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Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1196–1199

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Nothelle-Wildfeuer, Ursula

Titel/Untertitel:

Soziale Gerechtigkeit und Zivilgesellschaft.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1999. 389 S. gr.8 = Abhandlungen zur Sozialethik, 42. Kart. DM 58,-. ISBN 3-506-70242-4.

Rezensent:

Friedrich Heckmann

Soziale Gerechtigkeit und Zivilgesellschaft hat die Vfn. zum Gegenstand ihrer Untersuchungen gemacht, gerade in dieser Zusammensetzung sicher eines der spannendsten Themen der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts und wahrscheinlich auch dieses neuen Jahrzehnts, da das Aufgreifen des zivilgesellschaftlichen Diskurses durch die Tagespolitik nicht zu seiner Förderung und weiteren begrifflichen und inhaltlichen Klärung beigetragen hat. Um so wichtiger ist für die sozialethische Auseinandersetzung ein Buch wie dieses, das die Vfn. 1999 publiziert hat. Es ist ihre geringfügig veränderte Habilitationsschrift, von der Kath.-Theol. Fakultät der Bonner Universität 1997 angenommen.

Die Vfn. geht in ihrer Arbeit davon aus, dass die Rede von der sozialen Gerechtigkeit nur dann sinnvoll ist, wenn sie auf eine sozialethisch-normative Theorie der Zivilgesellschaft zu-rückgreifen kann. Die These, dass die Idee der sozialen Gerechtigkeit das normative Ziel und der Inhalt der Theorie der Zivilgesellschaft sein sollte, sucht die Autorin in drei umfangreichen Teilen zu verifizieren.

Während sie in einem ersten relativ knappen Teil auf den Begriff der "Sozialen Gerechtigkeit" eingeht (27-85), expliziert sie in ihrem zweiten umfangreichen Teil (86-245) die Konzeptionen der Zivilgesellschaft bzw. der Bürgergesellschaft, Ralf Dahrendorfs Konzept in den zivilgesellschaftlichen Diskurs mit einbeziehend. Der dritte Teil (246-337) dient dann der Verifizierung ihrer These, indem sie ein Konzept von Zivilgesellschaft zu beschreiben sucht, dass dem normativen Anspruch der Idee sozialer Gerechtigkeit genügt.

In ihrem ersten Teil über den Begriff "Soziale Gerechtigkeit", die Bestimmung von Herkunft und die Auseinandersetzung mit der definitorischen Problematik sucht die Vfn. einen umfassenden Begriff von sozialer Gerechtigkeit zu entwerfen, um so später ihre These im dritten Teil herausarbeiten zu können. Sie greift in ihrer Begriffsbestimmung auf die dreifache Gestalt aristotelischer Gerechtigkeit zurück (auch bei Thomas von Aquin), stellt summarisch (29) fest, das sich das bis ins 19. Jh. bewährt habe und kommt dann zur Sozialen Frage, zu W. E. v. Ketteler und dem 1. Vatikanischen Konzil. In dieser Tradition verortet sie den Begriff der sozialen Gerechtigkeit, der in der weiteren Sozialverkündigung differenziert und erweitert worden sei.

Der weitere Gebrauch des Begriffes der "sozialen Gerechtigkeit", den die Vfn. relativ kurz von Blüm und v. Hayek über Noelle-Neumann bis zu Rawls summarisch beschreibt, bringt sie zu der Frage, ob als Subjekt sozialer Gerechtigkeit allein der Staat zu sehen sei. Das führt sie zu der Vermutung unangemessener Verengungen bei der Verwendung des Begriffes, die sie als etatistische, ökonomistische und technizistische Verengung im Folgenden diskutiert. Ergebnis dieser Diskussion ist, wie nicht anders zu erwarten war, dass der institutionelle Verweis auf den Staat nicht ausreichend ist, um ein umfassendes Verständnis der Idee der sozialen Gerechtigkeit zu entwickeln. So beschließt die Vfn. ihren ersten Teil mit dem Versuch, die Tugend der sozialen Gerechtigkeit als soziale Liebe zu entfalten. Dabei bezieht sie sich hauptsächlich auf v. Nell-Breuning. Leider reichen die dazu verwendeten vier Seiten nicht aus. Der Zusammenhang von Recht und Liebe ist das entscheidende Thema, das in diesem Zusammenhang hätte angesprochen werden müssen. Es geht um die theologische Fundierung einer Theorie von Recht und Gerechtigkeit, die in der Ermöglichung sozialer Gerechtigkeit einen unverzichtbaren Rechtsmaßstab sieht.

