Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1190–1192

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Engelhardt, H. Tristam

Titel/Untertitel:

The Foundations of Christian Bioethics.

Verlag:

Lisse-Abingdon-Exton-Tokyo: Swets & Zeitlinger Publ. 2000. XXIV, 414 S. gr.8 Geb. Hfl. 94.-. ISBN: 90-265-1557-X.

Rezensent:

Peter Dabrock

In der bioethischen Szene haben sich neben den "Principles of Bioethics" von Tom L. Beauchamp und James F. Childress die "Foundations of Bioethics" von H. Tristam Engelhardt - vor allem in der zweiten Auflage aus dem Jahre 1996 - den Ruf eines Klassikers erworben. E. entwickelt in diesem umfangreichen Werk den konsequenten Standpunkt einer säkularen Ethik "for moral strangers", die sich entsprechend einer mangelnden inhaltlichen Übereinstimmung in moralisch-sittlichen Grundüberzeugungen in bioethischen Konfliktfeldern nur auf eine prozedural ermittelte, wechselseitige "permission" als Grundlage ihrer verschiedenen Handlungsoptionen einigen können. Weder Abtreibung noch aktive Sterbehilfe lassen sich aus diesem libertären Ansatz heraus mit seinem Grundaxiom rein formal-negativer Freiheit begründet abweisen, wie für ihn umgekehrt eine solidarische Gesundheitsversorgung als Verletzung der individuellen Eigentumssphäre erscheint. Ob die Anhänger und Gegner dieses provozierenden und polarisierenden, radikal libertären Bioethikansatzes zur Kenntnis genommen hatten, wie seinerzeit der Autor selbst seine moralischen Überzeugungen vom Inhalt des Buches distanzierte? Immerhin schrieb er im Vorwort: "I am of the firm conviction that ... those who willfully engage in much that a peaceable, fully secular state will permit (e. g., euthanasia and direct abortion on demand) stand in danger of hell's eternal fire." Wer diese Diskrepanz zwischen der persönlichen Glaubens- und Moraleinstellung des "Texan Orthodox Catholic, a convert by choice and conviction" und dem vorgetragenem säkularen Ethikansatz beachtet hatte, konnte erwarten, dass E. irgendwann einen Ethikentwurf aus dem Geiste der christlichen Orthodoxie vorlegen würde. Dies ist nun endlich in den im August 2000 erschienen "Foundations of Christian Bioethics" geschehen.

E. bleibt seinem Ruf als Provokateur treu. Allerdings ist die Art der Herausforderung anders gelagert als bei den säkularen Foundations. Nun mag all die Leser, die ihre religiöse und/oder kulturelle Identitätsbildung aus dem breiten Spektrum möglicher Verbindungen abendländischen Christentums und einer durch die Aufklärung gefilterten Rationalität gewinnen, der hermeneutische resp. hermetische Ansatz orthodoxer Theologie befremden, der hier auf die Bioethik angesetzt wird. Denn er vertritt gegen alle Formen sowohl säkularer als auch westlich-theologischer Bioethik einen Exklusivitätsanspruch auf theologische und ethische Wahrheit (XIII, 391-393).

Über die Hälfte des Buches (Kap. 1-4, 8) beansprucht E. für die epistemologische Entfaltung des exklusiven Konzeptes der "traditional Christian bioethics" (157 u. ö.), das in freundlicher Lesart als eine Variante eines cultural-linguistic approach (wie er in der jüngeren Geschichte der theologischen Ethik auf protestantischer Seite u. a. von St. Hauerwas vertreten wird) charakterisiert, in weniger zugeneigter Rezeption nicht unbegründet schlechterdings als fundamentalistisches Machwerk denunziert werden kann. Eine orthodoxe Bioethik entspringt nach E. der lebendigen orthodoxen Glaubenspraxis aus Mystik, Liturgie, Askese, Demut, Reue und Betrachtung der Weisungen der (östlichen) Kirchenväter des ersten Milleniums (XII, 6, 176-211). Diese umfassende religiöse Praxis des "experientially knowing God" (3, 5, 20 u. ö.), die auf Heiligung als Teilhabe am Reich Gottes zielt (353 f.366), dient als conditio sine qua non für die traditional Christian bioethics. Allerdings genügt es E. nicht, immer wieder, geradezu redundant, die spirituelle Grundlage seines Bioethikentwurfes hervorzuheben. Vielmehr wird die gesamte theologische und die philosophische Tradition des Abendlandes kollektiv des Verrates an der Transzendenz Gottes bezichtigt (7-44, 73-155): Vom Mittelalter mit seinem Versuch, ratio und fides zu verbinden, über die Reformation, die die religiöse Fragmentierung verursacht habe, über die pagane Renaissance, die vernunftgläubige Aufklärung und den transzendenzvergessenden Idealismus bis hin zum Vaticanum II mit seinem aggiornamento zieht sich nach E. eine einzige religiöse und sittliche Verfallsgeschichte, die schließlich das liberale Ethos der (Post-)Moderne mit seinem Axiom der "permission" (3, 5, 39 f., 41 ff. u. ö.), seinem Pragmatismus der Trennung von Gutem und Gerechtem und seiner Konsequenz moralischer Orientierungslosigkeit hervorgebracht habe (35, 38). Demgegenüber verbürge der bioethische Ansatz der Orthodoxie die Einheit von Gerechtem, Gutem und Wahrem in der Klammer des Heils und des Reiches Gottes (45 u. ö.).

