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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1281–1285

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Geschichte des Pietismus. Hrsg. von M. Brecht, K. Deppermann, U. Gäbler u. H. Lehmann. Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hrsg. von M. Brecht u. K. Deppermann. Bd. 3: Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Hrsg. von U. Gäbler.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995/2000. XIV, 826 S. u. XII, 607 S. gr.8. Lw. DM 212,- u. Lw. DM 148,-. ISBN 3-525-55347-1 u. 3-525-55348-X.

Rezensent:

Ulf-Michael Schneider

Mit den beiden dem Zeitraum vom 18. bis zum 20. Jh. gewidmeten Bänden der "Geschichte des Pietismus" wird die weit über bisherige Perspektiven hinausführende Bestandsaufnahme der historischen Entwicklung des Pietismus fortgesetzt, die 1993 mit dem ersten Band zum 17. und frühen 18. Jh. ihren Anfang nahm (vgl. ThLZ 121,1996, 958-961). Wer den Band zum 18. Jh. aufschlägt, wird in die Zeit der Anfänge Zinzendorfs in der Oberlausitz zurückversetzt - wer die Lektüre des Folgebandes abgeschlossen hat, ist über die ins Politische ausgreifende Wirkung des amerikanischen Evangelikalismus um den Charismatiker Billy Graham informiert. Dazwischen sind (für das 18. Jh.) die Verästelungen des Pietismus in den deutschsprachigen Ländern und Regionen, aber auch in Skandinavien, den Niederlanden, Großbritannien und Nordamerika vermessen und (für das 19. und 20. Jh.) die Entstehungsbedingungen, inneren Strukturen und Ausstrahlungen von Evangelikalismus, Erweckungsbewegung und Gemeinschaftschristentum in Europa und Nordamerika beschrieben worden. In dieser im ersten Band bereits angelegten, nun aber mit Entschiedenheit fortgeführten Ausweitung des Blickwinkels auf den Pietismus als einer nur international zu begreifenden Bewegung verwandter Frömmigkeitsbestrebungen ist zuallererst die forschungsgeschichtliche Bedeutung und der Erkenntniszuwachs dieser Gesamtschau zu erkennen. Für den Band zum 19. und 20. Jh. gilt zudem als gar nicht hoch genug einzuschätzender Gewinn, dass hier für diesen Zeitraum der erste Versuch einer umfassenden Darstellung überhaupt vorgelegt wird.

Regionalismus und Detailreichtum: So könnte eine charakterisierende Zwischenüberschrift zu dem von Martin Brecht und Klaus Deppermann herausgegebenen 2. Band der "Geschichte des Pietismus" lauten. Er beginnt mit einer fast monographischen Umfang erreichenden, das gesamte 18. Jh. umfassenden Darstellung der Entwicklung von Zinzendorfs Herrnhuter Brüdergemeine (Dietrich Meyer), an die sich ein sehr differenzierter Überblick zum radikalen Pietismus im 18. Jh. anschließt (Hans Schneider), der den entsprechenden Abriss aus dem ersten Band fortsetzt. Es folgt ein Reigen von im Wesentlichen regionalgeschichtlich orientierten Kapiteln zum Pietismus in Hessen, in der Pfalz, im Elsaß und in Baden (Friedhelm Ackva), in Württemberg (Martin Brecht), in Bayern (Horst Weigelt), zu Fortleben und Niedergang des Halleschen Pietismus im 18. Jh. (Martin Brecht), zu Westfalen (Christian Peters), zum reformierten Pietismus in Bremen und am Niederrhein (Johann Friedrich Gerhard Goeters), zum Pietismus in Niedersachsen (Manfred Jakubowski-Tiessen), in Skandinavien (Dänemark und Schleswig-Holstein: Manfred Jakubowski-Tiessen; Norwegen und Schweden: Ingun Montgomery; Finnland: Pentti Laasonen), in den Niederlanden (Johannes van den Berg) und in der Schweiz (Rudolf Dellsperger). Kapitel zum englischen Methodismus um John Wesley (Patrick Streiff), dem Pietismus in Nordamerika (A. Gregg Roeber) und zum Pietismus im Übergang vom 18. zum 19. Jh. (Horst Weigelt) beschließen den Band.

