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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1256–1259

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Rudnig, Thilo Alexander

Titel/Untertitel:

Heilig und Profan. Redaktionskritische Studien zu Ez 40-48.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2000. XIII, 412 S. gr.8= Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 287. Lw. DM 228,-. ISBN 3-11-016638-0.

Rezensent:

Rüdiger Liwak

Die Arbeit über Ez 40-48 ist eine von K.-F. Pohlmann angeregte und begleitete Untersuchung, die 1998/99 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet wurde. Ihr Vf. kritisiert die bisherige Forschung, weil sie Ez 40-48 nicht im Zusammenhang mit Ez 1-39 untersucht und die Texte nicht theologie- und sozialgeschichtlich verortet habe. Gegen dieses Defizit setzt er sein Programm: "Die vorliegende Untersuchung wird daher auf einem redaktionskritischen Weg die Entstehungsgeschichte und den Aussagegehalt des Verfassungsentwurfes und seiner Texte aufhellen, die Zusammenhänge mit Ez 1-39 (wie etwa Rück- und Vorverweise) aufarbeiten und den literarischen Befund konsequent in die Auswertung für soziale und theologische Auseinandersetzungen der nachexilischen Gemeinde münden lassen." (2 f.)

Der Vf. referiert zunächst die Forschungsgeschichte zum Ezechielbuch mit Zuspitzung auf Ez 40-48 und systematisiert dabei die Wissenschaftsgeschichte in vier Gruppen von Buchentstehungsmodellen: Entweder werde viel authentisches Material (,"konservatives" Modell') oder vorzugsweise redaktionelles Gut (,kritisches Modell') angenommen oder es werde eine genetische Sicht ganz bestritten (,pseudepigraphisches Modell') bzw. Polyphonie nivelliert (,holistisches Modell'). Weil der Vf. nur das ,konservative' und das kritische Modell für diskussionswürdig hält und allein das kritische für wissenschaftlich tragfähig, greift er methodisch vor allem buchredaktionelle Fragestellungen O. H. Stecks auf. So will er durch synchrone und diachrone Lesungen gewährleisten, "den Verfassungsentwurf nicht losgelöst vom Prophetenbuch zu sehen, sondern seine Wachstumsstadien als Teile der verschiedenen Buchgestalten des Ezechielbuches zu begreifen" (33 f.). Deshalb fragt er "zunächst nach text- und buchübergreifenden Strukturen und Schichten sowie konzeptionell wichtigen Einzeltexten, um sie in ihrer relativen Chronologie, Intention und Theologie zu erfassen und auf dieser Basis erst eine Theorie der Text- bzw. Buchentstehung zu entwickeln." (32) Damit reiht sich die vorliegende Untersuchung in eine Reihe von neueren Arbeiten ein, die einen buchredaktionellen Ansatz vertreten. O. H. Steck fordert allerdings für die diachrone Arbeit am Text umfassend Literar-, Redaktions- und Kompositionskritik, während die Beweislast für die Entstehungsgeschichte beim Vf. vorwiegend redaktionskritische und -geschichtliche Argumente tragen müssen.

Eine erste Lesung (36-51) von Ez 40-48 ergibt, dass der als Vision stilisierte, tendenziell theokratische Reformentwurf gegen seine Datierung in 40,1 ein komplexes Gebilde ist, das nicht 573 v. Chr. oder kurz danach entstanden ist, sondern auf Grund der Vielfalt und Reflexionsdichte bei den Fragen um Tempel, ,Fürst' (Nasi) und Land in seinen ältesten Bestandteilen "frühestens der exilisch-frühnachexilischen Zeit als einer Zeit der Restauration mit realen politischen Hoffnungen zuzuweisen" (51) ist. Hier droht eine petitio principii, die zudem Subjektivismen objektivieren will, wenn numerische und kognitive Zusammenhänge historisiert werden.

Zu den Vorzügen der Arbeit gehört es, dass die Korrelationen zwischen Ez 1-39 und 40-48 wahrgenommen und ausgewertet werden (52-64). Sie werden im Bereich der buchstrukturierenden Visionen (1-3.8-11.40-48) und der Heilsworte (20,39 ff. und 37,24 ff.) verortet und für den Übergang von 1-39 zu 40-48 mit 37,1-14.25 ff.*;40,1(ff.*) benannt. Unter Aufnahme von Beobachtungen V. Herntrichs und vor allem K.-F. Pohlmanns sieht der Vf. in diesen und anderen Texten eine ,golaorientierte Redaktion' am Werk, die die Interessen der Exilierten von 597 v. Chr. vertritt.

