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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1273–1275

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Repschinski, Boris

Titel/Untertitel:

The Controversy Stories in the Gospel of Matthew. Their Redaction, Form and Relevance for the Relationship Between the Matthean Community and Formative Judaism.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. 372 S. gr.8 = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 189. Lw. DM 128,-. ISBN 3-525-53873-1.

Rezensent:

Hans-Jürgen Becker

In der Matthäusforschung besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass das Evangelium auf der Ebene seiner Endredaktion und -komposition auch die soziale und historische Situation der matthäischen Gemeinde nach 70 reflektiert. Umstritten ist jedoch nach wie vor das Verhältnis dieser Gemeinde zum zeitgenössischen Judentum. Ist der Konflikt, den die Gemeinde mit den jüdischen Autoritäten auszufechten hat, eine Auseinandersetzung innerhalb des Judentums, oder hat sie sich bereits endgültig vom Judentum getrennt? Ferner ist noch nicht entschieden, ob sie sich - neben der Völkermission - weiterhin auch zu Israel gesandt weiß oder nicht.

Das vorliegende Buch möchte diese Fragen überzeugender beantworten, als es bisher geschehen ist, und zwar auf Grund einer eingehenden Analyse der im Rahmen von Mt 9-22 überlieferten "controversy stories" (Bultmann: Streitgespräche; Dibelius: Paradigmen). Kap. I bietet einen mit kritischen Akzenten versehenen Forschungsbericht; darauf folgt in vier Kapiteln die redaktionsgeschichtliche Untersuchung der relevanten Texte in Mt 9; 12; 13-19; 21-22. Kap. VI behandelt die Frage nach ihrer literarischen Form und Funktion. Ein weiteres Kapitel thematisiert eigens die Einbettung der untersuchten Texte, ihrer Themen und handelnden Charaktere, in den narrativen Gesamtzusammenhang des Evangeliums (Kap. VII). Dadurch soll eine auf Einzeltexte gestützte Engführung der Mt-Interpretation, die R. an früheren redaktionsgeschichtlichen Arbeiten kritisiert, vermieden und die Untersuchung methodisch auf eine breitere Basis gestellt werden. Das Schlusskapitel VIII begründet zusammenfassend das Ergebnis: Die "controversy stories" lassen auf eine Auseinandersetzung der matthäischen Gemeinde mit den zeitgenössischen jüdischen Autoritäten intra muros des Judentums schließen.

Die sehr sorgfältigen, von der Zwei-Quellen-Theorie ausgehenden redaktionskritischen Analysen R.s bilden die Grundlage dieser Auffassung. Sie lassen im Wesentlichen folgende wiederkehrenden Muster der redaktionellen Arbeit erkennen: 1. Mt verbessert Mk und Q in stilistischer und formaler Hinsicht. 2. Mt erhöht die christologische Bedeutsamkeit der Texte; dabei legt er besonderes Gewicht auf die Charakterisierung Jesu als "Sohn Davids". 3. Mt verschärft den Konflikt Jesu mit seinen Gegnern und die Polemik gegen sie. Er macht die Pharisäer zu den Hauptopponenten. 4. Mt gestaltet einige Streitgespräche als Kampf um die Gefolgschaft der Volksmenge. 5. Mt zeichnet Jesus im Gegenüber zu seinen Gegnern als den autoritativen Ausleger des Gesetzes.

Der redaktionskritische Befund legt in vielen Fällen einen Bezug der Streitgespräche zur Praxis der matthäischen Gemeinde nahe (am deutlichsten 9,17: Fasten; 12,12: Sabbat ; 15,2: Händewaschen; 19,9: Ehescheidung; m. E. fraglich 9,7: Sündenvergebung). In diesen Fällen liegt Mt daran, herauszustellen, dass es die Gemeinde ist, die auf Seiten des Gesetzes steht, nicht ihre Gegner. Unterwiesen vom messianischen Lehrer, ist sie der jüdischen Überlieferung treu, indem sie sie richtig interpretiert und entsprechend handelt. Repräsentieren dabei die Jünger die Gemeinde, so stehen die Pharisäer, auf die Mt die Auseinandersetzung um die richtige Gesetzesauslegung zuspitzt, nach R. für die zeitgenössischen jüdischen Autoritäten, die der Gemeinde nicht zugehören und die durch ihren Anspruch auf die Führungsrolle Israels in Konkurrenz zu ihr treten. Es ist der daraus erwachsene, gravierende Konflikt, den Mt durch seine Bearbeitung der Tradition in den Vordergrund stellt. Dies ergibt sich dem Vf. auch aus der Formanalyse: Bei den matthäischen "controversy stories" handelt es sich um eine besondere, um Züge des Agon Logon bereicherte Variante der in jüdischen wie nichtjüdischen antiken Quellen weit verbreiteten Chreia. Die für Mt spezifische Erweiterung besteht in der ausdrücklichen Erwähnung der Feindschaft der Gesprächspartner. Hervorgehoben ist also das Moment des Konflikts.

