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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1265–1267

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Clarke, Andrew D.

Titel/Untertitel:

Serve the Community of the Church. Christians as Leaders and Ministers.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2000. IX, 305 S. gr.8 = First Century Christians in the Graeco-Roman World. Kart. $ 30.-. ISBN 0-8028-4182-1.

Rezensent:

Jürgen Roloff

Andrew D. Clarke, Lecturer in New Testament an der Universität Aberdeen (Schottland), versucht in dieser Studie, sozialgeschichtliche Erforschung des Urchristentums und theologische Interpretation neutestamentlicher Texte zu einer sinnvollen Synthese zusammenzuführen, und zwar in einem thematischen Bereich, dessen Behandlung in der neueren Forschung zumeist unter einseitiger Option für einen der beiden Aspekte erfolgte. Was bedeutet es für Organisationsformen und Leitungsstrukturen der frühen christlichen Gemeinden, dass sich deren Glieder zugleich als eingebettet in gesellschaftliche Strukturen der komplexen multikulturellen Welt der Frühzeit des römischen Imperiums - wie Großfamilien, Vereinen und Städten - vorfanden? Das ist die leitende Fragestellung.

Der mehr als die Hälfte des Buches umfassende erste Hauptteil ("Leadership in Graeco-Roman Society") ist der Darstellung der sozialgeschichtlichen Befunde gewidmet. Insbesondere die Auswertung von Inschriften und Papyri hat in den letzten Jahrzehnten zu einer vertieften Kenntnis der gesellschaftlichen Lebensformen und organisatorischen Strukturen der Spätantike geführt. Die Ergebnisse dieser Forschung werden hier übersichtlich und instruktiv ausgebreitet. Zugleich kommen in Zitateinschüben innerhalb des Textes sowie insbesondere im Anmerkungsapparat antike Autoren und Zeugnisse ausführlich zu Wort. So gewinnt dieser Teil weithin den Charakter eines sozialgeschichtlichen Textbuchs von hohem Informationswert.

Behandelt wird zunächst die griechisch-römische Polis mit ihrer eher oligarchischen als demokratischen Grundstruktur sowie ihren verschiedenen Leitungsorganen. Zu Recht wird dabei deren Einbettung in eine alles übergreifende religiöse Dimension herausgestellt. Gesondert gewürdigt werden die Verhältnisse in den römischen Kolonialstädten wie Antiochia Pisidiae, Ikonium, Lystra, Philippi und Korinth, die einen hohen Bevölkerungsanteil an römischen Veteranen und Einwanderern aus dem überbevölkerten Rom aufwiesen. Ein eigenes Kapitel ist den Vereinen und freiwilligen Zusammenschlüssen gewidmet. Diese umfassten ein weites Spektrum, wie schon aus den Bezeichnungen (secta, collegium, factio, thiasos, eranos, koinon, synodos, sodalitas) hervorgeht. Ihre gesellschaftliche Bedeutung bestand darin, dass sie auch für Angehörige der unteren Stände- sogar für Sklaven - den Aufstieg zu sozialer Geltung, Ehrenstellungen und Leitungsfunktionen eröffneten. Weitgehend gemeinsam ist auch ihnen die enge Verbindung religiöser und politischer Komponenten: Selbst Gemeinschaften von primär religiösem Charakter verfügten über nicht geringen politischen Einfluss. Ausführlich und differenziert werden sodann Familie und Haus dargestellt. Dabei erfährt die einseitige Betonung der rechtlichen und religiösen Autorität des paterfamilias in der älteren Forschung eine Korrektur: Diese hatte sich in der Frühzeit des Imperiums deutlich gelockert zu Gunsten größerer Selbständigkeit der Ehefrauen und Söhne, neben die potestas trat die - im Sinn wechselseitiger Bindung verstandene- pietas als gestaltendes Strukturprinzip. Ein eigenes Kapitel ist schließlich noch den Leitungsformen der jüdischen Synagogen gewidmet. Angesichts der Fülle differenzierender Bezeichnungen und unterschiedlicher Darstellungen, die uns sowohl im NT wie auch in Inschriften und anderen antiken Zeugnissen begegnen, lässt sich aus ihnen kein einheitliches Gesamtbild gewinnen. Der Vf. dürfte Recht haben, wenn er einen wesentlichen Grund für solche Uneinheitlichkeit darin sieht, dass bei den Leitungsfunktionen das römisch-hellenistische Patronatssystem eine maßgebliche Rolle gespielt hat: Es war üblich, Geldgebern und Förderern, darunter auch Frauen und Kindern, die Ehrentitel von Synagogenleitern und Vorstehern zu verleihen.

