Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1200–1202

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Winger, Wolfram

Titel/Untertitel:

Personalität durch Humanität. Das ethikgeschichtliche Profil christlicher Handlungslehre bei Lactanz. Denkhorizont - Textübersetzung - Interpretation - Wirkungsgeschichte. 2 Teile.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1999. 748 S. 4 = Forum Interdisziplinäre Ethik, 22. Kart. DM 198,-. ISBN 3-631-33602-0.

Rezensent:

Holger Strutwolf

Lactanz teilt das Schicksal anderer frühchristlicher Kirchenschriftsteller, die sich auf das Programm einer "apologetischen", d. h. den Anforderungen und Anfragen ihrer nichtchristlichen Zeitgenossen antwortenden und im Gespräch mit solchen Herausforderungen die eigene Theologie positiv entfaltenden Theologie eingelassen haben: Seine theologische Eigenständigkeit, ja überhaupt seine systematisch-theologische Kompetenz wird oft als gering eingeschätzt. Wie sein Zeitgenosse Euseb von Caesarea gilt auch er primär "als gelehrter Literat, als Fundgrube und Schatzschatulle für Detailwissen über die Antike und das frühe Christentum", aber "weniger als eigenständiger Denker, kreativer Theologe und stringenter Systematiker" (15). Intention der hier zu besprechenden Studie zur Ethik des Lactanz ist es daher, diesen als "ersten systematischen christlichen Ethiker" vorzustellen, dessen Rezeption antiker ethisch-philosophischer und rhetorischer Traditionen Ausdruck einer durchaus auf der Höhe ihrer Zeit reflektierenden "theologischen Vernunft" ist. Diese verfolgte im historischen Kontext der sich abzeichnenden Wende von der heidnischen zur christlichen Antike das Ziel, einmal "christliches Ethos in wissenschaftlich aussagbare christliche Ethik umzumünzen", sie "von daher auf konkrete Handlungsfelder umzulegen, die in der Bibel nicht beschrieben waren" und sie schließlich "auf Strukturfragen hin zu öffnen und damit politikfähig zu machen" (19).

Die Methode dieser Arbeit ist zunächst historisch-philologisch und dient der ethikhistorischen Aufhellung der Genese einer genuin christlichen, die vorchristlichen Problemstellungen kongenial aufgreifenden christlichen Naturrechtsethik, zielt darüberhinaus aber auch auf die ethisch-systematische Fragestellung nach der Relevanz solcher christlichen Naturrechtsrezeption für die heutigen theologischen und philosophischen ethischen Diskurse.

Diese Aufgabenstellung gibt die stringente und durchsichtige Struktur der Gesamtuntersuchung vor: In Kapitel I wird unter der Überschrift "Denkhorizont: ,Ethik' des Lactanz?" zunächst vorgreifend das "Programm der Verwendung heidnischer Klassiker" bei Lactanz skizziert und in den Kontext der "Zeit", "Person" und des "Gesamtwerks" und der "Wirkungeschichte" des Lactanz eingeordnet. Schließlich werden - sozusagen als Prolegomena der gesamten Untersuchung - die Begriffe "Systematik", "Theologie" und "Ethik" einer hermeneutischen Vorklärung unterzogen, inwieweit nämlich diese Begriffe schon auf das Denken des Lactanz angewendet werden können, um Äquivokationen, die sich bei unkritischer Anwendung dieser spätere Epochen kennzeichnenden Begriffe auf Lactanz einstellen könnten, zu vermeiden. Diese Begriffsklärungen dienen im Wesentlichen der Unterscheidung der Begriffe System, Theologie und Ethik von ihrer wissenschaftstheoretisch entfalteten Gestalt in der Hochscholastik des 13. Jh.s. Nach einer Einführung in den Forschungsstand werden schließlich die "Fragestellungen" der Untersuchung skizziert, die von der "synchronen" Beschreibung der Ethik des Lactanz über die Einzeichnung dieses Entwurfs in den "Duktus antiker Traditionsströme" darauf zielen, einmal das spezifisch christliche Profil der Ethik des Lactanz herauszuarbeiten und dieses zum anderen in Bezug zu den beiden vom Vf. ausgemachten Traditionsströmen antiker Ethik (aristotelische Strebensethik und stoische Sollensethik) darzustellen. Hierbei zielt die Untersuchung darauf, die Konvergenz von klassischem griechisch-römisch geprägtem Denken und christlicher Ethik herauszuarbeiten.

Teil II bietet im parallelen Spaltendruck einen lateinischen Lesetext der als Entwurf einer christlichen wissenschaftlichen Ethik verstandenen Passagen (III, 7-13,6; IV, 22-26.30; V,1-23 und VI, 1-21) der Institutiones mit einer neuen deutschen Übersetzung, denen philologische und textkritische Anmerkungen beigegeben sind.

