprogramm des Theologiestudiums zählte? Welche Perspektiven ergäben sich, wenn man die einschlägige Lehrtätigkeit an den Theologischen Fakultäten analysiert und Kollegmanuskripte der Professoren und studentische Nachschriften heranzieht? - Hat sich der Vf. mit seiner Allergie gegen die Vermischung von allgemeinen Propädeutiken, Realenzyklopädien, Literaturgeschichten, allgemeinen wissenschaftstheoretischen Werken und theologischen Enzyklopädien in dem von ihm definierten Sinn (vgl. 7) nicht selber ein wenig in die Enge getrieben? Zusammenhang und Differenz von Universalenzyklopädien, Realenzyklopädien und Fachenzyklopädien wären vielleicht noch eindringlicher zu erörtern gewesen: unter dem Gesichtspunkt von Diversifikation und Einheit des Wissens. - Gewiss deutet vieles darauf hin, dass der Universität Göttingen "als Vorort des enzyklopädischen Projekts" (167) große Bedeutung zukam. Eine (ungedruckte) Dissertation von Jochen Kramm unterstreicht diese These (Theologische Enzyklopädie und Studienordnung an der Universität Göttingen von 1734 bis 1830. Diss. theol. Mainz 1998). Es kann aber sehr gut sein, dass die Betrachtung weiterer Universitäten bzw. theologischer Fakultäten zu modifizierten Befunden führt. An der Theologischen Fakultät Halle entstanden im 18. Jh. zahlreiche Enzyklopädien, die der Vf. nicht analysiert, ja nicht einmal bibliographisch registriert. Die Autoren waren Semler (1757; 1763), Nösselt (1786; 1789), Niemeyer (postum 1830). Mursinna wurde schon genannt. Muss man also auch noch mit anderen "Vororten" als Göttingen rechnen? - Aus protestantischer Perspektive bleibt unverständlich, warum der Blick ins 19. Jh. mit Carl Daub verbunden wird, aber der erfolgreichste theologische Enzyklopädist dieses Zeitalters, der Schleiermacherschüler K. R. Hagenbach (Enzyklopädie und Methodologie der theologischen Wissenschaften. Leipzig 1833; zahlreiche Auflagen), mit einer kargen Fußnote abgespeist wird (214, Anm. 19).

Schleiermachers "Kurze Darstellung" wird von H. nicht eigens analysiert. Das war angesichts der Fülle der Spezialliteratur eine richtige Entscheidung. Beherzigenswert ist auch seine kritische Anregung, nicht bei der Binnenexegese der Schleiermacherschen Enzyklopädie stehenzubleiben. H.s Buch bietet nicht zuletzt zum besseren Verständnis der "Kurzen Darstellung" vielfältige Anregungen. Insgesamt hat die theologische Fachwelt dem Autor eine materialreiche, wohldurchdachte und konzis geschriebene Studie zu verdanken.