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Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1209–1212

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Hünermann, Peter, unter Mitarb. von J. H. Tück [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das II. Vatikanum. Christlicher Glaube im Horizont globaler Modernisierung. Einleitungsfragen.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1998. 271 S. gr.8 = Programm und Wirkungsgeschichte des II. Vatikanums, 1. Kart. DM 78,-. ISBN 3-506-73761-9.

Rezensent:

Otto Hermann Pesch

Das Buch ist der 1. Band eines auf mehrere Bände angelegten interdisziplinären Forschungsprojektes zur Programmatik und Wirkungsgeschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils. Dieses erscheint damit fast parallel zu der von einem internationalen Forschergremium erarbeiteten "Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils" (vgl. ThLZ 124, 1999, 114-119). Soziologen, Historiker, Politologen, Philosophen und Theologen haben sich zu dem Projekt zusammengetan.

Der erste Teil (15-134) unternimmt begriffliche Klärungen zu den Stichworten "Globalisierung", "Modernisierung", "Konzil als Ereignis von Weltkirche", "Konzilsentscheidung" und untersucht die hermeneutischen Konsequenzen für die Interpretation der Konzilstexte.

Mit der gewohnten Souveränität reflektiert der Bielefelder Soziologe Franz-Xaver Kaufmann die Beziehung zwischen Globalisierung und Christentum (15-30): Einerseits ist das westliche Christentum in Gestalt der katholischen Kirche der älteste "Global Player" (21) und Motor der europäischen Kultur bzw. Zivilisation, anderseits ist diese heute ohne Christentum erfolgreich im nicht-christlichen Raum und zwingt das Christentum, seine partikulare abendländische Plausibilität zu durchschauen und zu überwinden in Richtung eines dialektischen Verhältnisses zwischen Partikularität und Universalität. Der italienische Fundamentaltheologe Giuseppe Ruggieri (Catania) ergänzt (31-34), ausgehend von Karl Rahners Interpretation des Zweiten Vatikanums als dritter Epoche der Kirchengeschichte, und insistiert auf der Vielfalt der Legitimationskontexte, in denen die lebendige Tradition sich vermittelt. Darin erscheint das Konzil als Ereignis, das der Kirche die Aufgabe stellt, in der primär ökonomisch-technisch bestimmten Globalisierung die Universalität der Botschaft in partikularer Gestalt zu gewährleisten, ohne nur funktional die Sinndefizite der Gesellschaft/des Staates zu bedienen.

Der Soziologe Karl Gabriel (Münster) beschreibt die Konzilsinterpretation als interdisziplinäre Aufgabe (35-47), bedingt durch die in der Konziliengeschichte einzigartige Tatsache, dass das Konzil sich schwerpunktmäßig mit der Situation des Menschen in der modernen Welt als Ort des Glaubens befasste, und benennt die Fragestellungen und die Konsequenzen für eine interdisziplinäre Arbeit. Ihm antwortet der evangelische Historiker und Theologe Friedrich Wilhelm Graf (München) in einer nachträglich redigierten Intervention mit der kritischen Gegenfrage, ob denn das Konzil sich wirklich auf die Lebenswirklichkeit der modernen Welt eingelassen und sich in diesem Sinne "modernisiert" habe oder ob bei solcher Wahrnehmung des Konzils nicht eine überhöhte Selbststilisierung im Spiel sei (49-66).

Der Herausgeber Peter Hünermann (Tübingen) steuert zwei Beiträge bei. Deren erster (67-82) bestimmt, in kritischer Fortführung der Positionen von Yves Congar, Hans Küng, Karl Rahner und Joseph Ratzinger, das Konzil kategorial als "Such- und Erarbeitungsprozeß" einer sprachlich vermittelten neuen Glaubensgestalt durch die Versammlung der mit der Verkündigung des Evangeliums amtlich Beauftragten im Hinblick auf eine krisenhafte Situation der bisherigen Glaubensgestalt. "Konzilsentscheidungen" sind darum Weisungen, die Verbindlichkeit beanspruchen und doch auf Bewährung durch die Rezeption in der Glaubensgemeinschaft angewiesen sind, Kritik, neue Fragen und Fortschreibung eingeschlossen. - In einem weiteren Beitrag (107-125) plädiert Hünermann dafür, hermeneutische Kriterien der Konzilsinterpretation nicht (nur) dogmatisch, sondern aus der Pragmatik des Konzils (Einberufung, Aufgabenstellung, Echo bei Amtsträgern und Öffentlichkeit u. ä.) zu gewinnen, und interpretiert von daher mit erhellenden Ergebnissen die Verfahrensweise des Konzils im Rahmen einer gegenüber der Neuscholastik erneuerten und radikalisierten "dialektischen Topik", die die kontroversen Vorstöße auf geschichtlich verortete "Allgemeinplätze" (topoi) zurückführt und in diesem Rahmen konsensfähige Lösungen erarbeitet.

