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Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1194–1196

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Mathwig, Frank

Titel/Untertitel:

Technikethik - Ethiktechnik. Was leistet Angewandte Ethik?

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2000. 321 S. gr.8 = Forum Systematik, 3. Kart. DM 68,25. ISBN 3-17-016101-6.

Rezensent:

Jürgen Hübner

Ein oft gehörter Vorwurf gegenüber der gängigen Ethik, insbesondere im Bereich der Technik und der Biomedizin, lautet, sie komme immer zu spät, sie reguliere nur noch das Faktische. Gegen eine Überhöhung des Faktischen im Sinne einer Fortschrittsideologie wird eine scharfe, "klare" Grenzziehung bis hin zu Tabuisierungen gefordert. Sowohl bei einer eher pragmatischen Urteilsbildung als auch im dezidierten Pro oder Contra wird weitgehend in rationalen Mustern argumentiert, die auch naturwissenschaftlicher Denkweise entsprechen: Argumente werden aufgestellt, miteinander verglichen und experimentell erprobt. In der Praktischen Philosophie und Angewandten Ethik kann das theoretisch geschehen, ohne direkten Bezug zur Praxis in einer konkreten Situation. Ein klassisches Bespiel für diese Art der Argumentation ist das Dammbruchargument: Es geht um Dammbauten und ihre Berechtigung.

Dieser Reflexionsebene, die ihre Wurzeln in der klassischen abendländischen Metaphysik hat, entspricht eine normative Ethik. Sie hat trotz der Auflösung des zu Grunde liegenden statischen Weltbildes infolge ihrer regulativen Funktion bleibende Bedeutung. Doch das kann nicht alles sein, was Ethik zu leisten hat. Es gilt wahrzunehmen, was im Leben geschieht, und nicht nur intellektuell und theoretisch darüber zu reflektieren, so sehr auch das natürlich zum Leben gehört. Es gibt einen Zirkel von lebendigen Erfahrungen im alltäglichen Lebenszusammenhang und Reflexionen über dieselben, die ihrerseits wieder in vorrationale Verhaltensweisen eingehen. Mathwig stellt sich dieser Problematik mit dem Programm einer fundamental ansetzenden Ethik der Wahrnehmung. Moralische Normen bestehen "vor dem Hintergrund individuellen und kollektiven Erlebens, subjektiver Absichten, Präferenzen und Bedürfnisse" (17). Das verpflichtet zu hermeneutischer Reflexion. Eine ",Reißbrettethik', die für vorgegebene Problemstellungen ethische Lösungsstrategien erarbeitet", ist dann "prinzipiell inakzeptabel" (78).

Nach einleitenden Überlegungen zum Verhältnis von Ethik und Technik wird zunächst (I) das Paradigma problemorientierter Ethik vorgestellt, wie es sich in den USA seit dem Vietnamkrieg und in Deutschland in der Auseinandersetzung um die Möglichkeiten und Gefahren der Atomkraft herausgebildet hat. Auf Grund der Beobachtung, dass "moralische und ethische Argumentationen interessengeleitet sind" (84), wird sodann (II) nach den Motiven in dieser Weise angewandter Ethik gefragt. Eingehend wird das vorausgesetzte Verständnis von "Krise" und "Problemen" untersucht. Probleme erscheinen "als gemeinsamer Nenner von Ethik und Technik" (III). Ausführlich wird daraufhin der "Effekt der ethischen Neutralisierung" und die "Selbstevidenz des Kritischen" behandelt, bevor Technikethik zwischen "Handeln" und "Herstellen" thematisiert wird: Sie bewege sich zwischen den Polen von "strukturellem Determinismus" und "moralischer Überdehnung" (209). Erst in der "Verschränkung von Anthropologie und Ethik" könne eine weiterführende ethische Perspektive greifbar werden (210).

Auf Grund der handlungstheoretischen Aporien in der Ethik wird dann an Hand der ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung H. E. Tödts der Perspektivenwechsel zur "Wahrnehmung" vorgenommen (IV). Entscheidend ist: "Nicht Normen bilden den Bezugspunkt ethischer Urteilsbildung, sondern der Umgang mit denselben" (223). Damit ist nicht der Relativität, wohl aber der Relationalität sittlicher Erkenntnis das Wort gesprochen (238). Probleme, ihre Wahrnehmung und die Situation des Wahrnehmenden sind in ihrem hochkomplexen Zusammenhang jeweils geschichtlich bestimmt und eröffnen so je aktuelle und spezifische Möglichkeitsspielräume (250). Es gelte somit, situations- und kontextbezogen "die rechten Perspektiven für den Umgang mit den Werten unserer Lebenswelt zu finden" (254).