In den Kap. 5-7 wird schließlich die orthodoxe Konzeption - vermeintlich die Wahrheit vermittelnd - auf die bioethischen Konfliktfelder "Fortpflanzung: Reproduktionsmedizin, Klonierung, Abtreibung und Geburt"(233-308), "Leiden, Krankheit, Sterben und Tod" (309-351) und schließlich "Gesundheitsversorgung: informed consent, Interessenkonflikte, Allokation medizinischer Ressourcen und religiöse Integrität" (353-389) christlicher Heilberufler und Institutionen appliziert. Während manche Standpunkte wie die Verurteilung jeder Abtreibung als Mord (275-281) und die Ablehnung jeder Form von vor- und außerehelichem Geschlechtsverkehr (239-245, 273-274) oder der Verwendung von Kontrazeptiva (262-268, 273 f.) kaum überraschen, sind andere Bewertungen auf den ersten Blick für manchen vielleicht eher irritierend: Nicht nur die IVF (allerdings nur unter sehr eigenwilligem Prozedere) wird in Grenzen zugelassen (250-260), sondern auch somatische Gentherapie und Keimbahninterventionen, sofern Krankheiten geheilt werden und die Speziesgrenze beachtet bleibt (272 f.). Bei der Frage nach der Aufklärung am Krankenbett lehnt der Vf. die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit als sophistisch ab und fordert vielmehr unter Aufbringung einer großen Zahl von theologischen Zeugen dezidiert zum Lügen auf, sofern damit der Patient dem Heil näher gebracht wird (354-366): soteriologischer Lügenpaternalismus! Wie schon in seiner säkularen Bioethik lehnt E. auch in der orthodoxen den Wohlfahrtsstaat ab, weil dessen Doktrin der sozialen Gerechtigkeit die personale Dimension des christlichen Liebesethos unterlaufe (366-369). Zudem könne man in der christlichen Demut einerseits Ungleichheiten akzeptieren, andererseits Eigenverantwortung postulieren. Den dann noch in Not Befindlichen kann darüber hinaus mit fallbezogener Wohltätigkeit geholfen werden.

E.s "Foundations of Christian Bioethics" beabsichtigen nicht, einen Beitrag zur politisch-sittlichen Entscheidungskriterienberatung zu leisten, wie es sonst die übliche Intention angewandter Ethik ist. Ohne die Absicht, die Inhalte der eigenen "Sondergruppensemantik" (Luhmann) zu transpartikularisieren, werden die Positionen der traditional Christian bioethics vorgestellt und bilden somit einen unvermittelten Kontrast zum vermeintlich liberalen mainstream-Ethos der permission. Mit welchem Gewinn man das Buch liest, hängt stärker als üblich von der jeweils eigenen Störungsanfälligkeit gegenüber polemischen Interferenzen ab. Nicht wenigen gutgewillten Lesern dürfte E. den Zugang zu vielen erhellenden Gedanken nachhaltig erschweren, wenn nicht gar versperren, indem er (auch nach eigener Selbsteinschätzung; XV) in fundamentalistischer Manier eindeutig zwischen Richtig und Falsch, Gut und Böse zu unterscheiden weiß, indem er die gesamte Geistesgeschichte des Abendlandes seit dem Mittelalter ausschließlich als Verfallsgeschichte deutet, indem er die gegenwärtige abendländische christliche Bioethik ohne dezidierte Belege (!) stereotypisierend als immanentistisch und ästhetisch karikiert, indem er vielfach durch die Verwischung von Entdeckungs-, Begründungs- und Bewährungszusammenhang in den bioethischen Konfliktfeldern jede Form von Diskursivität und Zustimmung unter den Verdacht der Missachtung der Transzendenz Gottes stellt und dadurch die dramatischen Konfliktsituationen (bspw. für betroffene Frauen vor einer möglichen Abtreibung) herunterspielt. Aber das Unverständnis der Ungläubigen resp. Nichtorthodoxen bekümmert den Vf. offensichtlich nicht. Wer die polemischen Töne schluckt und/oder wer auf synchronistisch-ahistorische Textinterpretationen setzt, der kann in dem Buch auch einen sorgfältig aufbereiteten, reichen Schatz orthodoxer Traditionen zum Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Heilung entdecken. Denn immer wieder ruft E. gegen eine rein pathogenetisch-mechanistische Betrachtung der Medizin die vielfach vergessene therapeutische und experientielle Dimension von Heilung in Erinnerung. Diese salutogenetische Perspektive im Geiste des Christentums für die aktuelle Medizinethik wiederzuentdecken ist das Verdienst der "Foundations of Christian Bioethics". Schade und unnötig, dass die mehrfach ausgesprochene Einladung zum Mitdenken (XIII, XVII u. ö.) so ungastlich ausfällt.