Bei der Analyse von Ez 40-48 macht sich der Vf. zunächst an die Aufgabe, bei den Textschwerpunkten ,Tempel', ,Fürst' und ,Land' eine literarische Grundschicht und erste Bearbeitungen herauszuarbeiten und anschließend die Entwicklung bis zur vorliegenden Gestalt der Vision von Ez 40-48 zu verfolgen.

In einem sehr ausführlichen und beeindruckenden Kapitel zum Tempel in Ez 40-42 (78-136) wird eine durch Visionseröffnung und Präsenzzusicherung gerahmte golabezogene Tempelbeschreibung postuliert, die Ez 40,1. 2b*.4*.17.28aa.47b.48 f.*; 41,1-4*.15b-20a*; 43,6a.7a umfasst und für ihre tempelarchitektonische Empfehlung älteres Material verarbeitet, und zwar so, dass ein mit dem Tempel Salomos vergleichbarer Grundbau zu einer Art "Wehrburg" mit differenzierten Heiligkeitsbereichen ,ausgebaut' wird. Eine spätere Bearbeitung wird durch Einfügungen (40,3[f.]*; 42,15-20*; 43,6b; 47,3-7) identifiziert, die statt Jahwe einen überweltlichen ,Mann' in der Vision führen lässt und damit die Transzendenz Jahwes betont. Andere Bearbeitungen, die auch für Ez 8-11 angenommen werden, steigern die Zusagen der Gegenwart Jahwes zum erneuten Einzug der Herrlichkeit (kabod) Jahwes in den Tempel.

Spezifische und z. T. korrigierende Fortschreibungen kennzeichnen auch die Texte zum ,Fürsten' (Nasi) (137-164). Die politischen Aufgaben der Nasi-Grundschicht-Texte werden von der golafreundlichen Redaktion in politisch ungeklärter Zeit im Blick auf den ,Fürsten' zu Gunsten seiner Priorität allein im Kult relativiert (44,5aa; 45,17a.21a.22-25; 46,4-7). Diese Redaktion habe später priesterliche Einschränkungen und Kritik erfahren (46,1-3.8-11, daneben 45,8ba.9; 46,16-18) und sei sühnetheologisch transformiert worden (45,[15b.]16.17b.18-20a).

Der dritte Themenschwerpunkt nach Tempel und Kultvorschriften ist das Land (165-190), um dessen rechtmäßigen Besitz Streit entstanden sein dürfte, als Exilierte wieder heimkehrten. Auf diesem Hintergrund sieht der Vf. einen golabezogenen Kernbestand (47,1.8*.9abbb.12a.13ab*.15b-20*; 48,35b), der die vom Tempelfluss bewirkte Fruchtbarkeit schildert und den Besitzanspruch der Rückkehrer mit einer Liste von Grenzfixpunkten des Westjordanlandes untermauert. Das Ganze sei später durch eine Rahmung (47,13ab*g.14.15a.21) und durch Anfügung von 48,1-29* zu einem Programm der Landverteilung für die zwölf Stämme Israels umgedeutet worden. Auch für diesen Thementeil werden einige Nachträge angenommen.