Lesetext und Übersetzung sind im Allgemeinen recht zuverlässig und brauchbar, nur an einigen wenigen Stellen sind kleinere Nachlässigkeiten der Übersetzung zu kritisieren. Ich nenne nur zwei Beispiele, die mir erwähnenswert erscheinen: In Inst. 5,18,12 ist aus Versehen comprehensa nicht übersetzt: hier müsste also übersetzt werden "die mit drei Fingern (gehaltenen) Weihrauchkörner". In Inst. 6,21,5 sollte assueti enim dulcibus et politis sive oratonibus sive carminibus divinarum litterarum simplicem communemque sermonem pro sordido aspernantur nicht mit "Gewöhnt nämlich an die süßen und geschliffenen Reden oder Lieder göttlicher Schriften, verschmähen sie die schlichte und gemeine Sprache als schmutzig", sondern mit "Gewöhnt nämlich an die süßen und geschliffenen Reden und Lieder verschmähen sie die schlichte und gemeine Sprache der göttlichen Schriften als schmutzig" übersetzt werden.

Teil III bietet dann die Interpretation des ethischen Gesamtentwurfs des Lactanz. Diese wird allerdings nicht in Form eines dem Text im Einzelnen folgenden Kommentars vorgenommen, sondern in Einzeluntersuchungen zu bestimmten sich aus dem Entwurf des Lactanz ergebenen Problemfeldern. Als leitende These dieser Untersuchungen formuliert W., dass Lactanz "seine christliche Ethik" am "klassischen Naturrechtsparadigma" ausrichte, sie also auf "natürlicher, rationaler Einsicht" aufbaue, wobei allerdings ein "christlicher Standpunkt" vorausgesetzt bleibe, so dass seine Ethik eine "Ethik im Medium des Glaubens" darstelle. Dies sei aber nicht als "Abkoppelung von allem Nichtchristlichen", sondern als das "Heranwachsen der neuen Inspiration auf dem gedanklichen Nährboden d2er klassischen Tradition" zu verstehen, also als ein "Inkulturationsprozeß" des christlichen Impulses auf dem Gebiet der Ethik, dessen "neue Wahrheit mittels der gängigen Bilder rational aussagbar" bleibe (257-259). In diesen Kommentaren wird u. a. herausgearbeitet, dass "Lactanz ... nicht grundlos gerade Ciceros ,Staats- und Gesellschaftsphilosophie'" rezipierte (271). W. arbeitet es als eine Stärke der von Lactanz rezipierten Lehre Ciceros heraus, dass dieser über die stoische Naturrechtslehre hinausgegangen sei, weil seine "Naturrechtslehre ... bereits das Resultat mehrerer Hundert Jahre Naturrechtstradition" darstelle (272) und somit das Erbe dieser langen Naturrechtsdebatte antrete. Indem L. sich gerade diese ciceronische Hochform der Naturrechtslehre kritisch aneigne, umfasse auch die Lactanzsche Naturrechtslehre wie die Ciceros "die Funktionen der Explikation, der Mimese und der Kritik" (272).

