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Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1206–1208

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Karle, Isolde

Titel/Untertitel:

Der Pfarrberuf als Profession. Eine Berufstheorie im Kontext der modernen Gesellschaft.

Verlag:

Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2001. 352 S. = PThK, 3. Kart. DM 58,-. ISBN 3-579-03483-9.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Mit ihrer Bonner Habilitationsschrift beweist die Vfn., dass die Pastoraltheologie ein wissenschaftlicher und theoretisch zu begründender Teil der Praktischen Theologie ist wie deren andere Subdisziplinen. Der Theorierahmen dieser Pastoraltheologie basiert vor allem soziologisch auf der Systemtheorie von Niklas Luhmann, der Professionstheorie von Rudolf Stichweh und der Interaktionstheorie von Erving Goffman, sowie theologisch auf dem Gemeinde- und Amtsverständnis Martin Luthers und Friedrich Schleiermachers. Wie in ihrer Arbeit zur "Seelsorge in der Moderne" (1996) etabliert die Vfn. die Soziologie statt der Psychologie als Bezugswissenschaft. Nicht mehr vom Subjekt des Pfarrers oder der Pfarrerin her wird die Pastoraltheologie entworfen, sondern von der sozialen Situation des Pfarrberufs im sozialen Kontext aus. Damit ergibt sich eine entschiedene Alternative zur Darstellung eigener Subjektivität und ständiger Selbstreflexion, in denen die Vfn. die Gefahr der Überforderung und "einer Pfarrherrlichkeit modernen Stils" (14) erblickt.

Im 1. Teil erläutert die Vfn. auf Grund von Stichwehs Professionstheorie den Zusammenhang zwischen Professionalisierung und funktionaler Differenzierung. Unter Professionen werden akademische Berufe verstanden, die sich "auf zentrale menschliche Fragen und Probleme wie Krankheit, Schuld und Seelenheil" beziehen (31), konkret die medizinische, juristische, theologische und pädagogische Profession. Sie sind "zentral durch die Vermittlung einer kulturell relevanten Sachthematik bestimmt" (41), die in Interaktionssystemen wirksam wird. Konstitutiv ist die dreistellige Relation zwischen den Professionellen, den Professionslaien und der kulturell relevanten Sachthematik. Für die Inklusion der Mitglieder in das Religionssystem Kirche nimmt der Pfarrberuf eine Schlüsselstellung ein, die aber weder das Allgemeine Priestertum aufhebt noch eine zwangsläufige Kopplung dieser Inklusion an professionelle Betreuung bedeutet.

Das Wesen und die Bedeutung von Interaktion als "Kommunikation unter Anwesenden" wird im 2. Teil erörtert. "Professionsethische Verhaltenszumutungen", ein wichtiger Teil der klassischen Pastoraltheologie, finden hier ihren Platz. Private Pflichten und Interessen lassen sich im Gegensatz zu manchen heutigen Bestrebungen nicht strikt von professionellen Interaktionen trennen. Ein zentrales Leitmotiv, das sich durch das Buch zieht, ist das für den Pfarrberuf notwendige Vertrauen zwischen den Interaktionspartnern. Unter Bezug auf Paulus, die Reformatoren und Schleiermacher wird das perspektivenreiche Verhältnis von Glauben und Leben und die Bedeutung des Taktes für die Kommunikation des Evangeliums reflektiert. Die berufsethische Orientierung dient "dazu, das Vertrauen der Gemeinde zu gewinnen und zu erhalten, um auf der Basis wechselseitig stabilisierter Verhaltenserwartungen konstruktiv handeln zu können" (131). Damit wird die dominante Subjektivität abgewehrt und die soziale Bedeutung des Amtes gewürdigt.

Mit der positiven Wertung des Amtes als Profession ergibt sich die im 3. Teil aufgenommene Frage nach dem Verhältnis von Professionalität und Allgemeinem Priestertum. Die Vfn. wendet sich gegen die permanente Selbstinfragestellung evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer und gegen eine prinzipielle Abwehr von Rollenasymmetrien. "Das Pfarramt ist die professionelle Konkretion des einen Predigtamtes und des einen Priestertums, das alle Christen miteinander teilen" (147f). Das funktional verstandene Amt dient der Erwartungssicherheit, Kontinuität und Sachgerechtheit des Verkündigungsdienstes. Es wäre gerade nicht professionell, würden Amt und Gemeinde als Konkurrenz verstanden.