Der zweite Hauptteil ("Leadership in the Christian Community") fragt nach der Rolle, die die Verfassungs- und Leitungsstrukturen der Umwelt für die christlichen Gemeinden gespielt haben. Man mag es bedauern, dass der Vf. sich auf die paulinischen Gemeinden (mit einigen Seitenblicken auf die Apg) beschränkt. Verständlich ist dies allerdings insofern, als nur deren Binnenstrukturen im NT unmittelbar sichtbar gemacht werden. Dabei gelangt C. zu einem differenzierten Gesamtbild: Er stellt einerseits die starke Beeinflussung dieser Gemeinden durch die Verfassungs- und Leitungsstrukturen der Umwelt heraus, andererseits verweist er jedoch auf die dem entgegenwirkenden, vom Evangelium gespeisten Kräfte: "In some cases, however, these practises were at odds with the expectations of the Christian gospel; and we are aware of them only through the corrective statements of New Testament writers" (149). Auf solche "corrective statements" horcht C. die paulinischen Briefe ab. Er lässt sich dabei methodisch von der Voraussetzung leiten, dass die Ausführungen des Apostels zu dieser Thematik vorwiegend "didaktisch" und nicht - wie die ältere Forschung meinte- "deskriptiv" zu verstehen sind (170).

So entfaltet Paulus im 1Kor keineswegs ein umfassendes normatives Modell von Leitungsstrukturen für die korinthische Gemeinde. Er macht lediglich punktuell kritische Anmerkungen zu einzelnen dortigen Vorgängen, um im Übrigen die dort tatsächlich gegebenen Leitungsstrukturen unkommentiert zu lassen. Aus seinem Schweigen über diese Strukturen auf ihr Nicht-Vorhandensein und auf eine rein charismatische Gemeindestruktur zu schließen, wäre darum ein idealistischer Irrtum. Sehr wohl nämlich lässt sich einigen Andeutungen im Brief entnehmen, dass es in Korinth "säkulare" Leitungsstrukturen gab, die von der römisch-hellenistischen Umwelt inspiriert waren. So dürfte Erastus (Röm 16,23; vgl. Apg 19,22; 2Tim 4,20) ein hoher städtischer Beamter gewesen sein, der in der Gemeinde auf Grund seiner Patronatsfunktion eine hervorgehobene Rolle spielte, und das in 1Kor 6,1-11 erwähnte Prozessieren von Gemeindegliedern vor heidnischen Gerichten mag eine Statuserhöhung in der Gemeinde zum Ziel gehabt haben. Auf Kämpfe um den sozialen Status verweist auch der Konflikt zwischen den Starken und den Schwachen. - Den Röm deutet C. (eine These von Halvor Moxnes übernehmend) als ein Schreiben an eine Gemeinde, deren Leiter vorwiegend mit gesellschaftlichen Statusfragen befasst waren. Hinweise darauf will er vor allem in Röm 12,3; 13,1-7 und 16,3-15 finden. Spannungen ergaben sich vor allem daraus, dass die Hausgemeinden in Privathäusern zusammenkamen, deren reiche christliche Eigentümer als Patrone fungierten. Ähnlich wird auch der Hintergrund des Philipperbriefs beurteilt: Paulus ermahne hier Judenchristen, die sich durch Annäherung an das Judentum dessen Status als religio licita zu Nutze machen wollten, um damit ihren sozialen Status zu erhöhen, sie sollten sich stattdessen mit dem Leitbild des leidenden Christus identifizieren und sich von ihrem "Bürgerrecht im Himmel" bestimmen lassen. Der Phlm schließlich sei als Auseinandersetzung des Paulus mit jenen gesellschaftlichen Leitungsstrukturen zu verstehen, die dessen Empfänger sowohl als Patron der Hausgemeinde wie auch als Sklavenbesitzer repräsentierte.

Paulus setzt zwar das Vorhandensein von Leitungsstrukturen voraus, die sich an Modellen der Umwelt orientieren. Er übernimmt diese jedoch nicht, sondern hält ihnen ein christologisch inspiriertes, dem Evangelium gemäßes Modell entgegen, das er in seinem eigenen Wirken repräsentiert: nämlich das der diakonia, des Dienens nach der von Jesus gesetzten Norm. Das ist die zentrale Leitthese des Buches, auf die der Leser freilich bis zum letzten Kapitel warten muss. Um so nachdrücklicher wird sie hier ausgebreitet, und zwar in Form einer Auseinandersetzung mit John N. Collins (Diakonia: Re-interpreting the Ancient Sources, Oxford 1990). Dessen Behauptung, diakonia sei keineswegs eine christologisch motivierte christliche Sonderprägung, sondern ein aus der hellenistischen Umwelt übernommener Terminus, der die besondere Würde und Autorität eines Sprechers, Gesandten und Mittlers umschreibe, hält er vor allem zwei Argumente entgegen: Zum einen die breite Bezeugung der Verbindung der Wortgruppe diakonia/diakonein mit dem Bild des sich im Dienen preisgebenden Jesus im neutestamentlichen Schrifttum, zum andern deren durchweg christologisch motivierten Gebrauch durch Paulus. Anders als seine sich auf eigene Autorität und eigenen Status berufenden Gegner verzichtet Paulus auf solche Weise der Autoritätsausübung, indem er seine Autorität von Christus ableitet und als durch das Evangelium sowie seinen spezifischen apostolischen Auftrag eingegrenzt darstellt (232). Das dürfte zwar im Grunde richtig sein. Aber ist damit die Frage nach der konkreten Umsetzung dieser christologischen Einsicht des Paulus in dessen kirchenleitender Praxis schon ganz vom Tisch?