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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1259–1261

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Egger, Peter

Titel/Untertitel:

Verdienste vor Gott? Der Begriff zekhut im rabbinischen Genesiskommentar Bereshit Rabba.

Verlag:

Freiburg/ Schweiz: Universitätsverlag, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. VIII, 430 S. 8 = Novum Testamentum et Orbis Antiquus, 30. Lw. DM 132,-. ISBN 3-7278-1275-3 u. 3-525-53943-6.

Rezensent:

Friedrich Avemarie

Die traditionelle Übersetzung des rabbinischen Ausdrucks zekhut mit ,Verdienst' hat über Generationen hin das christliche Bild eines Judentums mitgeprägt, das seinen Weg zum Heil in der aufrechenbaren Ausübung von Geboten und guten Werken erblickt, "weil Gott irgendeinen Segen, irgendein Heil nur demjenigen zuwenden kann, der ein Verdienst vor ihm aufweisen kann" (14, Zitat P. Billerbeck). Da dieses Bild einer Religion strenger Werkgerechtigkeit in den letzten Jahrzehnten aus guten Gründen zunehmend fraglich wurde, ist auch eine Überprüfung jener herkömmlichen Interpretation von zekhut im Sinne von ,Verdienst' an der Zeit. Dieser Aufgabe stellt sich die vorliegende Monographie, die Druckfassung einer von Max Küchler betreuten Freiburger Dissertation, die zu dem Ergebnis kommt, dass die Übersetzung von zekhut mit ,Verdienst' durchgängig in die Irre führt.

Da die Belege für zekhut in Talmud und Midrasch in die Tausende gehen, beschränkt sich die Untersuchung auf ein ausgewähltes exemplarisches Werk, den im frühen 5. Jh. (und damit relativ früh) redigierten haggadischen Midrasch Bereshit Rabba. Mit 156 Belegen in 66 Textabschnitten taucht hier der Terminus freilich immer noch so häufig auf, dass ein Ergebnis erwartet werden darf, das auch für die übrige frühe rabbinische Literatur repräsentativ ist. Nach Sachgruppen geordnet, präsentiert Egger diese Textabschnitte sowohl im Originaltext wie in Übersetzung und schließt daran jeweils ausführliche Analysen, die meist noch weit mehr ins Detail gehen, als es die leitende Problemstellung selbst erfordern würde. Zur Abrundung bezieht er noch einige Texte aus dem Talmud Yerushalmi ein, die in älteren Darstellungen oft als Hauptbelege für die Verrechen- und Übertragbarkeit von zekhut angeführt wurden.

Sieht man schon an dieser Ausweitung der Textbasis, dass sich E. seine Sache auf keinen Fall zu leicht machen will, so sieht man es auch an einigen exegetischen Entscheidungen: Den Hinweis G. F. Moores, dass zekhut in der überaus häufigen, allein in Bereshit Rabba über 100mal belegten präpositionalen Verbindung bizekhut zu der Bedeutung ,um ... willen' verblasse, lässt E. nicht gelten; auch in dieser Verbindung, so zeigen seine Analysen, behalte zekhut die "volle Bedeutung", die es als "selbständiges Nomen" habe (294). Ebensowenig stützt sich E. darauf, dass Bereshit Rabba von einer zekhut der Tora - die ja als Subjekt von ,Verdiensten' nicht gut in Betracht kommen kann - kaum seltener spricht (9mal) als von der zekhut Abrahams (11mal) und der zekhut "der Väter" (16mal). Ein solches Argument erübrigt sich, weil E. ohnehin nicht damit rechnet, dass zekhut ,Verdienst' bedeutet. In BerR 40[41],9 etwa bestimmt er die zekhut der Tora als "die Leben schaffende, fördernde und erhaltende Wirksamkeit, Machtrealität und Kraft der torah" (86). Dass die "Quelle dieser Wirksamkeit ... in einer ,verdienstlichen' Befolgung der torah" liegen könnte, scheidet aus, weil in dem ganzen Abschnitt 40[41],9 nirgends von derartiger Befolgung die Rede ist; handelnd erscheint hier allein Gott (ebd.).