Nach dem ersten großen Untersuchungsgang steht dem Vf. folgende Buchgeschichte vor Augen (190-200): In deutlichem Abstand zu Deportation und Rückkehr hat ein Kreis von Erstexilierten, die zur Jerusalemer Führungsschicht gehörten, 597 v. Chr. deportiert wurden und unter Serubbabel, einem Enkel Jojachins, zurückkamen, in der ersten Hälfte des 5. Jh.s v. Chr. älteres, z. T. noch aus der Exilszeit stammendes Textgut aufgenommen und programmatisch sowie legitimatorisch mit einer älteren Gestalt des Ezechielbuches verbunden (vorausgesetzt wird 4-7*; 11,1-13*; 12,21 ff.*; 14,1-20*; 17,1-18*; 18*; 19/ 31*; 15,1-6*; 21,1-5*; 24*; 36,1-15*; 37,1-14*). Von einer Art Nullpunktsituation im Lande ausgehend (33,[21 f.]23-29), vertritt dieser Kreis die Prävalenz der Gola um Jojachin (14,21-23) und gestaltet mit der Konkretisierung von Heilserwartungen in 37,[1-14]25-28 eine die Gola favorisierende Grundschicht in 40-48 (40,1.2b*.4*.17.28aa; 40,47b-41,4*; 41,15b-20a*; 43, 6a.7a; 44,5aa; 45,17a.21a.22-25; 46,4-7; 47,1.8*.9abbb.12a; 47,13ab.15b-20*; 48,35b), die auf ihr vorliegendes Material bei der Beschreibung des Tempels (40,17.28aa.47b-49*; 41,1-4*. 15b-20a*), der Weisungen über Opfer und ,Fürst' (45,17a.21a. 22-25; 46,4-7) und der Liste über Grenzfixpunkte (47,13ab*. 15b-20*) zurückgegriffen und später mehrfach Bearbeitungen erfahren hat.

Ein weiterer Abschnitt (201-243) sucht nach zusammenhängenden Texten, die die golabegünstigenden Perspektiven konterkarieren. Der Vf. findet diese Texte, die er im Gegensatz zu ,golaorientiert' als ,diasporaorientiert' bezeichnet, in 43,7b-9*; 44,6 f.*; 45,8b.9; 46,16-18; 47,13ab*g.14.15a.21; 48,1-8a. 23b-29 als eine literarisch einheitliche Schicht, die in der zweiten Hälfte des 5. Jh.s v. Chr. entstand. "Deren Intentionen liegen darin, das golaorientierte Buchprofil aufzusprengen, indem sie die Favorisierung der Gola Jojachins radikal ablehnen bzw. durch redaktionelle Eingriffe aufheben und die für die erste Gola gedachte Heilsverkündigung des Propheten in ihrer positiven Bedeutung für die Erstexilierten abschwächen." (239)

Priesterliche Bearbeitungen (244-331) bilden einen dritten Redaktionsschub, der frühestens zu Beginn des 4. Jh.s v. Chr. beginnt und sich länger hinzieht. Sie sind nach den Untersuchungsergebnissen der umfassendste Eingriff, der dem vorliegenden Komplex von Ez 40-48 am nachdrücklichsten Gehalt und Gestalt verschafft hat. Sie wollen nach Meinung des Vf.s den Entwurf von P an entscheidenden Stellen korrigieren, wenn ein imposantes Heiligtum gegen das Zeltheiligtum von P gesetzt wird, alternative Entsühnungsrituale propagiert und Zadokiden statt Aaroniden als Priester favorisiert werden.

Die Themen um Tempel, ,Fürst' und Land dienen jeweils als Kristallisationspunkte: Eine Sakralschicht (40,6-16*.18-27*.28ab-37*.47a*; 41,5-15a*.26; 42,1-12.13*.20*) macht aus dem unscheinbaren Tempel ein wehrhaftes Heiligtum (mit Nachträgen in 41,20b*.21a.23-25; 40,38-43; 40,44-46a; 41,21b.22 und 44,17-31*; 42,13a*.14). Des Weiteren werden transpriesterliche Herrschaftsansprüche nivelliert (43,7b-9) und kultische Ansprüche des ,Fürsten' depotenziert (46,1-3.8-11). Gegen religionspolitisches Machtstreben von Leviten und anderen Priestergruppen sind im besonderen Maße ein zadokidisches Grundsatzprogramm in 44,6-16 sowie Landabgabetexte in 45,1-8a* und 48,8ab-23a* (jeweils gewachsene Texte) gerichtet. Als letzte geschlossene priesterliche Bearbeitung isoliert der Vf. eine sühnetheologische Schicht (43,13-17.18-24*; 45,15b.16.17b.18-20a; 46,19-24), die sich ringartig um die Gesetzessammlung von 44,6-46,18 legt und das sühnefunktionale Kulthandeln der Priester herausstellt.