Die von den Herausgebern gewählte Struktur des Bandes hat nicht nur den Vorteil, dass die mehrheitlich geographisch, hier und da aber auch sachlich abgrenzbaren Kapitel von ausgewiesenen Fachleuten bearbeitet werden konnten. Sie bietet auch denjenigen, die eher an den Entwicklungen des Pietismus und an ihren maßgeblichen Gestalten in einem bestimmten Territorium interessiert sind, einen rasch orientierenden Zugang zu den Informationen, die hier durchweg in einer kaum mehr zu bewältigenden Überfülle geboten werden. Andererseits können aber auch die Gefahren der einmal getroffenen Grundentscheidung nicht übersehen werden. So ist mir eine tiefere Bedeutung der Reihenfolge der regionalgeschichtlichen Kapitel nicht einsichtig geworden, zumal auch die doch recht schmale Einleitung (Martin Brecht) sich zu den Grundsätzen der Kapitelfolge nicht en detail äußert. Völlig unerfindlich bleibt mir, warum die Ausführungen zum Pietismus in der Schweiz, aus denen bedeutsame Querverbindungen zum Pietismus in den Territorien des Alten Reiches ablesbar sind, als viertletztes Kapitel eingeordnet wurden. Nach den Abschnitten zu Skandinavien und den Niederlanden und vor der Darstellung zum englischen Methodismus wirkt es unangemessen isoliert und deplaziert. Zu den Nachteilen der regional ausgerichteten Struktur gehört es sicher auch, dass thematische Überschneidungen oder gar Wiederholungen heraufbeschworen werden. So kommt (beispielsweise) der Hallesche Pietismus außer in dem einschlägigen Kapitel mit sachlich bedingter Notwendigkeit in fast allen anderen Abschnitten vor, einige Male (Bayern, Westfalen, Schweden, Finnland) als besonderes Unterkapitel. Ähnlich verhält es sich mit der Herrnhuter Brüdergemeine und dem radikalen Pietismus, die beide nach ihrer systematischen Erörterung zu Beginn des Bandes leitmotivisch immer wieder angesprochen werden müssen, wenn es gilt, territoriale Einzelentwicklungen in ihren überregionalen Bezügen zu beschreiben. Bedenklich werden solche in der Bandsystematik begründeten Abstimmungsprobleme aber da, wo es zu Redundanzen kommt, wie es bei der doppelten Diskussion der Diasporaarbeit der Brüdergemeine zumindest teilweise der Fall ist (vgl. 65-68 mit 701-710).

Aber das sind vielleicht doch Quisquilien angesichts der Schwierigkeit, vor der die Herausgeber gestanden haben mögen, als sie daran gingen, die Geschichte des Pietismus im 18. Jh. in übersichtlich-systematische Bahnen zu lenken. Entstanden ist jedenfalls ein beeindruckendes, hochinformatives Handbuch, das in seiner deutlichen Neigung zur Vollständigkeit erstrebenden Detailinformation auch kleinere kirchliche Einheiten nicht außer Acht lässt (434-437: Schaumburg-Lippe!), das vor allem aber in der Gewichtung der einzelnen Beiträge und in der parallelen Sichtung pietistischer Frömmigkeitsbewegungen in lutherischen und reformierten Gebieten, in Europa und Nordamerika die neueren Zugänge der Pietismus-Forschung spiegelt. Eine etwas ausführlichere Einleitung hätte immerhin für die in manchem doch kaleidoskopartig wirkende Abfolge der Einzelbeiträge einen hilfreichen Bezugsrahmen bilden können, um die engeren Spezialperspektiven auf übergeordnete theologie-, geistes-, sozial- oder auch kulturgeschichtliche Hintergründe zu beziehen und durchgängige Entwicklungslinien, regionale Begrenzungen überwindende Verflechtungen, Traditionsabbrüche oder Neuansätze sichtbar zu machen. Auch die Bearbeiter einzelner Kapitel versagen es sich zumeist, die Bedeutung ihres Gegenstands übergreifend einzuordnen. Rühmenswerte Ausnahmen bilden da nur die Rahmenkapitel zum Abschnitt über den radikalen Pietismus (107-112, 167-169) und das knappe Schlussresümee zum Pietismus im Übergang vom 18. zum 19. Jh. (744 f.).

Insgesamt vermittelt der Band den Eindruck vom Pietismus im 18. Jh. als eines vielfarbigen und vielteiligen Mosaiks. Und das ist ja auch richtig. Man bleibt aber aufgerufen, weit genug vor diesem Mosaik zurückzutreten, um das Gesamtbild zu erkennen. Und das ist ein bisschen schade.