Im Mittelpunkt des pastoralen Dienstes steht das Wort Gottes und damit die im 4. Teil gewürdigte Sachthematik. Freiheit und Bindung pastoraler Berufstätigkeit sind "durch die evangelische Sachthematik, durch Schrift und Bekenntnis, bestimmt" (174). Im Anschluss an Schleiermacher wird dezidiert der Zusammenhang der professionellen Sache mit der Kirche erklärt. Dass Theologie eine "Funktion der Kirche" sein muss, wird auch unter Berufung auf Luhmann betont. Für das Verständnis theologischer Kompetenz wird Schleiermachers Gedanke der "lebendigen Zirkulation" fruchtbar: Es genügt nicht die persönliche dogmatisch geprägte Identität, sondern es handelt sich um einen Prozess, zu dem die Kunst der Vermittlung gehört. Professionelle Praxis ist durch eine Überkomplexität gekennzeichnet, aus der ein Technologiedefizit und Ungewissheiten in konkreten Situationen folgen. Daraus kann sich das Gefühl des Überfordertseins ergeben, das nicht durch noch mehr Ausbildung vermeidbar ist, sondern als Professionsspezifik ertragen werden muss, ohne die Gemeinde damit zu belasten. Die Vermittlung evangelischer Sachthematik unter den Bedingungen der Moderne stellt vor die praktisch-hermeneutische Aufgabe der Distanzüberbrückung, die ihren zentralen Ort im Gottesdienst hat.

Im 5. Teil wendet die Vfn. sich einzelnen "Implikationen" der Struktur professionellen Handelns zu. Sie versteht die Rolle des Pfarrers bzw. der Pfarrerin als "Generalistenrolle", die durch direkten Kontakt und Kontinuität Vertrauen schafft und Verlässlichkeit garantiert. Die Kernrolle ist die des Gemeindepfarramtes in der Ortsgemeinde. Unter Bezug auf die systemtheoretische Gesellschaftsanalyse wird der Eigenwert der Religion und zugleich die Verflechtung der Ortsgemeinde mit der Gesellschaft betont. Der Dienst am Wort Gottes begründet die Unabhängigkeit des Pfarramts. Rechtlich und ökonomisch gehört zum Pfarrberuf ein "package-deal" zwischen Pfarrern bzw. Pfarrerinnen und Kirchenleitungen, eine gegenseitige Erwartungssicherheit, die die Vfn. durch gegenwärtige Sparmaßnahmen gefährdet sieht. Die Frage, ob die Pfarrerin anders ist als der Pfarrer, wird unter Hinweis darauf, dass die Konstruktion einer Differenz kontraproduktiv wirkt, negativ beantwortet.

Abschließend wird das Verhältnis von Person, Amt und Gemeinde in der Auseinandersetzung mit gegenwärtigen pastoraltheologischen Konzepten wieder aufgenommen und dialektisch bestimmt: Einerseits sind Amt und Person vielfältig aufeinander bezogen, andererseits aber zu unterscheiden, denn ein subjektivistisches Amtsverständnis wird der professionellen Aufgabe, Gottes Wort weiterzugeben und Gemeinde zu bauen, nicht gerecht. Extrem zeigt sich der subjektivistische Irrweg an dem Beispiel eines Pfarrers, der an ein Sterbebett mit der Bitte um ein Gebet gerufen wurde und dies mit der "authentischen" Antwort ablehnte, "daß Beten nicht zu seinem privaten Frömmigkeitsstil gehöre" (323).

Das Buch bereichert die pastoraltheologische Forschung nicht zuletzt durch die klaren, scharfsinnig vorgetragenen und begründeten Einsprüche gegen andere Konzepte. Die Verbindung soziologischer und theologischer Einsichten ist vorbildlich, und das Buch ist bei aller Gelehrsamkeit gut lesbar geschrieben. Luhmann und Schleiermacher werden bei einigen systematischen und praktischen Theologen anders gedeutet, aber es dürfte schwer fallen, das stringente Konzept der Vfn. zu entkräften. Problematisch ist, dass der Kritik an einigen durch ökonomische Zwänge ausgelösten Maßnahmen (Stellenteilungen, Gehaltseinbußen) keine alternativen Lösungsvorschläge entgegengesetzt werden. Aus der Sicht der Kirche in den neuen Bundesländern fällt es schwer, den Vergleich von Pfarrer- und Richtergehältern als pastoraltheologisches Argument zu akzeptieren. Wenn der professionstheoretische Ansatz solche Konsequenzen hat, wirkt er für das Ehrenamt kontraproduktiv. Komplikationen bereitet der professionstheoretische Ansatz in der auf die klassischen Fakultäten begrenzten Form auch hinsichtlich der Zuordnung der übrigen hauptamtlichen kirchlichen Dienste zum ordinierten Amt. Trotz dieser Einwände ist die Fruchtbarkeit des system- und professionstheoretischen Rahmens für die Pastoraltheologie offenkundig. Angesichts subjektivistischer Auswüchse und pseudoprotestantischer Kirchendistanz hebt die Vfn. die Pastoraltheologie auf ein Niveau, das nicht mehr unterschritten werden sollte.