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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1269–1271

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Labahn, Michael

Titel/Untertitel:

Offenbarung in Zeichen und Wort. Untersuchungen zur Vorgeschichte von Joh 6,1-25a und seine Rezeption in der Brotrede.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2000. XII, 358 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 117. Kart. DM 118,-. ISBN 3-16-147306-X.

Rezensent:

Konrad Haldimann

Galt das Verhältnis des Joh zu den Synoptikern seit der einflussreichen Arbeit von Gardner-Smith (1938) für längere Zeit zumeist als geklärt und im Sinne einer nicht-literarischen Beziehung für entschieden, so haben sich in jüngerer Zeit die Stimmen gemehrt (Boismard-Lamouille, Hengel, Neirynck, Thyen u. a.), die diesen weitgehenden Konsens von unterschiedlichen Voraussetzungen und auf Grund divergenter Modelle in Frage gestellt haben. Die vorliegende Studie versucht, die Fragestellung, methodische Voraussetzungen und mögliche Ergebnisse durch die sorgfältige Untersuchung der beiden Wundergeschichten von Speisung und Seewandel (Joh 6,1-25a) zu präzisieren und zu klären.

Nach einer einleitenden Problemskizze (1-9) und der synchronen Analyse (10-80) werden die beiden Wundergeschichten je einzeln in diachroner Hinsicht analysiert (81-186; 187-230). Ein forschungsgeschichtlicher Überblick über das Verhältnis des Joh zu den Synoptikern (231-246) leitet zur Präsentation der eigenen Lösung über (247-271). Eine kurze Zusammenfassung des Werdeganges des Stoffes (272-276) und eine knappe Interpretation auf der Ebene des Evangelisten (277-288) beschließen die Arbeit.

Die synchrone Analyse (10-80) lässt einerseits die Selbständigkeit der beiden Wundergeschichten erkennen, zeigt aber andererseits, dass vor allem die Erzählung von der Speisung für die Konzeption des gesamten Kapitels eine wichtige Funktion hat; so stellt die Einleitung in 6,2 das Folgende unter den Aspekt der adäquaten Wahrnehmung der ,Zeichen', 6,6 gibt eine Leselinie vor, die erst im Petrusbekenntnis 6,68 f. zur Erfüllung kommt, 6,11fin. gibt einen Hinweis auf die Überfülle des Lebens, die der joh Christus austeilt. Während auf die Erzählung von der Speisung in der Lebensbrotrede 6,25b-71 in vielfältiger Weise zurückgegriffen wird, bleibt die Erzählung vom Seewandel eher im Hintergrund; ihre Funktion scheint vorbereitender Art zu sein, wie auch die Form des Ich-bin-Wortes in 6,20 zeigt.

Die Speisungsgeschichte Joh 6,1-15 lässt sich in eine joh Redaktion und eine traditionelle Erzählung aufteilen: Während die Einleitung V.1-4 zum größten Teil auf die Redaktion zurückgeht, lässt sich aus der eigentlichen Geschichte deutlich ein älterer Wunderbericht herausschälen, der vorwiegend die V. 5*. 8*, den größten Teil von V. 9-13 und V. 15* umfasste (81-114). Um das Verhältnis dieser traditionellen Erzählung zur synoptischen Tradition zu bestimmen (Mk 6,30-44 parr.; Mk 8,1-9 par.), wird diese ihrerseits literarkritisch und überlieferungsgeschichtlich analysiert (114-153). Ein Vergleich zwischen der vorjoh Erzählung und den vormk Berichten lässt deutlich erkennen, dass die joh und die synoptische Tradition in einem engen Verhältnis zueinander stehen. Doch welche diachronen Ebenen sind miteinander in Beziehung zu setzen? Der formkritische Vergleich bestätigt die Nähe, die form- und religionsgeschichtliche Analyse das Vorhandensein entsprechender Motive und Schemata in der Umwelt, ohne dass aber ein Raster bestimmt werden könnte, das die diachrone Frage schlüssig beantworten würde (153-183).

