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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1279–1281

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Beier, Peter

Titel/Untertitel:

Missionarische Gemeinde in sozialistischer Umwelt. Die Kirchentagskongreßarbeit in Sachsen im Kontext der SED-Kirchenpolitik (1968-1975).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. XII, 514 S. gr.8 = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 32. Pp. DM 128,-. ISBN 3-525-55732-9.

Rezensent:

Sebastian Engelbrecht

Mit mikroskopischer Genauigkeit schildert Peter Beier die Geschichte eines kirchenkritischen Aufbruchs der evangelischen Laien in der DDR. Wie kaum eine andere Bewegung in der Kirchengeschichte der DDR symbolisieren die Kirchentagskongresse in Sachsen diesen Aufbruch. Sie stehen für den unbedingten Willen evangelischer Christen, auch unter den Bedingungen des kirchenfeindlichen Systems das Leben ihrer Gemeinschaft aufrechtzuerhalten und ihm zu neuer Relevanz zu verhelfen. Sie stehen aber auch für die Reformfähigkeit der Kirche überhaupt und für ihre Treue zum Geist der Reformation.

Die Studie ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Im Zuge der stürmischen Diskussion über das Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR in der ersten Hälfte der 1990er Jahre hatte der Rat der EKD die Arbeitsgemeinschaft 1993 gebeten, den Themenbereich auf einer breiten Quellenbasis und so differenziert wie möglich zu untersuchen. Im Zuge desselben Forschungsprojekts, das unter der Leitung des Tübinger Kirchenhistorikers Joachim Mehlhausen und der Arnoldshainer Kirchenhistorikerin Leonore Siegele-Wenschkewitz stand, hatte B. 1997 bereits eine Untersuchung über "Sachleistungen und Geldzuwendungen an Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter als Mittel der DDR-Kirchenpolitik" vorgelegt.

B.s zweites Buch im Rahmen des EKD-finanzierten Unternehmens ist eine präzise Chronik der Ereignisse. Sie beginnt mit einem Kapitel über die "Kirchentagsarbeit" in der DDR nach dem Mauerbau und über das in den 60er Jahren aufkommende Paradigma der "missionarischen Gemeinde" - einem aus der Ökumene stammenden Antwortversuch auf die Herausforderung der Säkularisierung. In den folgenden Kapiteln stellt B. streng chronologisch die Geschichte der Kongresse dar - vom ersten sächsischen Kirchentagskongress im Jahr 1968 bis zur Konsolidierung des Modells im Jahr 1975. Im 90 Seiten starken Anhang folgen umfangreiche Übersichten zu den Kirchentagen und Kirchentagskongressen in der gesamten DDR, eine Liste der Gremienmitglieder, statistische Angaben, 14 Dokumente und das Personenregister.

Nach B.s Darstellung bedeutete der Mauerbau im Jahr 1961 für die östlichen Landesausschüsse des Deutschen Evangelischen Kirchentages (DEKT) eine besonders schmerzliche Trennung - einerseits, weil die Kirchentage im Westen bruchlos fortgeführt wurden, mehr aber noch, weil die Akteure im Westen eine Mitverantwortung der ostdeutschen Kirchentagsarbeit nicht mehr für sinnvoll hielten. Zugleich torpedierte der DDR-Staat die Versuche der östlichen EKD-Gliedkirchen, weiterhin Kirchentage zu veranstalten, auch wenn sie auf Landeskirchen oder Regionen beschränkt blieben. Der Staat versagte organisatorische Hilfe und bemühte sich, durch ein "Instrumentarium indirekter Einflußnahme" den Ablauf zu stören.

Als der sächsische Landesausschuss des DEKT anlässlich des 1000. Jubiläums des Bistums Meißen einen Kirchentag plante, zogen die zuständigen staatlichen Stellen in Dresden und Berlin alle Register der Restriktion. Sie befürchteten die Manifestation eines "interkonfessionalistischen" Rechristianisierungswillens und verfügten, die Veranstaltungen hätten ganz im kirchlichen Rahmen zu bleiben. Außerkirchliche Veranstaltungsorte, Hotels und Gaststätten stünden nicht zur Verfügung. Zudem würde Besuch aus dem Westen nicht zugelassen.

