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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1291–1294

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Calvin, Jean

Titel/Untertitel:

Sermons sur la Genèse Chapitres 1,1-11,4 et 11,5-20,7. Ed. par M. Engammare. 2 Bde.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2000. LXVIII, 1182 S. 4 = Supplementa Calviniana, XI/1 u. XI/2. Lw. DM 596,-. ISBN 3-7887-1683-5.

Rezensent:

Michael Basse

Als Calvin von September 1559 bis Mai 1560 über das erste Buch Mose predigte, war gerade im August 1559 die letzte lateinische Fassung seiner Institutio christianae religionis erschienen, an deren französischer Übersetzung er parallel zu den Predigten arbeitete. Allein schon diese zeitliche Nähe eröffnet interessante Perspektiven für die Auswertung der nunmehr edierten Genesispredigten, beleuchten sie doch noch einmal C.s systematisch-theologische Konzeption aus einem exegetischen und praktisch-theologischen Blickwinkel. Ersteres ergibt sich insbesondere durch den Vergleich mit C.s Genesiskommentar von 1554, dessen Überarbeitung er in den nächsten Jahren (1563 die lateinische und 1564 die französische Fassung) abgeschlossen hat. Das praktisch-theologische Interesse des Predigers C. steht schließlich in einem engen Zusammenhang mit dem Fortschreiten der Genfer Reformation. Diese verschiedenen Perspektiven lassen sich sodann auch noch einmal im Vergleich mit jenen Predigten C.s bündeln, die dieser bereits 1542/43 über das erste Buch Mose gehalten hat.

C.s parallele Arbeit an den Predigten und an der französischen Übersetzung der Institutio wird an einigen Stellen unmittelbar greifbar (z. B. 297,27 f.; 455,11-13; 557,10-15), während auch dogmatische Akzentverschiebungen oder Differenzen im Vergleich zur Institutio auftreten (289,22-24). Von C.s exegetischen Kommentaren unterscheiden sich seine Genesispredigten an einigen Stellen sowohl hinsichtlich der Übersetzung (z. B. 83,4-9), der die Biblia hebraica von Münster zu Grunde lag, als auch der Auslegung (z. B. 332,4-6). Von daher sind die Predigten als eigenständig anzusehen und nicht nur als Vorarbeiten für die spätere Revision des Kommentars von 1554. Für den Vergleich von Predigt und Kommentar bzw. Institutio ebenso aufschlussreich wie für C.s homiletische Methode ist der Unterschied zwischen dem gesprochenen und dem geschriebenen Wort. Wenn C. insgesamt dem hermeneutischen Grundsatz folgt, dass Gottes Wort sich der Auffassungsgabe des Menschen anpasse (24,13-15), so werden die Predigten um der Zuhörer willen auf zentrale theologische Themen fokussiert und bemüht sich C. zugleich um Veranschaulichungen und Aktualisierungen. So werden einzelne Aspekte der Schöpfungsgeschichte zu den konkreten Erfahrungen der unberechenbaren Natur und deren Auswirkung auf den Nahrungsspielraum in Bezug gesetzt, wie sie C.s Zuhörer mit der Dürre oder auch dem Hagel des Jahres 1559 am eigenen Leibe erfuhren (69,5-15). Auch die Flutkatastrophe in Nordfrankreich und Flandern im Jahre 1530 oder die Pestepidemie in Genf 1542-1546 werden in Erinnerung gerufen (26,15-33; 49,36).

Die Probleme, die damit verbunden waren, dass gerade Ende der 1550er Jahre die Zahl der französischen Glaubensflüchtlinge zunahm, die in Genf Zuflucht fanden, werden an verschiedenen Stellen von C. angesprochen. Dabei sind seine Ausführungen zu Gen 18,18 besonders eindrücklich, wird doch hier Abrahams Gastfreundschaft zum Exempel wahrer Humanität (948,4-9; vgl. 1024,9-1025,13). Die Verfolgungen, unter denen die Reformierten zu leiden hatten und die vom Parlament in Paris im September 1559 noch einmal sanktioniert wurden, werden in die Geschichte der verfolgten Kirche eingeordnet (279,23-281,13). Vor diesem Hintergrund entwickelt C. den Gedanken einer natürlichen Heimatverbundenheit und stellt hierbei aufschlussreiche Verbindungen zu zeitgenössischen Schilderungen aus der Neuen Welt her (584,4-13; 587, 5-8). In diesem Zusammenhang hat C. auch den aufkommenden Sklavenhandel wahrgenommen und von seinem Konzept der Schöpfungsordnung her kritisiert (601,13-602,13).

Fällt in politischer Hinsicht die kritische Auseinandersetzung C.s mit der monarchischen Staatsform auf, so stand das für die Zuhörer in einem konkreten Zusammenhang mit den politischen Ereignissen dieser Zeit. So werden die Grundzüge von C.s politischer Ethik und seine Begründung des Widerstandsrechtes vor dem Hintergrund des Machtstrebens politischer Obrigkeit erkennbar, wobei die politischen Verhältnisse in Frankreich einen konkreten Bezugspunkt bilden (358,43-359,10; 698,25-699,9; 860,42-862,9). Der politische Kontext von C.s Predigten wird auch dort besonders deutlich, wo soziale und ökonomische Fragen wie die des Zehnten und der Armenfürsorge (721,17-724,10) oder grundlegende Fragen der Blutgerichtsbarkeit im Kontext der frühneuzeitlichen Begründung des staatlichen Gewaltmonopols erörtert werden (482,22-484,32). Im Zusammenhang mit der ethischen und strafrechtlichen Analyse des Brudermordes kommt die juristische Bildung C.s zum Vorschein (266,7-24; 272,32-34; 275,1 f.).