Nicht ganz einsichtig ist, dass die Vfn. den ersten Teil nur sehr knapp entfaltet hat und glaubte auf eine Diskussion des biblischen Gerechtigkeitsbegriffs weitgehend verzichten zu können sowie auf die Entfaltung des Zusammenhangs mit den wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechten. Gerechtigkeit, in der die Armen zu ihrem Recht kommen, ist anders als in der aristotelischen Vorstellung unverzichtbare Intention Gottes. Von der Option für die Armen her entwickelt beispielsweise Bedford-Strohm den befreiungstheologischen Beitrag zu einer theologischenTheorie der Gerechtigkeit. Von diesem Ausgangspunkt wäre eine Explikation des Zusammenhanges von "sozialer Gerechtigkeit und sozialer Liebe" (in diesem sehr kurz geratenen Abschnitt auf 81-85) spannend gewesen.

Den 2. Teil beginnt die Vfn. mit einem Rückblick auf die Vorgeschichte der Theorien der Zivilgesellschaft und deren Renaissance. Dabei spannt sie in ihrem kurzen Überblick den Bogen von Aristoteles über Hegel bis Lenin und Gramsci, ehe sie zu der "Aktualität der Rede von Zivilgesellschaft" (99) kommt. Zwei Phasen der Rede und Diskussion um die civil society lassen sich erkennen. Im Vorfeld der Ereignisse von 1989 in Osteuropa und deren Bewältigung in den postkommunistischen Demokratien des Ostens und zweitens die spätere Reflexion im Westen um die Grundlagen und den Zustand der eigenen (westlichen) Demokratien. In diesem Prozess der Entwicklung einer autonomen und sich selbst demokratisierenden civil society sieht die Vfn. ihren Gegenstand, den sie an drei unterschiedlichen Ansätzen analysieren und auswerten will, den Ansätzen von Ralf Dahrendorf (104-127), Charles Taylor (128-172) und Michael Walzer (173-203). Leider macht die Vfn. nicht deutlich, warum sie diese drei und gerade diese Konzeptionen heranzieht und beispielsweise auf Habermas kaum Bezug nimmt.

An das Referat der drei Konzeptionen schließt die Vfn. die Diskussion und einen ersten Ansatz ihrer eigenen Konzeption an, in dem sie versucht, ein normatives Konzept von Zivilgesellschaft aus dem bisher Vorgelegten, insbesondere aus ihren drei referierten Konzeptionen zu extrahieren. Dabei betont sie zwei ethisch-normative Aspekte, die Freiheit und den Pluralismus. Sie weist mit Dahrendorf und Walzer gegen Taylor darauf hin, dass die menschliche Person die Voraussetzung für die Herausbildung der Zivilgesellschaft ist und nicht die Zivilgesellschaft Möglichkeitsbedingung von Freiheit. "Wohl gilt ... dass die Zivilgesellschaft notwendig ist, um diese Freiheit zu realisieren und zu entfalten, also auch, um die gleiche Freiheit für alle unter den Bedingungen der Gesellschaft, also um soziale Gerechtigkeit zu realisieren." (217)

Wieder mit Dahrendorf und Walzer stellt sie den Pluralismus als ein entscheidendes Charakteristikum von Zivilgesellschaft heraus und macht das an ihrem zeitgeschichtlichen Ausgangspunkt, den Ereignissen um 1989 deutlich, indem sie darauf hinweist, dass Pluralismus das Gegenmittel gegen staatliche Versuche sei, "zu definieren, was gelungenes Leben ist, mithin gegen die sonst unausweichliche Konsequenz des Staatsterrors" (222). Damit definiert sie Pluralismus als einen Wert, analog dem Wert der Freiheit. Beide Werte bedürfen eines Grundkonsenses der Gesellschaft, werden erst möglich durch ein fundamentales normierendes Ethos. Nur so kann Pluralismus nicht zu gleichgültiger Beliebigkeit verkommen. Zu diesem das bonum commune schützenden Grund- und Wertekonsens ge-hören neben der Freiheit des Menschen, seine Menschenwürde, seine Rechte und Pflichten als Person.

Nach der Bestimmung der ethisch normativen Aspekte wendet sich die Vfn. strukturell-anthropologischen Aspekten zu, die die Struktur und Funktion von Zivilgesellschaft bestimmen. Dabei nimmt sie vor allem das Spannungsverhältnis von Gesellschaft und Individuum in den Blick. Unter anderem mit Rückbezug auf Taylor repliziert sie die alte (katholische) These, dass bereits im menschlichen Personsein und seiner Struktur das Individuelle (das ist common sense) und das Soziale (das müsste noch argumentativ belegt werden) begründet sind.

Nell-Breuning und andere behaupten dies noch mit der im Wesen des Menschen angelegten wechselseitigen Beziehung von Person und Gemeinschaft. Soweit geht die Vfn. nicht. Es würde ihr auch den philosophischen Vorwurf einbringen, eine Theorie zu vertreten, die in solchen Subkulturen der Gesellschaft gepflegt werden, die sich der dominanten Rolle des Individualismus und des Liberalismus entzogen haben. (Nothelle-Wildfeuer hat den Vorwurf von Kurt Bayertz durchaus zur Kenntnis genommen. Seinen entscheidenden Aufsatz und seine Argumentation erwähnt sie kurz, nimmt das Gespräch aber nicht weiter auf, um die Konzeption der Sozialprinzipien weiter beizubehalten.)