Auf dem Weg zu einer Ethik der Wahrnehmung nimmt M. schließlich Anregungen Johannes Fischers auf, der seinerseits die Wahrnehmungsebene als "den Ort jener Motive und Antriebe" markiert, "die den Anstoß geben, etwas zu einem Thema von Ethik zu machen" (271). Die Frage nach der rechten normativen Orientierung müsse zurückgebunden werden an die Frage nach der Identität des Handelnden (272). Diese aber ist kommunikativ von unterschiedlichen "Anwesenheitskonstellationen" (276) bestimmt. Hier kann dann in Anknüpfung an die paulinische Ethik pneumatologisch auf die christliche Gemeinde verwiesen werden, in der die Vergegenwärtigung des Geistes, aus dem sie lebt, Gestalt gewinnt (279).

Von daher ergibt sich als Ziel die "Rekonstruktion jener strukturellen Merkmale, die unseren ethischen Reflexionen und moralischen Urteilen zugrunde liegen" (279). M. will das letztlich christozentrische Wirklichkeitsverständnis, das Fischer voraussetzt, als ethisches Paradigma lesen. Hier bestimmen sich "theoretische" und "praktische" Erkenntnis wechselseitig: Wir wachsen in kommunikativen Beziehungen in eine Lebensform hinein, die ihrerseits argumentativ expliziert werden kann, so dass entsprechende Argumente und Normen auch wieder die Lebenspraxis beeinflussen. Für gegenwärtige Ethik ergibt sich neben dem normativen Apparat somit als entscheidende Frage, "welche Motive unsere moralischen Ansichten und Urteile vorrangig steuern" (281). Wissenschaftliche Auffassungen der Wirklichkeit können dann nicht einfach übernommen werden, sondern müssen vielmehr auf ihre Wahrnehmungsprämissen hin befragt und diese als ethisches Problem thematisiert werden (282).

Für M. folgt aus einem solchen komplementären Verhältnis von Theorie und Praxis, dass keine der beiden Ebenen durch die andere substituiert werden kann, sondern dass nach Anschlussmöglichkeiten und Übergängen zwischen ihnen gefragt werden muss (283). Im Blick auf die Technik sei hier "zunächst und grundsätzlich" eine "erstaunliche Übereinstimmung hinsichtlich der Wahrnehmung technologischer Gefährdungen" zu beobachten. In diesem Horizont gelte es, "denkend auf gemeinsame Erfahrungen einzugehen und aus ihnen Konsequenzen zu ziehen" (284). Wichtig dafür sei eine "biographisch ausgebildete Fähigkeit zum bewußten Wahrnehmen und Teilnehmen" (285). Ethik kann sich in einer pluralen Gesellschaft nicht mehr im Kantischen Sinn allein auf "die" Vernunft gründen, sondern bedarf der Erweiterung ,nach unten' durch die "Evidenz der Erfahrung" (287). Das heißt dann auch, dass die Ethik mit einer weiteren Herausforderung, einer Umkehrung der Beweislast konfrontiert wird: "Nicht mehr der Einzelne hat sein Vorgehen gegenüber allgemein gültigen Normen zu rechtfertigen, sondern die Institutionen müssen ihrerseits begründen, warum sie den Spielraum des Einzelnen beschneiden" (289).

In seiner Arbeit, einer Marburger Dissertation, ist M. eine begründete Exposition und Beschreibung des Weges gelungen, den die Ethik neuerdings gehen muss, um über die alternativen Einseitigkeiten der gegenwärtigen Diskussionslage hinauszukommen. "Wahrnehmung" wie "Intuition" sind Stichworte, die eine defizitäre Leerstelle gängiger Praktischer Philosophie markieren. Auch Ethik als Wissenschaft ist nicht ohne vorrationale Voraussetzungen. Diese zu benennen und ihre Bedeutung zu eruieren, ist eine dringende Aufgabe künftiger Ethik. Herauszuarbeiten bleibt, wie sich dieser Ansatz in konkreten Entscheidungssituationen darstellt und zu lebensdienlichen Lösungen führen kann.