Die Darstellungen des Kapitels III,2, die - ausgehend von der als ganzer verlorenen, aber u. a. auch aus Lactanz rekonstruierbaren politischen Ethik des Cicero in de republica - die Vorgeschichte der Ciceronisch-Lactanzschen Ethik entfalten, bilden den historisch interessantesten Teil der gesamten Untersuchung. Hier wird eine idealtypische Rekonstruktion der ethischen Denkstrukturen entworfen: Die explikative Gestalt ethischer Reflexion wird mit der platonischen und aristotelischen Philosophie veranschaulicht, die gegen die sophistische Entgegensetzung von physis und thesis auf einer Vermittlung von vernünftigem Naturgesetz und den Institutionen menschlicher Weltordnung beharrt und die positiven Ordnungsgestalten als "notwendige Explikationen des Naturrechts" (328) an-sieht. Die mimetische Funktion erscheint als leitender Gesichtspunkt stoischer Ethik, die im Rahmen des Hellenismus mit der Universalisierung des Naturrechts auf das Problem der Vermittlung von Unbedingtem und Bedingtem reagiert: "Mimetisch meint das affirmative Sich-Einlassen des Menschen auf die ihm eigene Vernunft als Teil der Weltvernunft." (332) Daher sei Vernunftrecht in dem Sinne "Naturrecht", dass "alle Menschen Teil an der Vernunft haben", denen allen Gewissen, Gleichheit und Menschenwürde zugesprochen werden müsse. Die Mimesis richtet sich dabei in der Stoa einmal auf die Weltvernunft, dann aber auch auf die Beispiele der "weisen und vorbildlichen Menschen" und schließlich auf das mos maiorum, woraus sich natürlich in der Stoa die Gefahr von Dogmatisierung des Vorgegebenen und Unbeweglichkeit ergibt. Die letzte Stufe ethischer Reflexion werde schließlich in der skeptischen Anfrage an die voraufgehenden dogmatischen Ethiken erreicht, wie sie im Jahre 156/155 v. Chr. in Rom durch Karneades hörbar wurde. Die hier sich zu Wort meldende Kritik an den letzten Geltungsansprüchen der Vernunft lasse sich als "Selbstkritik der Vernunft" verstehen. Diese "Kritikfähigkeit der Vernunft" werde "zum neuen naturrechtlichen Ausgangsdatum erhoben und damit der explikativen und mimetischen Funktion des Naturrechts eine neue hinzugefügt." Indem Cicero diese drei Positionen in De republica miteinander in Gespräch bringe, vertrete er einen bewussten philosophischen "Eklektizismus", der versuche, explikative, mimetische und kritische Funktion des Ethischen zusammenzudenken. Die von Lactanz bei Cicero aufgegriffene Problemlage naturrechtlichen Argumentierens reflektiere dabei schon eine "postskeptische Fragestellung" (360). Bei Cicero werde daher Naturrecht nicht als gegebenes Recht verstanden, sondern "dieses Naturrecht setze sich nach und nach auf Menschheitsebene durch, in dem sich die Rechtspraxis nach und nach an das Naturrecht angleiche" (362). Über einen Vernunftsprozess der Konsensbildung vollziehe sich "Universalisierung", die notwendige Realisation des Naturrechts (explikativer Aspekt) vollziehe sich dabei über die richtige Vernunft (mimetischer Aspekt) geschichtsimmanent, stehe aber "gleichzeitig in der Spannung des Schon und Noch nicht", worin der kritische Aspekt virulent bleibe (363).

Diese hochentwickelte Naturrechtsposition Ciceros werde nun von Lactanz im Rahmen einer christlichen, primär schöpfungstheologischen Perspektive rezipiert und auf den christlichen Offenbarungsglauben zugespitzt, in der sie nach Meinung des Lactanz erst wirklich zu sich selber komme: Die Ethik müsse auf den einen Gott hin als den transzendentalen Sinnhorizont alles menschlichen Tuns geöffnet werden, damit die ethische Forderung der unbedingten Achtung der Würde aller anderen Menschen "ohne Ansehung der Person" durchgehalten werden könne. Cicero habe zwar theoretisch das Personprinzip erkannt: Es fehlte ihm also nicht "die Erkenntnis der Würde des Mitmenschen, sondern deren ausnahmslose Anerkenntnis" (297). Gegen die ciceronianische Maxime, Hilfe und Schenkungen sollten sich nur an "Geeignete" (idonei) richten, postuliere Lactanz, "jeder Mensch, auch der Kranke, Arme, Behinderte, ist kraft Schöpfung Abbild Gottes ... Gott zunutze und zu Unsterblichkeit bestimmt. Hier melde sich also "das moderne Personprinzip" an, wobei die Wurzel der Unbedingtheit des Personseins religiös und christlich bestimmt sei.

In Teil IV schließlich werden "wirkungsgeschichtliche Perspektiven" der Naturrechtsethik skizziert, um die These zu erhärten, dass die Naturrechtskonzeption des Lactanz "als Vorstufe des ,Personrechts' begriffen" werden kann (564).

Eine umfassende Literaturliste, Anhänge mit Schaubildern, sowie Personen- und Stellenregister schließen die Arbeit ab.

Diese - nicht gerade leicht zu lesende und sprachlich nicht immer ästhetische - Studie stellt einen wichtigen Beitrag nicht nur zur Lactanzforschung, die sie - wie zu hoffen ist - erheblich befruchten wird, sondern auch zur systematisch-ethischen Diskussion der Gegenwart dar, wenn sie denn dort - was jedenfalls zu wünschen wäre - zur Kenntnis genommen wird. Die Mühe der Lektüre dieser Studie, die die Ethik des Lactanz in den weiten Rahmen philosophie- und theologiegeschichtlicher Entwicklungen von der Antike bis zur Gegenwart stellt, lohnt sich und stellt eine wichtige Herausforderung theologischen wie philosophischen Denkens dar. Es gelingt dem Vf. eindrucksvoll, Lactanz als einen eigenständigen und ernst zu nehmenden ethischen Denker mit christlichem Grundimpuls darzustellen, dessen Modell einer ethisch und rational orientierten Theologie im doppelten, aber damit auch positiven Sinne "fragwürdig" bleibt.