Nachdem die Vfn. das Verhältnis von Individuum einerseits und Gesellschaft und Staat so bestimmt hat, dass, um es noch einmal auf den Punkt zu bringen, "im Ansatz menschlichen Personseins und seiner Struktur ... das Individuelle und das Soziale begründet" liegt (230), wendet sie sich zum Abschluss des zweiten Teils noch dem Verhältnis Gesellschaft und Staat zu. Hier lehnt sie sich wiederum stärker am Walzer an, dessen Entwurf der Zivilgesellschaft ihr die Errungenschaften der neuzeitlich-modernen Gesellschaft in einer Verbindung der liberalen und kommunitaristischen Vorstellungen am sinnvollsten, auch aus der Sicht einer christlichen Sozialethik, abzubilden scheint.

"Ist das Konzept der Zivilgesellschaft, so ist zu fragen, ein für die westlichen Demokratien tatsächlich überzeugender Ansatz?" (246) Diese Frage, die ihre Anfangsthese wiedergibt, will die Vfn. auf der Grundlage des bislang Erarbeiteten in ihrem dritten Teil beantworten. Sie tut dies nicht im Kontext der erarbeiteten Entwürfe von Zivilgesellschaft, sondern wendet sich auf der angesprochenen Grundlage erstens der Diskussion um den Sozialstaat, zweitens dem Diskurs um Zustand und Ausrichtung der Demokratie und drittens den klassischen "Sozialprinzipien" in Verbindung mit der Rehabilitierung politischer Tugenden zu.

Dabei zieht sie zum einen gegen den Sozialstaat zu Felde und proklamiert folgerichtig die Wohlfahrtsgesellschaft, wobei sie sich auf eine Konzeption des sozialpolitischen Vordenkers der CDU Warnfried Dettling stützt. Die Darstellung dieser Konzeption würde hier zu weit führen, aber es sei im Jahre des Ehrenamtes darauf verwiesen, dass gerade dieses von Dettling als der Kristallisationspunkt der Transformation des Sozialstaates in eine Wohlfahrtsgesellschaft verstanden wird. Dass das Ehrenamt eine wichtige zivilgesellschaftliche Komponente bei der Bewältigung sozialer Probleme werden kann, ist unumstritten. Sozialarbeitswissenschaftliche Forschung und die Praxis Sozialer Arbeit lassen jedoch noch nicht erkennen, dass die Stilisierung des Ehrenamtes zum Kristallisationspunkt eines Transformationsprozesses gerechtfertigt ist. - Zum anderen nimmt die Vfn. die ökonomistische Verengung der Idee sozialer Gerechtigkeit aufs Korn und versucht den Weg von einer Zuschauergesellschaft zu einer Mitmachgesellschaft aufzuzeigen. Dazu analysiert sie die "Politikverdrossenheit" in der "Erlebnisgesellschaft" und versucht in einem weiteren Schritt, Möglichkeiten der Partizipation aufzuzeigen, die den nicht länger akzeptablen Parteienstaat überwinden helfen und in einer zivilgesellschaftlich organisierten Gesellschaft "ein Mehr an sozialer, kontributiver und partizipativer Gerechtigkeit" (309) schaffen.

Zum dritten versucht die Vfn. einer "technizistischen Verengung der Idee sozialer Gerechtigkeit" zu wehren. Sie versteht darunter das (Miss-)Verständnis, dass soziale Gerechtigkeit sich durch sozialregulative Maßnahmen herstellen ließe. Wen immer sie hier im Auge hat, der mit Hilfe von rein technisch-praktischen, legislatorischen Maßnahmen dies beabsichtigt, sie stellt dem eine sozialethische Konzeption entgegen, die Strukturen und Tugenden umfasst. So zielt sie auf eine "Gesinnungs- und Strukturreform", wie sie bereits in Quadragesimo anno gefordert ist. Es verwundert dann auch nicht, dass die Vfn. auf die Konzeption von den Sozialprinzipien zurückgreift, denen sie - ihren Entwurf abschließend - die auf den letzten Seiten rasch rehabilitierten politischen Tugenden (Realitätssinn und Sachgemäßheit, Toleranz und Kompromissfähigkeit, Zivilcourage sowie Gelassenheit) zur Seite stellt.

Insgesamt beschließt die Vfn. ihre breit angelegte Arbeit mit einer Aufgabenbeschreibung christlicher Sozialethik, in der sie ganz im Sinne ihres Entwurfs vor der Beschäftigung gesellschaftlichen oder politischen Detailproblemen warnt und die Sozialethik auf ihren genuinen Beitrag in der "Verteidigung und Förderung der Würde der menschlichen Person gerade in ihrer transzendenten Verankerung" (343) verweist.

Derjenige, der sich in der angewandten Ethik um Problemlösungen auch und gerade in Fragen soziale Gerechtigkeit in der sozialräumlichen Konkretion bemüht, mag sich dieser Prioritätensetzung nur zögerlich nähern!