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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

1033–1035

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Silfredo Bernardo

Titel/Untertitel:

Die Zweireichelehre Martin Luthers im Dialog mit der Befreiungstheologie Leonardo Boffs. Ein ökumenischer Beitrag zum Verhältnis von christlichem Glauben und gesellschaftlicher Verantwortung.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien : Lang 1996. 341 S. 8 = Europäische Hochschulschriften. Reihe XXIII: Theologie, 586. Kart. DM 89,-. ISBN 3-631-30908-2.

Rezensent:

Martin Seils

Seit längerer Zeit empfindet die brasilianische lutherische Theologie die südamerikanische katholische Befreiungstheologie als Herausforderung und bemüht sich, ihr eine lutherische Befreiungstheologie an die Seite zu setzen. Es geht ihr dabei zugleich auch um die südamerikanische Inkulturation des Luthertums. Diesen Bemühungen scheinen eine gewisse Sperrigkeit der sogenannten Zweireichelehre Luthers für befreiungstheologische Gedankengänge und eine weitgehend negative Bewertung dieser Lehre durch die katholische Befreiungstheologie entgegenzustehen. Ein junger brasilianischer lutherischer Pfarrer und Theologe hat während eines Studienaufenthaltes in Marburg eine Dissertation geschrieben, durch die er versucht, mittels eines Vergleichs der Zweireichelehre Luthers und der Befreiungstheologie Leonardo Boffs den Desideraten und Mißverständnissen zwischen Zweireichelehre und Befreiungstheologie abzuhelfen.

Luthers Zweireichelehre wird dabei zunächst - ohne unmittelbares eigenes Quellenstudium - in der Auffassung Ulrichs Duchrows vorgestellt. Duchrows Vorwürfe gegen die "dualistische" Interpretation der Zweireichelehre durch das Luthertum des 19. und 20. Jh.s werden wiederholt. Die Luthersche Zweireichelehre wird in der Duchrowschen Version einer "Dreireichelehre" wiedergegeben, nach der die Zweireichelehre eigentlich eine Lehre von der Durchsetzung des regnum Dei gegen das regnum diaboli mit Hilfe der parallel agierenden "Regimente" Gottes, des geistlichen und des weltlichen, innerhalb der "institutionellen" Hierarchien von geistlichem Ministerium, häuslicher Ökonomie und öffentlicher Politie darstellt, weshalb Christ und Nichtchrist hier letztlich gemeinsam in personalen und institutionellen Bezügen mit dem regnum Dei kooperierende Werke der Liebe vollbringen bzw. zu vollbringen haben.

Ein mehr eigenständiger, hier auch um Belege aus den Quellen bemühter Abschnitt der Arbeit gilt danach gewissen "Ergänzungen" zu Duchrows Darstellung, die einerseits etwas Kritik an Duchrow üben und andererseits eine Entgegnung gegenüber befreiungstheologischen Einwürfen gegen Luther vorbereiten wollen. Die Herrschaft Gottes umschließe indirekt und insoweit nicht-dualistisch auch das satanische Wirken. Luthers Unterscheidung von "innerlich" und "äußerlich" sei nicht gegenseitig exkludierend zu verstehen, weshalb die von der Befreiungstheologie vermutete Abwertung des Leiblichen bei Luther nicht vorliege. "Geistliches Recht" der Christenheit und weltliches Recht müßten stärker als bei Duchrow differenziert und profiliert werden; das im weltlichen Regiment mit Macht verbundene Recht habe eine Schutzfunktion für die Bürger, es sei aber nicht - wie in der Befreiungstheologie - durch ein alternatives Ordnungssystem auf der Basis der Solidarität zu ersetzen. Luther habe keine Änderung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse für möglich gehalten, doch habe er den Dienstcharakter des weltlichen Regimentes betont und die Armut durch Arbeit und Nächstenliebe überwinden wollen. "In Blick auf die Intention der Befreiungstheologie" sei "die Zweireichelehre Luthers positiv zu bewerten" (187).