Theologiegeschichtlich interessant sind die Predigten sowohl im Blick auf C.s Umgang mit der theologischen Tradition als auch hinsichtlich der Entfaltung seiner eigenen Theologie. Zu seinen wichtigsten Gewährsleuten gehören Chrysostomus, Augustin und Luther. Zum Wittenberger Reformator zeigen sich in einzelnen Punkten auch Differenzen (z. B. 458,12-14). Für die Auslegungsgeschichte von Gen 1,1-20,7 bedeutsam ist C.s durchgängige Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Exegese (z. B. 445,4-26; 502,12-18) und der jüdischen Auslegungstradition (z. B. 247,27-30).

Insgesamt werden in den Predigten die Grundzüge von C.s Theologie im Blick auf die Zuhörer in elementarisierter Form zur Sprache gebracht. Dabei fällt die durchgängige Auseinandersetzung C.s mit seinen theologischen Gegnern auf. Servet wird namentlich erwähnt (14,8 f.), während C. sich sonst vor allem gegen libertinistische Spiritualisten und sog. "Epikuräer" wendet (z. B. 284,18; 607,6-8). Eine scharfe Abgrenzung vollzog C. auch gegenüber der katholischen Kirche und ihrer Lehre, wobei er deren mittelalterliche Tradition ebenso vor Augen hatte wie die Dogmatisierungen des Konzils von Trient. Im Mittelpunkt stehen hier die Auseinandersetzung um das rechte Verständnis von Glauben und Gerechtigkeit (745,23-752,13), die Verdienstlehre (779,30-780,30) und die Auffassung vom freien Willen (261,1-26) sowie das Sakraments- und Messverständnis (494,19-495,7). Nicht zuletzt waren es die Juden, denen gegenüber sich C. unerbittlich zeigte und damit dem Antijudaismus seiner Zeit Folge leistete (477,3-478,3; 608,22-24; 744,30-32).

Für C.s theologische Anthropologie wie auch für seine Trinitätstheologie bezeichnend ist seine Auseinandersetzung mit Osiander im Hinblick auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen (63,18-27) und die Frage, ob Christi Menschwerdung auch ohne den Sündenfall notwendig gewesen wäre (340,6 f.). C. entwickelte in seinen Predigten ebenso wie in seiner parallelen Arbeit an der Institutio die Grundgedanken seiner Abendmahlstheologie und wandte sich in diesem Zusammenhang gegen Luthers Vorstellung von der Ubiquität Christi (480,20-481,5). An der Geschichte von Kain und Abel exemplifiziert C. eine Grundeinsicht reformatorischer Rechtfertigungslehre, wenn er die Person dem Handeln vorordnet (247,1-5). Für C.s Prädestinationslehre aufschlussreich ist seine Auffassung von Gottes ewiger Erwählung (155,24-156,8).

Schließlich spiegeln die Predigten auch C.s Ekklesiologie und die konkreten kirchlichen Verhältnisse in Genf wider. C. entfaltet sein Kirchenverständnis in direktem Bezug zu seinen Zuhörern vom Auftrag des Wortes Gottes her (267,1-11). Dabei kommt es ebenfalls zu kontroverstheologischen Abgrenzungen sowohl gegenüber den Altgläubigen als auch zu den Täufern (531,6-15 u. 533,17-30). Auch die Begründung und die Praxis der Kirchenzucht mit ihren Verhören vor dem Konsistorium werden in den Predigten angesprochen (270,7-271,34; 1022, 24-1023,21), wobei viele Details der Alltags- und Sozialgeschichte Genfs zu Tage treten.

C.s Predigten sind nicht zuletzt wissenschaftsgeschichtlich interessant, insofern sich der Genfer Reformator auch mit Fragen zeitgenössischer Kosmologie und Astrologie auseinandergesetzt (34,7-43,22), antike wie zeitgenössische Naturbeobachtungen rezipiert (491,14-492,12) und naturwissenschaftliche Fragen mit technischem Bezug erörtert hat (393,26-394,8).

Die Edition wird durch eine Einleitung und kommentierende Anmerkungen des Herausgebers bereichert, die einerseits vom Umfang her knapp genug bleiben, aber andererseits wichtige Informationen liefern und vor allem biblische Bezüge erhellen. Komplettiert wird das Werk schließlich durch ein Glossar, das sprachliche Besonderheiten erläutert, ein Namen- und Bibelstellenregister sowie einen Index, der Querverweise auf andere Werke C.s gibt. Insgesamt liegt hiermit eine in jeder Hinsicht vorzügliche Edition vor, die eine Fundgrube für die vielfältigsten Fragestellungen kirchen- und theologiegeschichtlicher Forschung darbietet.