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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1275–1278

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schreiber, Stefan

Titel/Untertitel:

Gesalbter und König. Titel und Konzeptionen der königlichen Gesalbtenerwartung in frühjüdischen und urchristlichen Schriften.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2000. XII, 635 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 105. Lw. DM 268,-. ISBN 3-11-016937-1.

Rezensent:

Martin Karrer

Die messianischen Erwartungen im Frühjudentum und die Bezeichnung Jesu als Gesalbten (Messias, Christus) beschäftigen die Forschung zur neutestamentlichen Christologie in den letzten zwei Jahrzehnten wie kaum ein anderes Thema. Der Stoff ist dadurch mehrfach erschlossen, doch ohne dass sich in einer entscheidenden Frage ein Konsens gebildet hätte: Ist die Gesalbtenbezeichnung Jesu primär begrifflich und damit aus der Breite der jüdischen Gesalbtenvorstellungen (herrscherlich, prophetisch, priesterlich etc.), eingebettet in das umfassende Feld antiker Salbungen und Salbungsmotive (einschließlich solcher bei den Völkern, an die sich die christliche Mission wendet) zu entschlüsseln (vertreten etwa vom Rezensenten)? Oder ist eine spezielle Tradition, nämlich königliche Hoffnung im Judentum, für sie maßgeblich, die dann vom Begriff aus auch in angrenzende Gedankenkreise zu verfolgen wäre und eine herrscherliche Schwerpunktsetzung bei der Messianität Jesu - unter Ausschöpfen von Freiräumen der Tradition und Korrekturen gegenüber politisch-militärischen Optionen der Vorgeschichte - erfordert (so die vom Barock bis in die jüngste Zeit bevorzugte These)?

S. entscheidet sich in seiner vorliegenden Augsburger Habilitationsschrift (kath. Theol., 1999) programmatisch für letztere Position. Die Methodendiskussion der letzten Jahre veranlasst ihn dabei, die Traditionen um die königliche Gesalbtenvorstellung ein wenig zu begrenzen; die Termini "Gesalbter" und "König" sollen orientieren, weitere Kreise (Thronmotive etc.) an den Rand treten (4; unter die Folgen zählt die berechtigte Vorsicht beim Sohn Gottes-Text 4Q246, 498-508). Die nichtköniglichen Salbungs- und Gesalbtenvorstellungen weist S. bereits in der Forschungsskizze (5-19/27) rigoros ins Glied. Die Qumrantexte (199-245; fraglicher außerdem TestXII, 245-257) zwingen freilich zu einer Erweiterung (J. Zimmermann, Messianische Texte aus Qumran, 1998, ist in die Studie noch eingearbeitet), und ein Nachtrag in Kap. III 11 sichert den Blick auf prophetische Traditionen für die Christologie (vgl. 11QMelch; Elija-Erwartung; 514-534). Aber jeweils interessieren S. vor allem die Korrelationen zu den zuvor entfalteten königlichen Schwerpunkten.

Die Einengung erlaubt S. eine überaus detaillierte Untersuchung der Basis der königlichen Gesalbtenerwartung im Gedankenkreis Israels, Gott sei König (Kap. II, 41-142), und ihrer verschiedenen Ausformungen im Judentum der Zeitenwende (Kap. III, 145-403 bzw. 534). Allerdings wundert in Anbetracht des Umfangs, dass die für das griechischsprachige Christentum des Neuen Testaments nicht unerheblichen jüdischen Entwicklungen in der Septuaginta nur gestreift, aber nicht gesondert behandelt werden (wenn wir von den in LXXRahlfs enthaltenen PsSal absehen). Das Neue Testament ordnet S. - stimmig zu seiner geschilderten religionsgeschichtlichen Weichenstellung, doch eingeschränkter, als der Titel seiner Studie erwarten lässt - ins Judentum ein und widmet ihm kein eigenes Kap., sondern Abschnitte in III (374-387, 405-496). Sie dienen "der Verifikation der eruierten königlichen Gesalbtenkonzeptionen anhand der ersten christlichen Schriften" (405). Das Hauptaugenmerk gilt demnach der Judaistik, dem Neuen Testament von dort abgeleitet (und insofern nicht einer Gesamterarbeitung des Christustitels im Neuen Testament).

Kap. II (Gott als König) setzt sachgemäß, wenn auch oft langatmig und in nur lockerem Bezug zum Gesalbten-Thema, Akzente bei den Propheten, Psalmen, Qumranschriften (u. a. Sabbatlieder 100-105, 1QM 109-111), Philo und Josephus, schließlich der "basileia"-Botschaft Jesu (unter auffälliger Zurückstellung des EvThom). Mit einer in etwa mittleren Forschungslinie gelangt S. zu dem Ergebnis: "Die alttestamentlich fundierte Tradition von Gott als König lebt in frühjüdischer Zeit fort, wobei man sich häufig eine im politischen Bereich wirksame, endgültige Manifestation der Macht Gottes erhoffte, so dass die Herrschaft Gottes die herrschende politische Gewalt ablösen würde" (138).