Boff wird zum Vergleich mit Luthers Zweireichelehre gewählt, weil er die Befreiungstheologie umfassend und mit theologischem Primat entfaltet habe. Die Darstellung geschieht durchgehend aus den portugiesisch geschriebenen Originaltexten. Sie ist flüssig, kenntnisreich und informativ. Es werden Boffs durch de Chardin bestimmtes universales und Dualismen nicht zulassendes Wirklichkeitsverständnis, seine von Rahner her gewonnene ausgreifende Christologie und seine von Moltmann beeinflußte soziale Trinitätsauffassung hervorgehoben, wobei Ähnlichkeiten zum Reformatorischen im Glaubensverständnis und in einer gewissen gedanklichen Parallelität mit dem "simul iustus, simul peccator" bestehen sollen. Besprochen werden außerdem Boffs Bezüge von Gemeinde und Volkskultur, seine Armutstheologie, sein Verhältnis zur sozialen Utopie und zum Sozialismus sowie der katholisch-konfessionelle Charakter seiner Theologie. Kritisch vermerkt wird insbesondere, daß Boff die Gnade weniger als Sündenvergebung auffaßt und stattdessen die Liebe Gottes unmittelbar als Modell für die Ausübung menschlicher Liebe betrachtet. Hervorgehoben wird insgesamt Boffs aus christologischem und trinitätstheologischem Analogiedenken gewonnenes Drängen auf abbildhafte Parallelgestaltung von Kirche und Gesellschaft.

Der Vergleich zwischen Luthers Zweireichelehre in der Duchrowschen Fassung mit den Dalferthschen Ergänzungen stellt zwar heraus, daß es bei Boff keine Zweireichelehre geben kann, findet außerdem aber vielfältige Parallelen und Ähnlichkeiten im theologischen Ansatz beim Glauben, in der Bestimmung der Gesellschaft als Ort christlicher Liebesausübung, im Drängen auf Gerechtigkeit in der Gesellschaft, im Verständnis der Menschen als "Kon-Subjekte Gottes in der Geschichte" (303) und in einem Ethos der Armutsüberwindung. Stärkere Differenzen werden hinsichtlich der Bewertung der strukturellen weltlichen Ordnung, die bei Luther eher als "unveränderlich und unverbesserlich" (297), bei Boff jedoch eher negativ im Sinne eines Widerstand hervorrufenden Establishment betrachtet wird, und hinsichtlich der gesellschaftlichen Utopie gesehen, weil Boff im Unterschied zu Luther zwischen Utopie und Eschatologie nicht unterscheidet.

Ausgehend von der Fazitbemerkung, daß beide theologischen Ansätze in ihrem jeweiligen Kontext ernsthaft versuchten, die Beziehung der Menschen zum Nächsten von ihrer Beziehung zu Gott abzuleiten, reformatorisch betrachtet jedoch eigene Akzente bezüglich der Frage nach der Gerechtigkeit gesetzt werden müßten, bemüht sich D. abschließend um "einige Perspektiven für eine Befreiungstheologie lutherischen Bekenntnisses" (308). Sie hätte "einerseits die Wirklichkeit in ihren komplexen Zusammenhängen hinsichtlich ihrer Kreatürlichkeit und ihrer sündigen Strukturen zu erfassen, andererseits aber auch klare Entscheidungen gegen die Sünde in ihren historischen Erscheinungen zu fällen" (321). Deshalb sei dazu beizutragen, daß Christen "auch innerhalb des weltlichen Regiments Gottes gegen die Sünde und deren katastrophale Folge für die Menschen und die ganze Schöpfung" angehen (ebd.).

Die Arbeit D.s stellt einen instruktiven und bedachtsamen Beitrag zu ihrem Thema dar. Wer weiß, wie wichtig derartige Überlegungen für die südamerikanische lutherische Theologie offenbar sind, wird ungewohnte Formulierungen und Gedankengänge, auch eine gewisse Neigung zu einer Darstellung mit "gegenseitige(r) Rücksichtnahme" (290) und zu manchmal etwas gewalttätig anmutenden Harmonisierungen zunächst zu ertragen suchen. Trotzdem muß gesagt werden, daß es in einer solchen Arbeit, gerade wenn sie ihren Zweck erfüllen soll, eigentlich nicht angeht, Luthers sog. Zweireichelehre in einer auch noch umstrittenen, in wesentlichen Punkten fehlgehenden Sekundärfassung in einen Vergleich mit einer aus den Originalquellen dargestellten Theologie der Befreiung zu bringen. Der Schade ist erheblich, aber dann doch auch wieder nicht so groß, wie es zunächst scheint, weil die eigenen "Ergänzungen" D.s seine Lutherquelle in etwa korrigieren helfen. Es bleibt ein etwas ambivalentes Gefühl und der Wunsch, es möchten - wenn schon - Luthers Gedanken original und zunächst unverstellt durch eine Gegenwartshermeneutik in einen Vergleich eingebracht und von da aus - wenn und wo möglich - für die südamerikanische Lage sprechend gemacht werden.