Ein letzter analytischer Abschnitt (332-342) diskutiert schon im Verlauf der Untersuchung segmentierte, sich bis ins 3. Jh. v.Chr. hinziehende Texteingriffe, die redaktionelle Überleitungen schaffen (43,10-12 und 44,1-3*.4 f.*) und buchumfassend visionäre Texte gestalten, indem sie kultkritisch Jahwe von seinem Heiligtum trennen (43,4.5b und 43,1 f.*) bzw. ihn durch einen ,Mann' als visionären Führer ersetzen und so stärker transzendentalisieren (40,3[f.*]; 42,15-20*; 43,6b; 47,3-7* u. a.).

Die Untersuchung schließt mit einem ausführlichen Abschnitt (343-368), der noch einmal den Weg der Arbeit in geraffter Form nachgeht und zusammenfassend das Textwachstum und seine Implikationen von der spätexilischen bis zur frühhellenistischen Zeit, also von der zweiten Hälfte des 6. Jh.s v. Chr. bis zum frühen 3. Jh. v. Chr., pointiert beschreibt. Als Anhang sind der Untersuchung eine Übersetzung der sog. golaorientierten und diasporaorientierten Schicht beigegeben (369-372), Kapitel- und Verszuweisungen zu den einzelnen Schichten, Bearbeitungen und Nachträge (373 f.) sowie eine Skizze der Tempelanlage (412). Am Ende stehen ein Literaturverzeichnis (375-400) und ein Stellenregister in Auswahl (401-411).

Die Arbeit ist trotz ihrer Argumentationsdichte und trotz der komplexen Diskussion über vielfältige Textsegmentierungen ausgesprochen gut lesbar. Das liegt nicht zuletzt an der Fähigkeit des Vf.s, durch Rück- und Vorverweise, Wiederaufnahmen, Überleitungen und Zusammenfassungen jeweils Erträge zu gewinnen, zu speichern, weiterzuführen und abschließend zu sichern. Nur wenige Schreib- und Interpunktionsfehler haben sich in den Text eingeschlichen. - Die Ergebnisse wirken im Zusammenhang durchaus schlüssig. Methodisch bleiben aber Fragen.

Dass nicht mehr ein ,authentischer' Ezechiel gesucht wird, ist angesichts neuer Forschungen sehr plausibel, aber warum gibt es nun eine Suche nach Redaktionen (z. B. 200.204.228 u.ö.)? Man fragt sich, ob die redaktionskritische Fragestellung, die der Vf. favorisiert, nicht stärker als notwendiges Pendant zu literarkritischer Arbeit zu sehen ist, sie also voraussetzt, oder ob sie auch ein eigenständiger Zugang zu den Texten sein kann. In der vorliegenden Untersuchung wird zweifellos auch literarkritisch argumentiert, freilich oft durch ästhetische Urteile, die stilistische Merkmale als sekundär klassifizieren, weil sie ,schwerfällig' (93.208 u. ö.), ,weitschweifig' (206), ,überladen' (207.264.274 u. ö.) und ,nachklappend' (94.256) wirken. Bei der Fülle des Materials würde eine punktuelle Auseinandersetzung mit einzelnen Ergebnissen der gesamten Arbeit nicht gerecht und soll hier deshalb unterbleiben. Eine Golaorientierung, die von einigen auch für das Jeremiabuch angenommen wird, ist jedenfalls eine plausible Arbeitshypothese, auch wenn sich der Vf. eingestehen muss, dass terminologisch Nachweise kaum möglich sind (77, vgl. die Kriterien 190). Gern wüsste man, wie der Vf. sich die Existenz von mündlichen und schriftlichen Vorlagen der golaorientierten Redaktion denkt (77) und was die Annahme bedeutet, dass die Trägerkreise der diasporaorientierten Redaktion sich "aus weltweiter Diaspora heimgekehrte Israeliten" (239) zusammensetzen. Der Anspruch des Vf.s, die redaktionskritischen Ergebnisse sozial- und theologiegeschichtlich zu verorten, ist sehr zu begrüßen, allerdings wird im Wesentlichen die Situation aus der Redaktionsgeschichte (re)konstruiert, auf den Versuch einer ergänzenden methodischen Umkehrung aber verzichtet. Wünschenswert wäre eine abschließende Stellungnahme zu dem traditionellen Begriff Verfassungsentwurf bzw. zu den ,verweigerten' Anführungszeichen für diesen Terminus (vgl. 1, Anm. 2).