Der sächsische Landesbischof Noth, der Präsident des sächsischen Landeskirchenamts, Johannes, und der Vorsitzende des DEKT-Landesausschusses, Cieslak, ersannen in der Krise ein neues Kirchentags-Konzept, das unter DDR-Bedingungen nicht nur praktikabel war, sondern auch als situationsangemessene und konzentrierte Variante einer Großveranstaltung für Laien erschien. Unter dem Eindruck des Laienkongresses "missio heute", den sie im Dezember 1967 in Berlin erlebt hatten, wurde am 24. und 25. Mai 1968 zu einem zweitägigen Kongress mit begrenzter Teilnehmerzahl in vier Dresdner Kirchgemeinden eingeladen. Am 26. Mai schloss sich ein offener Kirchentag an. 850 Teilnehmer erschienen mit "Delegiertenkarte" zum Kongress unter dem Motto "Die Kirche der Zukunft - Kirche für die anderen", 5000 kamen zum Kirchentag in sieben Kirchen der Stadt.

Der Kirchentagskongress war ein formales Novum, weil hier nicht in der Anonymität der Kirchentagsmassen, sondern in "gesprächsfähigen Gruppen" gearbeitet wurde. Inhaltlich typisch waren die Orientierung an Bibeltexten, der Bezug auf die Situation in der sozialistischen Gesellschaft und die missionarische Intention. Mit der Veranstaltung folgte die sächsische Landeskirche weniger einem staatskritischen, als vielmehr einem kirchenkritischen Impuls. Im Zentrum der Kritik standen die pfarrerzentrierte Volkskirche und ihre starren, zeitfremden Rituale. Den neuen Horizont bildete die mündige Gemeinde, deren Glieder im Alltag, also am Arbeitsplatz, im Neubaugebiet, im Umgang mit Behinderten - mitten in den Auseinandersetzungen der Welt - missionarisch wirken sollten: praktisch helfend und dadurch ihren Glauben bezeugend. Der damals in Karl-Marx-Stadt wirkende Pfarrer Dietrich Mendt brachte es in den Tagen im Mai 1968 auf den Punkt: "Echte gemeinsam wahrgenommene Verantwortung und Mitbestimmungsrecht aller statt Alleinherrschaft der Pfarrer. Gespräch statt Vortrag ..., Lebensgemeinschaft statt Publikum und Dienst an der Welt statt Selbstbefriedigung. Mit einer solchen Kirche werden wir anfangen können, nach Antworten zu suchen, die die Welt braucht."

Die von diesen Zielen bestimmte Form erwies sich als so tragfähig, dass die Kirchentagskongresse in den folgenden Jahren zur Institution wurden - nicht nur in Sachsen.

Der Autor beschreibt die Geschichte bis zum Dresdner Kirchentagskongress 1975 mit akribischer, teilweise aber auch übertriebener Genauigkeit. Die Darstellung orientiert sich am getreuen Abarbeiten des Quellenmaterials. Gelegentlich vermisst man im raschen Nacheinander der ereignisgeschichtlichen Details den Überblick und die Einordnung des Besonderen ins kirchenhistorische Ganze.

Von der Auseinandersetzung um das Abendmahl zwischen den Landesausschüssen aus Sachsen und Görlitz (anlässlich gemeinsam organisierter Kongresse) wird berichtet, ohne dass in diesem Zusammenhang die bevorstehende Verabschiedung der Leuenberger Konkordie in den Text eingebunden würde. Dass zwischen den Kirchentagskongressen im Herbst 1971 in Sachsen mit Johannes Hempel ein neuer Bischof gewählt wurde, bleibt unerwähnt - obwohl dieser bei einem der Kongresse selbst als richtungsweisender Theologe auftrat. Auch das DDR-weite Klima zwischen Staat und Kirche und die politische Großwetterlage fehlen häufig, um das- mal strenge, mal liberale - Verhalten staatlicher Stellen zu erklären. Und auch über den oft erwähnten Herbert Gehre, 1970 bis 1975 Sekretär des Landesausschusses, wüsste man gern mehr als das karge Biogramm verrät. Zentrale Persönlichkeiten wie er hätten im Text vorgestellt werden können. Gewiss hätte der kritische Leser noch mehr Wünsche: eine Sprache, die mehr Distanz zum Gegenstand aufweist (sie nähert sich allzu oft dem Protokolldeutsch), einen großzügiger gewählten Untersuchungszeitraum und einen Verzicht auf den irritierenden Wechsel der Schriftgröße.

Bei aller Kritik aber darf eine - im Blick auf die beleuchtete Zeit wahrscheinlich singuläre - Qualität des Buches nicht verschwiegen werden: B. wertet staatliche und kirchliche Quellen konsequent parallel aus, so dass der Leser den Lauf der Ereignisse permanent aus beiden Perspektiven nacherleben kann. Auch deshalb vermittelt das Buch einen Eindruck der Unbestechlichkeit. B.s Sachlichkeit kann zur Nachahmung empfohlen werden.