Eine ganz neue Seite für die Erforschung des Pietismus wird mit dem von Ulrich Gäbler herausgegebenen Bd. 3 der "Geschichte des Pietismus" aufgeschlagen. Sein Inhalt ist keineswegs selbstverständlich, enden doch bisherige Darstellungen des Pietismus zumeist mit dem sogenannten "Spätpietismus" gerade an der von der Französischen Revolution markierten Epochenschwelle zum 19. Jh. und liefern höchstens noch Ausblicke auf ein Wiederaufleben des Pietismus im Zeichen der Erweckungsbewegung. Diese steht nun aber - nach einem Kapitel zu Evangelikalismus und Réveil in Großbritannien und Genf (Ulrich Gäbler) - schon rein umfangsmäßig im Mittelpunkt des Bandes, zunächst mit Beiträgen zu ihrer Geschichte in Deutschland (Allgäuer katholische Erweckungsbewegung: Horst Weigelt; Diasporaarbeit der Brüdergemeine und Wirksamkeit der Deutschen Christentumsgesellschaft: Horst Weigelt; Erweckung innerhalb der Landeskirchen: Gustav Adolf Benrath; Soziale Frage: Arnd Götzelmann; Mission: Karl Rennstich), dann mit zwei Überblicken zu Skandinavien und Ostmitteleuropa (Pentti Laasonen u. Pavel Filipi). Die zweite Hälfte des 19. und die erste des 20. Jh.s werden mit zwei Artikeln über Evangelikalismus und Heiligungsbewegung und zum Gemeinschaftschristentum in Deutschland (jeweils Jörg Ohlemacher) abgedeckt, gefolgt von einem Abschnitt über Evangelikalismus und Fundamentalismus in Nordamerika (Mark A. Noll). Dessen erste Teile sollten sinnvollerweise noch vor der Lektüre der vorangehenden Beiträge zur Kenntnis genommen werden, da hier wichtige Hintergründe für die Entwicklungen der protestantischen Erneuerungsbemühungen in Deutschland und Einsichten von deren Internationalität vermittelt werden. Den Abschluss des Bandes bildet ein verhältnismäßig knappes Resümee zum Pietismus in Deutschland seit 1945 (Eberhard Busch).

Ungewöhnlich und für manchen, der mit den Wegen der neueren Pietismus-Forschung nicht vertraut ist, auch gewöhnungsbedürftig (wenn nicht provokant), im Ganzen aber erkenntnisstiftend und perspektivenerweiternd ist nicht nur die zeitliche Ausweitung der "Geschichte des Pietismus" auf das 19. und 20. Jh., sondern gerade auch die Integration von Gruppen und Strömungen in Europa und Nordamerika, die man vielleicht nicht von vornherein mit diesem Begriff belegen würde, weil Traditionszusammenhänge mit dem ,älteren' Pietismus auf den ersten Blick nur mehr schwer zu erkennen sind. Das gilt, wenn nicht schon für Teile der Erweckungsbewegung, zumal für den Evangelikalismus und das Gemeinschaftschristentum und ganz sicher auch für den in Nordamerika aufkommenden Fundamentalismus. Wenn aber die "Stillen im Lande" mit dem "Maschinengewehr Gottes" sich in einer "Geschichte des Pietismus" vereinigt sehen, ist damit sicher keine Gleichheit signalisiert, wohl aber eine den Vergleich herausfordernde Ähnlichkeit in der subjektiven, häufig in einem Akt der Erweckung gründenden Glaubenserfahrung, in der Konzentration auf die in der Heiligen Schrift offenbarte Heilslehre und dem daraus sich speisenden Drang zur Tätigkeit in der Welt.

