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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1289–1291

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Pollack, Detlef, u. Hagen Findeis [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Selbstbewahrung oder Selbstverlust. Bischöfe und Repräsentanten der evangelischen Kirchen in der DDR über ihr Leben. 17 Interviews.

Verlag:

Berlin: Links 1999. 695 S. 8 = Forschungen zur DDR-Gesellschaft. Kart. DM 38,-. ISBN 3-86153-202-6.

Rezensent:

Harald Wagner

Möglichkeiten und Grenzen des kulturellen Gedächtnisses werden wesentlich durch die gewählten Formen der öffentlichen Kommunikation bestimmt. In besonderer Weise sind hierbei Ereignisse der nahen Vergangenheit betroffen, wenn Zeitzeugen und Historiker im Wettstreit um Deutungsmonopol und Bewertungskriterien stehen. Ein in diesem Zusammenhang prominentes Thema stellt das sogenannte Staat-Kirche-Verhältnis in der DDR dar. Besondere Brisanz erlangt dies dadurch, dass Einschätzungen und Wertungen für aktuelle Diskussionen relevant bleiben. Bei positiver Betrachtung könnte darauf bestanden werden, erlangte Einsichten bewahren zu wollen. Negative Einschätzungen dagegen würden sowohl Inhalte als auch Personen als Ballast ruhmloser Zeiten brandmarken. Tiefere Einsichten in diesem Zusammenhang sind nicht wohlfeil, sie entstehen nicht einfach durch "Enthüllung" neuer Tatsachen, denn beide Lager können stützende Argumente beibringen (9 ff.). Dieses Dilemma zu vermeiden und dadurch differenzierte Sichtweisen zu eröffnen, erfordert elaborierte Forschungsmethoden und Darstellungsweisen.

Aus der Brisanz des Forschungsthemas ergeben sich methodologische Grundprobleme. Die Herausgeber der vorliegenden Studie - der Religionssoziologe und Professor für vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität in Frankfurt/O. Detlef Pollack und der Leipziger Theologe (Schwerpunkt: Opposition und Kirchengeschichte der DDR) Hagen Findeis - versuchen angesichts dieses gravierenden Strukturproblems, sowohl den Zeitzeugen Gestaltungsraum zur Darstellung zu bieten, als auch kritische Anfragen, die sich aus dem momentanen Forschungsstand ergeben, in die Rekonstruktion mit einfließen zu lassen. Neben dieser Dimension der prinzipiellen Kommunizierbarkeit von Geschichte stellte sich die Frage, inwieweit theologische Argumentationsfiguren der kirchenleitenden Personen in einem erkennbaren und signifikanten Zusammenhang zu deren politischen Handlungsmustern stehen (10). Da aber bereits in der Vorbereitungsphase deutlich wurde, dass solche eindeutigen Zusammenhänge nicht vorliegen, musste eine Methodik gefunden werden, die tiefere Einsichten zu Tage fördern konnte. Im Bereich der Biographieforschung wurde ein solcher Zugang gefunden und auf den interessierenden Problemhorizont übertragen. Denn für das Thema "Selbstbewahrung oder Selbstverlust" war ja keineswegs eine einfache Porträtsammlung der Kirchenvertreter hinreichend, sondern es galt, die relevanten Gravitationslinien dieses Gesamtkomplexes- wie Erziehung, Milieuzugehörigkeit, einschneidende Erlebnisse, religiöse Sozialisation, Lektüreerfahrungen, Werteorientierung etc. - zu erspüren und im Text nachvollziehbar zu machen. So sollte verstehbar werden, "aus welchen Quellen sich die Resistenzkraft der Kirchen und ihrer Repräsentanten speiste und worin die Grenzen dieser Kraft begründet lagen" (10). Charakteristisch für die zur Anwendung gebrachte Forschungsstrategie ist eine Verbindung zweier bewährter Wege der rekonstruktiven und interpretativen Sozialforschung. Elemente der Narrationsanalyse wurden mit Strategien des vorstrukturierten Experteninterviews zu sogenannten "biographischen Leitfadeninterviews" (12) verbunden. Dies führte einerseits dazu, dass Biographien in unterschiedlich dichter Ereignisfolge erkennbar und andererseits Bewertungen und nachträgliche Stellungnahmen abgefragt werden konnten. Die Herausgeber versuchten auf diesem Wege größtmögliche Authentizität und getreue Rekonstruktion der Wirklichkeit zu erreichen. So wurden in Vorbereitung der Interviews umfangreiche Kenntnisse in Bezug auf die Interviewpartner erarbeitet, um in der Kommunikationssituation auf die interessanten und ggf. neuralgischen Punkte hinsteuern zu können. Die Fragen der Interviewer zeugen somit von eindrücklicher Vorkenntnis, flexibler Gesprächsführung und allgegenwärtiger Achtung der Interviewpartner.