Dieser Beitrag folgt einem Beitrag des katholischen Dogmatikers Helmut Hoping (Freiburg) zum Zusammenhang zwischen dem weisheitlichen Charakter christlicher Lehre, der "pastoralen" Zielsetzung des Konzils und den Zukunftsaufgeben der Weltkirche unter den kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen der Moderne (83-99) sowie der Antwort des chilenischen Theologen Juan Noemi Callejas, der die "ebenso klar[e] wie konfliktreich[e]" Konkretisierung der von Johannes XXIII. vorausgeahnten kulturellen Globalisierung in der lateinamerikanischen Theologie nach dem Konzil beschreibt.

Den ersten Teil beschließt der Kölner katholische Theologe Hans-Joachim Höhn mit kurzen Überlegungen zur konziliaren Hermeneutik im Zeichen von Inkulturation und Krise (127-134): das Konzil als Reaktion auf eine Tradierungskrise und als Versuch, Zeichen der Zeit zu verstehen und Leitideen christlicher Zeitgenossenschaft zu entwickeln.

Der zweite Teil (139-263) beschäftigt sich mit den Problemen der Konzilsrezeption in den "kulturellen Großräumen", und zwar ähnlich wie im ersten Teil zumeist in Hauptbeitrag und kritischen Ergänzungen. Die Autoren sind jeweils kompetente "Insider". So geht es um das Konzil in Europa (Giuseppe Alberigo, Hubert Wolf, 139-164), Lateinamerika (José Oscar Beozzo, Mariano Degado, 165-209), Nordamerika (Joseph A. Komonchak, Michael Zöller, 211-235), Afrika (Achille Motombo-Mwana, Meinrad Hebga, 237-254) und Asien (Johannes Müller, 255-264). Alberigo, Beozzo und Komonchak gehören auch zum Team der erwähnten "Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils".

Um freimütig zu sein: Der zweite Teil ist, weil "konkret", eine wahre Erholung nach der Lektüre der streckenweise hochabstrakten und erdfernen Reflexion der Beiträge des ersten Teils. Aber vielleicht muss das bei "Einleitungsfragen" so sein!? Dem korrespondiert ein eigenartiger Tatbestand: Die Minderheit der Autoren haben das Konzil als erwachsene Theologen erlebt (Alberigo, Hebga, Hünermann, Kaufmann). Alle anderen waren zur Konzilszeit bestenfalls Studenten, wenn nicht Schüler oder gerade geboren. Ich habe etwas die Sorge: Wenn man ihrer Altersgruppe das Konzil als eine solch komplexe und schwierige Interpretationsaufgabe vorstellt, dass demgegenüber die Interpretation der Lehrentscheidungen des Tridentinums oder des Ersten Vatikanums als Proseminararbeit erscheinen könnte- wie will man ihnen den bleibenden Impuls des Zweiten Vatikanums und den Mut zu seiner Umsetzung vermitteln? Wieviel "Modernitätstheorien", sprachphilosophische Reflexionen und hermeneutische Ansätze muß ich ausarbeiten oder wieder verabschieden, um zu begreifen, was doch unter dem Strich ganz einfach ist (und was ausgerechnet der evangelische Diskussionsteilnehmer zu ahnen scheint, 49): Die einen sagten "Tradition" und meinten die nachtridentinische Neuscholastik, die anderen sagten "Aufbruch" und meinten nicht den Schatten eines Traditionsbruchs, wohl aber Rückkehr zur altkirchlichen Communio-Ekklesiologie als Schritt in und Chance für die Zukunft - und beide fanden sich in Konsensformeln, auch Kompromissformeln und ausbalancierten Beschlüssen, die offen sind für neue Entwicklungen, freilich auch für Rückschläge. Insofern ist das Konzil das Ereignis eines Übergangs (wie Alberigo und Hünermann meiner eigenen Beurteilung mit Recht, wenn auch ein wenig einseitig attestieren: 109). Aber wann wäre ein Konzil, das immer nur Gremienbeschlüsse und damit Vermittlung zwischen gegensätzlichen Bestrebungen hervorbringen kann, je anders gewesen?

