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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1271 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Mason, Steve

Titel/Untertitel:

Flavius Josephus und das Neue Testament. Aus dem Amerik. von M. Vogel.

Verlag:

Tübingen-Basel: Franke 2000. 354 S. 8 = UTB für Wissenschaft, 2130. Kart. DM 36,80. ISBN 3-7720-2275-8.

Rezensent:

Christine Gerber

"Den Josephus mußt du lesen", das empfahl schon der Jude Spiegelberg dem an seinem eigenen "tintenklecksenden Säkulum" verzweifelnden von Moor in Schillers "Räuber". Den Josephus zu lesen, legt auch M., klassischer Philologe und ausgewiesener Josephus-Forscher aus Kanada, denen ans Herz, die das Neue Testament auslegen wollen. Er richtet sich nicht an Fachkollegen und -kolleginnen, sondern an Theologiestudierende und weitere Interessierte, denen, wie M. sicher zu Recht unterstellt, das Werk des jüdischen Autors vielleicht namentlich bekannt, aber zum Lesen zu langatmig und zu wenig spannend ist.

Das Anliegen des Buches ist es nun, das Leben, Denken und Werk des Josephus für die Auslegung des NT und Rekonstruktion der neutestamentlichen Umwelt zu erschließen, und zwar für eine angemessene Verwendung, die nicht Textbruchstücke aus den Kontexten isoliert heranzieht wider ihre eigene Intention, sondern den jeweiligen Zusammenhang berücksichtigt und um die Tendenzen der Schriften weiß. - Die Neubearbeitung, kompetent übersetzt durch den Mitarbeiter am Münsteraner Josephus-Projekt M. Vogel, ist aktualisiert um jüngere und z. T. auch deutschsprachige Literatur, vertritt aber auch in der Sache veränderte Ansichten, insbesondere über die Werke des Josephus. Der lockere anglo-amerikanische Stil und die Allgemeinverständlichkeit der Darstellung sind erhalten geblieben.

Das Buch ist in sechs Kapitel aufgeteilt - von denen die ersten drei Josephus und sein Werk vorstellen, die zweiten drei deren Bedeutung für die Auslegung des NT - und durch Einführung und Zusammenfassung gerahmt. Zur Übersicht sind einige Tabellen eingefügt, zum Schluss der Kapitel eine kommentierte Auswahl von Sekundärliteratur. Dass das Buch nur ein Stellenregister und nicht, wie das amerikanische Original, ein Sachregister hat, ist der Benutzung abträglich. Hilfreich ist hingegen, dass bei Textstellen auch die Zählweise der deutschen Clementz-Übersetzung angegeben wird.

Das 1. Kap. zeigt anhand des "Missbrauchs" des Josephus-Textes in christlicher Tradition und gegenwärtiger Forschung auf, wogegen sich der Vf. richtet, etwa dagegen, dass Christen die Erklärung des Judäischen Krieges bei Josephus vereinnahmen für ihre Deutung der Zerstörung Jerusalems als "Zerstörung des Judentums" (27) und Strafe Gottes für die Tötung Jesu. Im 2. Kap. schildert M. den Werdegang des Josephus, im 3. Kap. seine Werke. Diese Darstellung zeichnet sich gegenüber sonst üblichen Einleitungen darin aus, dass sie auf ermüdende Inhaltsparaphrasen verzichtet und im Interesse des Gesamtanliegens die Themen und die jeweilige Intention der Werke im Blick auf die von M. unterstellte "reale" Leserschaft- durchaus streitbar - entwirft. Die Adressaten seien nicht-jüdisch, dem Judentum gegenüber aber aufgeschlossen. Z. B. werden die Antiquitates dadurch qualifiziert, dass ihr zentrales Thema die Vorstellung der jüdischen Verfassung sei und mithin die Darstellung des Judentums als Philosophie, die zur Eudaimonie führe. Vita wird gelesen als Essay Josephus' über seinen eigenen (natürlich vorbildlichen) Charakter.

Das 4. Kap. als "who is who" in der Welt des NT führt aus, wie die Herodes-Dynastie, römische Statthalter in Judäa, Hohepriester, Pharisäer und Schriftgelehrte in den verschiedenen Werken des Josephus dargestellt werden, wo sie im NT Erwähnung finden und wann die von Josephus überlieferten Notizen die Lektüre des NT erhellen, sei es, dass sie Einzelheiten erklären, sei es, dass sie die Tendenz der neutestamentlichen Aussagen erkennbar machen. In einem weiteren Kapitel werden in entsprechender Weise die Nachrichten des Josephus über Männer des frühen Christentums untersucht, Johannes den Täufer, für Josephus ein vorbildlicher Jude, und Jakobus den Herrenbruder, nun mit dem Ergebnis, dass auch das NT die Darstellung des Josephus erhellt. Wie das sog. testimonium flavianum über Jesus vor christlicher Interpolation lautete, lässt M. offen. Das 6. Kap. vergleicht schließlich das lukanische Doppelwerk und die Werke des jüdischen Schriftstellers. Sie stehen sich nach M. besonders nahe, wählen sie doch beide als Außenseiter die Gattung der hellenistischen Historiographie mit der Absicht, ihre Gruppe als der Umwelt konform darzustellen. Übereinstimmungen zwischen beiderseits überlieferten Ereignissen und Konzepten, vor allem in der Darstellung ihrer Gruppe als "Philosophie" (für Lk sei das Christentum eine jüdische Philosophenschule) lassen M. annehmen, dass Lk das Werk des Josephus gekannt habe, ja sogar als Prätext bei seinen Lesern und Leserinnen voraussetze.

So zeigt sich, dass Josephus "keine Faktensammlung geschrieben hat, an die man mit Schere und Klebstoff herangehen kann" (328), sondern dass man ihm nur gerecht wird, wenn man die für die NT-Auslegung bedeutsamen Passagen in ihrem Entstehungskontext, im Wissen um Tendenzen und Grenzen des Werkes liest.

Dies nachzuweisen, gelingt dem Buch sehr gut und mit vielen interessanten, lehrreichen Beispielen. Es bleiben aber doch theologische Desiderate, die nicht nur auf die begrenzte Absicht des Buches zurückzuführen sind.

Die Differenziertheit, die M. für die Werke des Josephus aufbringt, fehlt in der Wahrnehmung des NT, vgl. etwa die fragwürdigen Datierungen auf der Tabelle 52. Auch kann M. die Nähe des lukanischen Werkes zu dem des Josephus nur um den Preis der Isolation des Ersteren aus der jüdisch-christlichen Tradition beweisen. Aber auch Josephus wird zu Gunsten der Berücksichtigung seiner nicht-jüdischen Adressaten und Adressatinnen nicht innerhalb des Judentums verortet. Ein Vergleich seiner Geschichtsdarstellung und Erklärung des Gesetzes mit sonstigen jüdischen Entwürfen wäre jedoch ebenfalls bedeutsam für die Auslegung des NT. Denn der Paradigmenwechsel in der Sicht des Judentums und des frühen Christentums als Teil des Judentums hat durchaus noch nicht den Weg von der neutestamentlichen Wissenschaft an die "Basis" gefunden.

Auch eingedenk dieser Anfragen ist es sehr begrüßenswert, dass das Buch jetzt auf Deutsch und erschwinglich vorliegt, und es ist zu hoffen, dass tatsächlich mehr Nicht-Fachleute der Empfehlung folgen, den Josephus zu lesen.