Die Herausgeber diskutieren in ihrer ausführlichen Einleitung neben den bereits angesprochenen methodologischen Erwägungen auch inhaltliche Deutungen. Dabei fassen sie charakteristische Äußerungen der Interviews jeweils zusammen, arbeiten Trends heraus und beziehen dies auf andere Forschungsergebnisse. Durch diesen behutsam erarbeiteten Verweishorizont setzen sie den Leser in die Lage, selbst distanziert kritisch die Interviewäußerungen zu reflektieren. Beispielhaft ist in diesem Zusammenhang die Nachzeichnung von Akzentverschiebungen im Staat-Kirche-Verhältnis:

"In den fünfziger Jahren wurden Recht und Unrecht noch beim Namen genannt. ... Noch 1960 wies die Synode der EKU die Regierung der DDR unmißverständlich darauf hin, daß viele Menschen in der DDR ,das Mindestmaß an Freiheit, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit vermissen, das für sie zu einem sinnvollen Leben gehört' (KJb 87, 1960, 275). [...] Nur wenige Jahre später, 1968, erklären die Bischöfe der evangelischen Kirchen in ihrem Lehniner Brief an Walter Ulbricht: ,Als Staatsbürger eines sozialistischen Staates sehen wir uns vor die Aufgabe gestellt, den Sozialismus als eine Form gerechteren Zusammenlebens zu verwirklichen.' [Bund 1970: 113] ... Allenfalls die zweite Hälfte der achtziger Jahre muss man von dieser Entwicklungstendenz ausnehmen. Bis dahin nahm die innere Annäherung an das DDR-System ständig zu." (26)

Wenn dann die Herausgeber weiterführend nach Erklärungen für diesen Prozess suchen, sich dabei auf damalige Texte und heutige Sichtweisen in den Interviews beziehen, dann treten einerseits die wirklichen Schwachpunkte hervor - Stichwort "Wahrhaftigkeit der Argumentation" (29) -, andererseits wird durch die Analyse sozialstruktureller Faktoren (30 ff.) verständlich, dass "die Kirchen sich im Laufe der Jahre immer stärker auf den DDR-Sozialismus eingelassen haben" (33). Die Herausgeber bleiben letztlich skeptisch, ob das mit dieser Annäherung bezweckte Ziel der "Bewahrung" der evangelischen Kirchen in der DDR (33) erreicht werden konnte. Sie verweisen abschließend auf die Gefahr "sich Selbsttäuschungen hinzugeben und seine Irrtümer zu bleibenden Einsichten, die man nicht missen möchte, zu stilisieren ..., denn was geschehen ist, läßt sich nicht mehr rückgängig machen und kann daher oft nur noch gerechtfertigt oder verdrängt werden - es sei denn, man wäre imstande, aus dem Geschehenen zu lernen" (37).

Die Interviews selbst sind eine unvergleichliche Fundgrube für das Verständnis der deutschen Geschichte im 20. Jh. Durch die gründlich vorbereiteten und mehrheitlich in wahrhaftiger Atmosphäre geführten Interviews ist gewissermaßen als nicht direkt intendierter Nebeneffekt ein Gang durch die Ereignisse des Jahrhunderts in siebzehn verschiedenen persönlichen Rekonstruktionen gelungen. Diese Wahrhaftigkeit sehe ich insbesondere durch die der Stegreiferzählung selbst immanente Authentizität (so schon Fritz Schütze) garantiert, was die methodische Skepsis der Hgg. gegenüber ihren Texten (13 f.) relativieren könnte. Beeindruckend ist die Offenheit und erzählerische Prägnanz, mit der die Interviewpartner Episoden ihres Lebens schildern, Einschätzungen von Ereignissen vortragen oder ihre Empfindungen durchscheinen lassen.

Überraschend ist die Heterogenität der Geschichtsbilder und Weltdeutungsmuster dieser 17 Männer der Kirche, wenn man bedenkt, dass sie qua Amt dem gleichen sozialen Milieu zugehören. Offensichtlich spielen - wie von den Herausgebern vermutet - die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Generationen, die konkrete Platzierung im sozialen Raum und die unterschiedlichen lebensweltlichen Erfahrungen eine weitaus größere Rolle bei der Herausbildung dieser Persönlichkeitsmerkmale, als gemeinhin angenommen. Die Folgen der Generationszugehörigkeit bringt Ingo Braecklein als ältester Interviewpartner in ein schönes Bild: "Als alter Mensch sehe ich meinen Lebensweg wie einen Gang durch verschiedene Zimmer. Ich bin Jahrgang 1906. Großgeworden bin ich im Kaiserreich. Dann kam Weimar, dann der Nationalsozialismus. Jedes dieser Zimmer hatte eine andere Tapete, eine andere Atmosphäre. Und mit allen diesen Verhältnissen mußte man versuchen, zurechtzukommen. Aber wenn man von einem zum nächsten Zimmer ging, konnte man das, was vorher war, kaum noch verstehen." (41)

Durch die Interviewtexte wird die Herangehensweise der Herausgeber eindrücklich bestätigt: dass die Einbeziehung biographischer Elemente zu einem tieferen Verständnis des bearbeiteten Themenkomplexes führen kann. Gehalt und Kraft der Interviews erhärten sich nicht zuletzt daran, dass deren Lektüre den Leser geradezu in die Lage versetzt, sich nicht nur sehr gut ein eigenes Bild zu machen, sondern auch die Einschätzungen der Herausgeber distanziert und kritisch zu betrachten. Das Buch stellt zweifellos einen wertvollen Baustein gelungener öffentlicher Kommunikation der Prägung des kulturellen Gedächtnisses dar, der hautnah - also von uns allen beeinflusst - im Spannungsfeld von professionellem Deutungsmonopol und authentischer Zeugenschaft verläuft. Die Texte sind bewegender Ausdruck des Ringens um authentisches Weiterleben angesichts von Brüchen, Irrtümern und Neuorientierungen - Orientierungen in Richtung Vergangenheit und damit in die Zukunft. Dabei geht es nicht so sehr um "Lernen aus der Geschichte", falls das überhaupt möglich ist, sondern um den Weg der weiteren Selbstbewahrung. Und dies bezieht sich sowohl auf die Interviewpartner, als auf die Herausgeber und auch auf die Leser. Jeder steht zwischen Selbstbewahrung und Selbstverlust.