Die diachrone Analyse der Seewandelgeschichte Joh 6,16-21.22-25a kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, außer dass hier die Arbeit des Evangelisten bedeutend weniger Spuren hinterlassen hat und sich der form- und überlieferungsgeschichtliche Weg etwas komplizierter darstellt (Zuwachs von V. 22-25a; 187-230).

Um das Verhältnis zwischen den synoptischen Varianten und ihrer joh Fassung bestimmen zu können, schlägt der Vf. das Konzept der 'secondary orality' vor, nach welchem die Erzählungen des Mk in der joh Gemeinde wieder mündlich tradiert worden sind und dem Evangelisten Johannes auf diese Weise als Vorlage gedient haben. Ausschlaggebend für die Annahme der Kenntnis des Mk in der johanneischen Gemeinde sind für den Vf.: (a) die Identität der Gattung Evangelium (244 f.); (b) die Übereinstimmung der Reihenfolge der Perikopen Joh 6,1-15; 6,16-21 resp. Mk 6,30-44; 6,45-52 (250-260); (c) das Vorkommen von Erzählzügen der Mk-Redaktion im joh Text (258f.260).

Die angeführten Gründe scheinen mir nicht durchschlagend zu sein: (a) Die Frage, ob das Joh dieselbe Gattung repräsentiere wie das Mk, ist m. E. offener, als dies vom Vf. vorausgesetzt wird; aber auch bei Gleichheit der Gattung lassen sich mit guten Gründen verschiedene andere genetische Modelle denken (vgl. z. B. Becker, Fortna, Wagner). (b) Die Abfolge der Perikopen gehe auf Markus zurück, insofern die Orts- und Zeitangaben widersprüchlich und die Verbindungsstücke Mk 6,45-47 und 6,52 im Wesentlichen MkRed seien (253-258). Der Nachweis für 6,45-47 kann aber kaum überzeugen. Die vom Vf. in Anspruch genommenen Erzählzüge (z. B. Überfahrt mit dem Boot an das jenseitige Ufer [256]) lassen sich hier z. T. nur schwer vom Kern der traditionellen Geschichte trennen, während die angeführten theologischen Zusammenhänge oft recht vage bleiben: Das Motiv des ,Zwingens' (6,45) z. B. soll auf das Jüngerunverständnis hin entworfen sein (254), obwohl das Lexem ,zwingen' im Mk nur hier vorkommt. (c) Die bei Mk und Joh identischen Züge gehen in keinem Fall sicher auf die Mk-Redaktion zurück, auch wenn die entsprechenden Passagen bei Mk redaktionell bearbeitet sind; das Motiv des Kaufens resp. der 200 Denare in Joh 6,5.7/Mk 6,37 z. B. (126-130; 258 f.) lässt sich kaum mit Bestimmtheit auf die Mk-Redaktion zurückführen, insofern vokabelstatistisch nichts dafür spricht und der formgeschichtliche Befund für die Trennung von Tradition und Redaktion m. E. viel zu offen und uneindeutig ist, wenn man nicht mit relativ festen Gattungsmustern rechnen will.

Fazit: (1) Die vorgelegte Studie zeigt augenfällig, wie sich synchrone und diachrone Analyse gegenseitig befruchten können und aufeinander verweisen. (2) Das Verhältnis des Joh zu den Synoptikern stellt sich offener dar, als dies bisweilen den Anschein hatte. Der Vorschlag, mit dem Konzept der 'secondary orality' die form- und überlieferungsgeschichtliche Fragestellung mit der Annahme der Kenntnis der Synoptiker zu verbinden, stellt einen Lösungsvorschlag dar, den weiter zu diskutieren sich lohnen wird, auch wenn mir die vorgebrachten Gründe nicht ausreichend zu sein scheinen.