Als Spektrum möglicher "Umschreibungen" für zekhut eruiert E. Gültigkeit, Wirksamkeit, Machtrealität, Kraft, Verwirklichung, Wichtigkeit, Bedeutung, Anspruch (291), und es scheint durchaus, als lasse sich an den weitaus meisten Stellen in Bereshit Rabba mit dem einen oder anderen dieser Ausdrücke eine völlig stimmige Übersetzung von zekhut erreichen. Aber dabei bleibt E. nicht stehen; er bezieht auch bestimmte theologische Aspekte typischer Verwendungen ein, auf deren Grundlage er präzisiert: "Gültigkeit, Wirksamkeit und Verwirklichung der ... Erwählung durch Gott, des Bundes mit ihm und der damit gegebenen Verheißung in der Gott antwortenden Glaubenspraxis von Erwählten" (292). Und dieser Bezug der zekhut auf Gottes Erwählungshandeln ist der Kernpunkt von E.s These. Er liefert das entscheidende Argument, mit dem E. an denjenigen Stellen, an denen Bereshit Rabba tatsächlich bezogen auf menschliches Verhalten von zekhut spricht, die Gleichsetzung solcher zekhut mit ,Verdienst' zurückweist: Das menschliche Verhalten ist an diesen Stellen nicht ,Verdienst', sondern dankbare Antwort, auf die wiederum Gott seinerseits belohnend reagiert. Beim "Lohn" kann es sich daher "nur um die Anerkennung und Vergeltung Gottes für die Annahme, Bejahung und Verwirklichung der Erwählung durch die Erwählten ... für ihre Gott antwortende Glaubenspraxis ... und für ihr Tun seiner Gebote" handeln. Die Tora ist daher "kein Instrument zum Erwerb von ,Verdiensten', mit deren Hilfe man Gott gegenüber Forderungen stellen, ... ihn sozusagen zu seinem Schuldner machen könnte" (258, zu ySan 10,1). Wenn Abraham "aufgrund der zekhut" (140, hebr. bizekhut) seiner Zehntgabe von Gott gesegnet wird (BerR 43,8; vgl. Gen 14,20), so will es E. zwar nicht "bestreiten, dass die glaubende Antwort Abrahams ... durch die Gabe des Zehnten der Beachtung und Anerkennung von seiten Gottes wert und würdig ist und [diese] insofern verdient" (144). Nur müsse man, wenn man in solchen Fällen an der Rede vom ,Verdienst' festhalten wolle, "präzise angeben, in welchem Sinne dies zu verstehen ist". Für einen wirksameren Schutz gegen Missverständnisse hält es E. allerdings, "auf die Verwendung des Verbs verdienen und dessen Derivate" grundsätzlich zu verzichten (ebd.). Ähnlich argumentiert er noch öfter (157 f.; 223 zu BerR 34,9; 282-284 zu ySan 10,1).

Es ist klar, dass sich gegenüber einer so radikalen These manche Anfrage erhebt. So bleibt weiterhin das Problem der zekhut der Tora bestehen, denn ihr fehlt ja nicht nur zu verdienstlichen Leistungen, sondern auch zur dankbaren Antwort der nötige Subjektcharakter. Zu einem ganz neuen Problem wird die "zekhut der Hände" des Esau, die für den Vater Isaak Speise zubereitet hatten (BerR 66,7) - ihretwegen wurde Esau von Isaak gesegnet; die "zekhut der Hände ist also die Gültigkeit, Wirksamkeit und Verwirklichung des Segens Isaaks" (149). Aber wenn Esaus Handeln kein "verdienstliches Werk" ist (149), so lässt es sich doch ebensowenig als dankbare Antwort eines von Gott Erwählten interpretieren, denn ein solcher ist Esau nicht, selbst wenn er mit der Ehrung seines Vaters ein Dekaloggebot erfüllte (BerR 82,14). Immerhin, die Rede von einer zekhut bei Nichtisraeliten stellt eine seltene Ausnahme dar. In Sodom wurde selbstverständlich keine zekhut gefunden (183, BerR 50,1) - freilich, wenn das vorgängige göttliche Erwählungshandeln für die zekhut konstitutiv ist, wie konnte man sie dann in Sodom überhaupt suchen?

Besonders stimmt nachdenklich, dass sich E.s These nicht nur gegen eine bestimmte christliche Sicht des Judentums, sondern damit zugleich auch gegen namhafte jüdische Forscher wendet, denen die Wiedergabe von zekhut mit ,Verdienst' keineswegs prinzipiell ideologisch verdächtig erschien - etwa gegen A. Marmorstein, für den es (inwieweit apologetisch motiviert, mag offen bleiben) sogar "etwas völlig Positives" war, dass die Rabbinen "lehrten, wie man ,Verdienste' erwerben kann ..., weil dadurch der ,immeasurable value' ... jedes Menschen zum Ausdruck kommt" (10). Es fragt sich, ob es nicht, statt den Ausdruck ,Verdienst' kurzerhand über Bord zu werfen, auch möglich, ja sinnvoller gewesen wäre, ihn heuristisch beizubehalten, seine positiven Bedeutungsgehalte fruchtbar zu machen, diese anhand der vielen, gründlich geführten Einzelanalysen zu präzisieren und sich so eine Brücke zu jenen jüdischen Forschungspositionen zu erhalten.

Solche Einwände schmälern nun freilich das (sit venia verbo) Verdienst dieser Arbeit nur wenig. Und sollte man, an der tabula rasa der Hauptthese nicht sogleich Geschmack finden, so ist doch auch schon der Rahmen, in dem sie sich darbietet, eindrucksvoll genug: eine Fülle sorgfältig bearbeiteter Texte, Vergleiche mit Parallelüberlieferungen in anderen rabbinischen Werken, scharfsinnige Detailbeobachtungen und Gesamtinterpretationen von hoher theologischer Sensibilität (nur das Verzeichnis der Forschungsliteratur ist etwas knapp geraten). Damit wird die Lektüre dieses Buches in jedem Fall zu einem Gewinn.