Nun könnte man an die einzelnen Beiträge Rückfragen zuhauf stellen - und das entspricht dem Forum-Charakter des Projektes. Zum Beispiel (an Hünermann): Wieweit kommt er wirklich über eine sprachphilosophisch munitionierte (und als solche überzeugende) Synthese der von ihm kritisierten Vorgänger hinaus? Und wenn denn doch das Konzil die Versammlung der amtlich mit der Verkündigung Beauftragten ist, was war dann mit den bisherigen (altkirchlichen und mittelalterlichen) Konzilien, an denen nicht nur Bischöfe beteiligt waren, und was ist mit einem "Such- und Erarbeitungsprozeß", bei dem der Dialogpartner, die Repräsentanz der "Welt", amtlich nicht zugelassen ist (wie bei der Erarbeitung der Pastoralkonstitution)? Kann, wenn es auch bei diesem Konzil um die Wahrheit des christlichen Glaubens geht, eine dogmatische Kriteriologie, wie sie Walter Kasper bescheinigt wird (109 f.), in Gegensatz gebracht werden zu einer "pragmatischen" Kriteriologie im Rahmen einer "dialektischen Topik", die als formale Erschließung der Verfahrensweise noch gar nichts Durchschlagendes gegen die "integralistische", das Konzil rundweg als "Irrtum" beurteilende Interpretation ausrichtet? Fragen, die entsprechend variiert auch an die soziologischen Beiträge zu richten wären. - Oder (an Graf): Auf Grund welcher Pflicht soll die katholische Kirche den Grad ihrer "Modernisierung" bemessen am Maßstab der offen eingestandenen "kulturwissenschaftlichen Sympathien" des "protestantischen Kantianismus" (50) und des "aus kirchlicher Vormundschaft entlassenen religiösen Subjektes" (52)? Oder: Dem brillant formulierten Beitrag von Hans-Joachim Höhn möchte man fast Satz für Satz spontan Beifall klatschen - aber hat er sich in seinem Protest gegen den permanenten "Blick in den Rückspiegel" (134) einmal nachdenklich machen lassen durch den Anblick nur mäßig gefüllter Kirchen mit gut gestalteter nachkonziliarer Liturgie und den prall vollen Kirchen mit der "alten Messe" und überhaupt mit "altmodischem" paraliturgischem Brauchtum? Wie "modern" will der nachkonziliare Katholik auch in der Kirche sein, wenn ihn die außerkirchliche Welt schon über Menschenmaß dazu zwingt?

Genug vom Geschäft des "Advocatus Diaboli"! Das Buch bietet eine Fülle hochinteressanter Informationen und Perspektiven, die es gestatten, die Aktivitäten derer zu durchschauen, die es nicht auf die Suche nach einer neuen innovativen Glaubensantwort anlegen, sondern auf die "Ghettoisierung" (Alberigo) des Konzils auf seine Texte und der Texte auf die bloße Bestätigung und Bekräftigung der bisherigen "Glaubensantwort".

Inzwischen liegen übrigens bereits 3 Folgebände vor: Hubert Wolf [Hrsg.], Antimodernismus und Modernismus in der Katholischen Kirche. Beiträge zum theologiegeschichtlichen Vorfeld des II. Vatikanums, 1998; ders. [Hrsg.], Die katholisch-theologischen Disziplinen in Deutschland 1870-1962. Ihre Geschichte, ihr Zeitbezug, 1999; ders./Claus Arbold [Hrsg.], Die deutschsprachigen Länder und das II. Vatikanum, 2000.