Dieser Konflikt entzündet sich an der Frage nach der Bedeutung Jesu und bezieht sich auf die rechte Auslegung des Gesetzes. Es ist das Verdienst R.s, dies anhand der Streitgespräche gezeigt zu haben. Das Evangelium bestätigt diesen Befund auch außerhalb der von ihm untersuchten Texte. Der weitergehenden These des Vf.s wird man sich hingegen nur mit Vorbehalten anschließen können. Er ist der Ansicht, die Auseinandersetzung, in der die matthäische Gemeinde steht und die sich in den "controversy stories" widerspiegelt, sei für sie zugleich ein aktueller Kampf um die Gefolgschaft Israels, der "Volksmenge". Ihrer Darstellung widme Mt in den Streitgesprächen daher besondere Aufmerksamkeit: In ihrem Verhältnis zu Jesu Taten und Lehre zeichne er sie distanziert, aber dennoch "mildly positive" (329). Demgegenüber ist zu sagen, dass Mt zwar Wert auf ihre Präsenz und somit auf die Öffentlichkeit der Streitgespräche legt. Die Reaktion der Volksmenge wird aber nur selten mitgeteilt. In 9,8 ist sie nicht grundsätzlich ablehnend ("Als das Volk das sah, fürchtete es sich und pries Gott, der solche Macht den Menschen gegeben hat"), in 12,23 fragend ("Ist dieser nicht Davids Sohn?"; die negative Antwort der Pharisäer folgt auf dem Fuße, die Reaktion der Zuhörer bleibt offen). In den Texten aus Mt 13-19 aber spielt die Volksmenge weder positiv noch negativ eine besondere Rolle. In 22,33 entsetzt sie sich über die Lehre Jesu. Die Kinder, die im Tempel "Hosianna dem Sohn Davids" rufen (21,15), können nicht, wie bei R., unter die Volksmenge subsumiert werden (vgl. das anschließende Zitat aus Ps 8,3). Um eine mögliche Entwicklung in der Haltung des Volkes erkennen zu können, ist über die Betrachtung der Streitgespräche hinaus die des narrativen Gesamtzusammenhangs des Evangeliums besonders wichtig. In seinem entsprechenden Kapitel behauptet R. aber mehr, als der schmale redaktionskritische Befund hergibt, wenn er sagt, Mt zeichne mit der Zuhörerschaft der Streitgespräche eine Gruppe, die sich "von der betrügerischen Führerschaft der Gegner Jesu zu einer Anerkennung der matthäischen Gemeinde als der rechtmäßigen Führer Israels" hinwende (329). Zwar kann die These hier nicht im Einzelnen diskutiert werden; sie lässt sich aber m. E. nur bei einer ungebührlichen Relativierung vor allem von Mt 13 (die Menge versteht Jesu Gleichnisse nicht und soll sie auch nicht verstehen!) und Mt 27,25 durchhalten. Auch R.s konsequente Deutung der "Völker" des Missionsbefehls in Mt 28,19 als Begriff, der die Juden einschließe (als eines unter anderen Völkern!), bleibt gerade für Mt fraglich.

Die Frage, ob der Streit über die Bedeutung Jesu und die Auslegung des Gesetzes bei Mt eine innerjüdische Auseinandersetzung ist, muss differenziert werden. Sicherlich ist sie in dem Sinne mit R. positiv zu beantworten, dass die matthäischen Deutungskategorien eben jüdische Kategorien sind und Mt sich auf die jüdische schriftgelehrte Tradition bezieht. Ohne diese Tradition ist für Mt das Evangelium gar nicht aussagbar. Wenn, was anzunehmen ist, die matthäische Gemeinde sich bereits nichtjüdischen Gläubigen geöffnet hatte, dann wurden also diese Nichtjuden durch das Evangelium in die jüdische Tradition hineingenommen und zu einer Gesetzespraxis verpflichtet, die sich vor dieser Tradition verantwortete. Mt war offensichtlich nicht der Meinung, dass die Lehre Jesu und der Glaube an ihn als den Christus die Grenzen dieser Tradition sprengte. Vielleicht waren allerdings seine Gegner dieser Auffassung.

Der Anspruch auf die rechte Interpretation der jüdischen Tradition hängt mit der Autorität zur Definition dessen, was jüdisch und was nicht mehr jüdisch ist, eng zusammen. Das relativ harmonische Bild, das die spätere rabbinische Überlieferung von der Zeit nach der Zerstörung des Tempels zeichnet, kann nicht verdecken, dass es eine Epoche widerstreitender Ansprüche auf diese Autorität war. Darum ist die Alternative "intra" oder "extra muros" des Judentums, wie R. sie noch aufstellt, eine Frage der Perspektive. Die Vorstellung einer etablierten Führungsschicht, die diese Grenzlinie hätte ziehen und zu allgemeiner Gültigkeit erheben können, ist für diese Zeit unsachgemäß. Darin bestand schon die Problematik der von R. im Zusammenhang seines Forschungsberichts dargestellten Anwendung des soziologischen Sekten-Modells auf die im Evangelium reflektierte Gemeindesituation. Das Verständnis der matthäischen Gemeinde als jüdische Sekte setzt eine definierte Bezugsgröße "Judentum" voraus. Wenn R. dagegen treffend mit der neueren judaistischen Forschung anmerkt, dass es unmittelbar nach 70 "room for a wide variety of approaches to the restoration of a Jewish identity" gab (50), dann findet doch diese Erkenntnis in seinem abschließenden Kapitel zu geringen Niederschlag. Dort spricht er weiterhin vom "main body" des Judentums (346) und beschreibt die matthäischen Streitgespräche als "reflections of a struggle intra muros of Judaism" (Kapitelüberschrift).

Man sollte besser von konkurrierenden Bemühungen verschiedener Gruppen um die Definition des Judentums nach der Katastrophe des Jahres 70 sprechen. Diese Definition verbindet sich bei Mt mit einem universalen Auftrag, der keineswegs "as somewhat of a surprise" am Ende des Evangeliums steht, wie R. meint (345), sondern in seiner Christologie begründet und im Erzählfaden angelegt ist. Die matthäische Interpretation des Judentums unter der Prämisse des konkreten, erschienenen Messias macht es zum universalen Christentum - zu einem Christentum allerdings, das jüdisch konstituiert und in dem der Bezug zur jüdischen Tradition unaufgebbar ist.