Der Übergang von dort zur königlichen Gesalbtenerwartung (Kap. III) ist nicht ganz einfach, da diese "zwischen 500 und 200 v. Chr." gänzlich fehlt (154) und auch in der makkabäisch-hasmonäischen Ära (Rahmenbedingungen 155-159) nur einen allmählichen Anfang findet. Selbst als sie im 1. Jh. v. Chr. (vgl. 547) durchbricht, erzwingen die Quellen weiter ein vielschichtiges Bild mit verschiedenen Endzeitvorstellungen. Unter ihnen stechen die geschichtliche, davidisch-königliche Messiaserwartung der PsSal 17-18 (161-190), das Syndrom vom Gesalbten Israels, Spross Davids und Fürsten aus Qumran (bes. 1QS; CD; 1QSa; 1QSb; 4Q161; 4Q174; 4Q252; 4Q285 199-245), die Prätentionen der Aufstandsbewegungen gegen Rom (denen S. für das 1. Jh. trotz der unbefriedigenden Quellenlage messianische Komponenten zuweist; 275-321) und apokalyptische "Variationen", die himmlische und irdische Erwartung korrelieren (Menschensohn-Gesalbter in 1Hen; Gesalbter, "Mensch" und "pais" in 4Esr; Messias und "pais" des syrBar; 323-389), hervor (die Entscheidung, Menschensohn und Messias trotz unstrittig verschiedener Herkunft aufeinander zu beziehen, wäre dabei genauer zu begründen; die weichenstellende These, bereits die LXX hätte den Menschensohn von Dan 7,13 f. als menschliche Königsfigur verstanden, wird 323 nicht verifiziert). Dankenswert vorsichtig behandelt S. die Sib (259-268), den "Mensch[en]" und andere eschatologische Motive bei Philo (269-274). Alles in allem spiegelt das Ergebnis - der Terminus Gesalbter evoziere um die Zeitenwende eine herrscherliche Gestalt, die als machtvoller Repräsentant Gottes zukünftig oder eschatologisch auftrete, um Israels Feinde zu vernichten und eine Heilszeit für Israel aufzurichten - eine breite derzeitige Forschungslinie zur königlichen Gesalbtenhoffnung und sind strittige Interpretationen stets zu erkennen.

Was die neutestamentlichen Schriften angeht, ist nach dem Gesagten der Einfluss königlicher Gesalbtenerwartung zu verifizieren. Für die Apk unternimmt S. das im Anschluss an die jüdischen Apokalypsen (374-387), für Corpus Paulinum, Evangelien und Apg in einem eigenen Abschnitt (III 10; 405-496). Durch den Rückbezug auf die Person Jesu und deren Tod entsteht - stellt er fest - ein Umbruch (nachweisbar ab dem ältesten Zeugen, Paulus; 409), der eine direkte Verlängerung der Traditionen verhindert. Trotzdem sind sie in vieler Hinsicht hilfreich (bei Paulus z. B. zu Röm 1,3 f. [410 f.], bei den Synoptikern von den mt/luk Vorgeschichten [425-429] bis Mk 15,32 par. [442], im Joh vom Prolog [451-455] und 1,49 [461 ff.] über 4,25 [465 ff.] und 6,15 [467 ff.] bis 18,33-36 [485 ff.] und 19,19 [488 f.]; J. Kügler, Der andere König, 1999 ist dabei noch in die Bibliographie aufgenommen, aber nicht mehr voll ausgewertet), und das bis hin zur Reflexion über den Zusammenhang von Kreuzestitulus und Durchsetzung des Christusprädikats (492-496). Die Verbindung von Gegenwart und Endzeit in Christus, die Ablösung der militärischen Komponenten der Tradition durch eine neue theologische Gestaltung des Prädikats und die Entgrenzung Israels kristallisieren sich als wichtigste christliche Transformationen heraus (554).

Stellen wir Differenzen über Details hintan (sie sind bei der Fülle des behandelten Stoffs zu erwarten und sollen die Sorgfalt der Studie nicht überdecken)! Wesentlicher ist ein grundsätzliches Problem: Durch die Anlage des Kap. III erfüllt der Abschnitt an sich eine begrenzte Aufgabe, nämlich die Verifizierung eines bestimmten Traditionskreises im Neuen Testament, das aber nicht einmal an allen seinen Schriften. (S. behandelt keine der Schriften zwischen Deuteropaulinen und Apk, übergeht also auch den Hebr, der für ihn mit seiner Rezeption königlicher Traditionen in Kap. 1 ertragreich hätte sein können.) Doch zugleich will er beweisen, dass sich die neutestamentlichen Christusaussagen insgesamt "als in der Tradition der frühjüdischen königlichen Gesalbtenerwartungen stehend" beschreiben lassen, "wobei häufig explizit die königliche Gesalbtenkonzeption die freilich in aller Regel christlich transformierte und eigenakzentuierte Basis bildet" (490). Das könnte nur bei einer Gegenprüfung an den anderen Gesalbten- und Salbungstraditionen und einer Erklärung des umfassenden neutestamentlichen Befundes (also auch der königlicher Betrachtung schwer einzugliedernden Stellen) überzeugen.

Insgesamt legt S. eine gut zu benutzende Studie über königliche Zugänge zum Christustitel dar. Indes entscheidet er das zentrale Problem, ob die königliche Messianität sich als zusammenfassender Schlüssel zum Neuen Testament eigne - entgegen seiner Absicht - nicht. Die Forschung ist nach wie vor offen.

Der Band ist im Übrigen vorzüglich gesetzt, Fehler sind selten. Umfangreiche Register (Sachen, Namen, Stellen; 499-504) ermutigen zur Benutzung bei vielen Einzelfragen.