Dass dem Herausgeber der besondere Begründungszwang des Bandes bewusst war, zeigt der erste Beitrag von Hartmut Lehmann, der "Die neue Lage" überschrieben ist und den konzentriert geschriebenen Versuch einer Einführung in die tiefgreifend gewandelten Rahmenbedingungen darstellt, in die sich pietistisch geprägtes Leben und Handeln in einer zunehmend säkularisierten und dechristianisierten Welt und vor dem Hintergrund der verschiedenen geschichtlichen Krisen- und Katastrophenerfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts hineingestellt sah. Zugleich charakterisiert Lehmann gleich zu Beginn den Band als einen ersten Versuch einer Gesamtdarstellung, die trotz einer in vielen Belangen unzureichenden Forschungslage, trotz bestehender Unsicherheiten in Fragen der Terminologie und Periodisierung, ja selbst trotz einer noch ausstehenden Klärung über die tatsächlich zum neueren Pietismus zu rechnenden "Strömungen und Gruppen innerhalb des internationalen Protestantismus" (2) vorgelegt wird. So ist es nur allzu verständlich und ein großer Vorzug seiner Darstellung, wenn Lehmann zu fast allen Aspekten offene Fragen und erst in der Zukunft einzulösende Forschungsdesiderata benennt, die dann im weiteren Verlauf von den Verfassern der Einzeldarstellungen immer wieder ergänzt werden.

Liest man diese Einführung in Kenntnis der beiden ersten Bände der "Geschichte des Pietismus", wird man unwillkürlich an die Entwicklungstrias von Aufstieg, Blütezeit und Niedergang erinnert. Denn wenn Lehmann am Ende auch konstatiert, die "neue Lage" "bedeutete eine Bedrohung der pietistischen Traditionen ebenso wie eine Chance zur Erneuerung" (25), so dominiert in den Ausführungen doch eindeutig die Bedrohung, der sich sowohl die Lebensformen als auch die öffentliche Wirksamkeit entschieden frommer Protestanten in der Zeit nach Aufklärung und Französischer Revolution ausgesetzt sahen.

Bei allen Tendenzen nämlich, auf die Herausforderungen der sich immer schneller verändernden Lebenswirklichkeit durch neue, häufig bereits im angelsächsischen Raum erprobte Organisations- und Verkündigungsformen zu reagieren, und trotz wachsender Attraktivität und Bedeutung von Innerer und Äußerer Mission setzte doch im Laufe des 19. Jh.s ein Prozess ein, der "schon vor dem Ersten Weltkrieg zu einer sukzessiven Marginalisierung der Pietisten" (14) führte. Eine immer enger werdende Anlehnung an das konservative, später dann an das deutschnationale Lager trug dazu bei, dass für die Pietisten angesichts von aggressiver Kolonialpolitik und zunehmendem Nationalismus, von Industrialisierung und Urbanisierung nur noch affirmative oder rückständig wirkende Antworten bereitstanden. Im Zuge der Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche wurde dann auch der Einfluss der Pietisten im Erziehungswesen in dem Maße kleiner wie sich ihre Distanz zu den kulturellen Debatten und zu den vor allem naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritten vergrößerte.

Es ist das Verdienst des Bandes über den Pietismus im 19. und 20. Jh., vor diesen Fragen die Augen nicht zu verschließen und alles andere als eine parteiische ,Erfolgsgeschichte' von Organisationen und Verbänden, Einzelereignissen und bedeutenden Persönlichkeiten vorzulegen. Aber fast noch mehr fasziniert, wie es hier gelungen ist, eine überzeugende Gesamtdarstellung zu bieten, obwohl derart vielfältige Forschungslücken bestehen. In dieser Hinsicht ist der Band kein abschließendes Standardwerk, wohl aber ein richtungsweisender Leuchtturm, an dem sich künftige Arbeiten zum neueren Pietismus noch lange orientieren können.

Wie schon Bd. 1 sind auch die Bde. 2 und 3 durch ein Personen-, Orts- und Sachregister erschlossen; die umfangreichen Hinweise auf die Forschungsliteratur, die übersichtlich den Beiträgen und zum großen Teil auch ihren Unterkapiteln vorangestellt sind, erleichtern die Benutzung als Handbuch; die Qualität der zahlreichen Abbildungen, deren Provenienz leider nicht in allen Fällen klar ersichtlich ist, erscheint gegenüber Bd. 1 deutlich verbessert; Abbildungsverzeichnisse fehlen weiterhin.

Die "Geschichte des Pietismus" wird mit einem vierten Band abgeschlossen, in dem längsschnittartig übergreifende Fragestellungen (wie etwa das Verhältnis des Pietismus zu Theologie, Politik und Gesellschaft oder seine Bedeutung für Kunst, Sprache und Literatur) aufgegriffen werden sollen. Man wünschte sich, ihn bald in Händen halten zu können.