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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

1031–1033

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Hailer, Martin

Titel/Untertitel:

Theologie als Weisheit. Sapientiale Konzeptionen in der Fundamentaltheologie des 20. Jahrhunderts.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1997. 302 S. gr.8 = Neukirchener Theologische Dissertationen und Habilitationen, 17. Kart. DM 98,-. ISBN 3-7887-1651-7.

Rezensent:

Uwe Gerber

Mit dem Ende der Vorstellung von der einen Vernunft in einer "Theorie der Rationalität" konnte sich im Konzert von verschiedenen "vernünftigen Vermögen" auch Weisheit etablieren. Gegenüber Hegels Selbstabschließung der Vernunft geht es hier um die Formulierung rationaler Ansprüche ohne einen Vernunft-Monismus.

Solche Weisheit läßt sich dreifach typologisieren: (1) als vollendendes, letztgültiges Denken innerhalb einer Pyramide von Vernunftstufen (Thomismus, aber auch transversale Vernunft bei Welsch; Formen protestantischer Orthodoxie); (2) als praktische Klugheit, als Rat und Lebenserfahrung im Horizont grundsätzlich deprinzipialisierter Vernunft (wobei auf den Streit um Weisheit in Israel eingegangen wird); (3) Weisheit ist ein sinnkreativer, autonomer Bereich außerhalb der Rationalität (Cassirer; Feministische Ansätze eines alternativen Diskurses). Theologisch können zwei weitere Typologisierungen als "Mischformen" gemacht werden: (4) Weisheit wird hypostasiert, z. B. als Jahwe oder als Göttin (Sophiologie, etwa in der russischen Orthodoxie und in feministischen Theologien); (5) Weisheit ist privilegierte Einsicht in Ordnungsprinzipien des Kosmos (26-36).

Konkretisiert werden diese drei "hochabstrakten Typen" und die beiden "Mischformen" exemplarisch zunächst an G. Söhngens fundamental-konklusionstheologischer Zuordnung der Wissenschaft zur Weisheit als deren "Überbietung und Vollendung"; dabei ist Weisheit als "Lebensform" (2) und als "Mysterium" (4/5) eingeschlossen. Die "Vernünfte" bleiben hier Elemente einer pyramidal strukturierten Art Gesamtvernunft. Nachkonziliare Theologen setzten anthropologisch (K. Rahner: Hörer des Wortes), kontextuell, politisch, narrativ (J. B. Metz), pluralistisch im Blick auf Konfessionen und Religionen (K. Rahner, H. Fries als Ökumeniker) an, aber doch noch unter anthropologisch-thematischer Wahrung der Einheit der Theologie. Im englischsprachigen Raum gab es aber z. B. den Versuch von B. Lonergan, den Methoden-Pluralismus über "Weisheit" mindestens in ein diskutierendes Verhältnis zu bringen (92 ff.). Insgesamt bleibt bei diesen katholischen Ansätzen ein theologischer Begründungsfundamentalismus im Überbietungsmodell erhalten.

Im feministischen Ansatz von der Schöpfungs- und Befreiungsweisheit Gottes bei E. Schüssler Fiorenza liegen Kritik an androzentrischen Selbstabschließungstendenzen, indem Weisheit als "Rat und Lebenserfahrung" (2) zur konstruktiven Matrix feministischer "Positionierung" wird, und Tendenzen zur eigenen Selbstabschließung im Medium einer radikalpartizipatorischen Frauen-Kirche (als Überbietungsmodell?) ambivalent ineinander.

Eine rein lebensweltlich orientierte und entsprechend Theologie suspendierende Vorstellung von Weisheit vertritt Hermann Timm im Horizont der Postmoderne-Debatte. Gegen moderne subjekt- und eschatologisch-monistische Konzepte von Weisheit als Überbietung wissenschaftlicher Theologie wird die "andere Gestalt der Moderne" zum Zuge gebracht: "die unvermeidliche Erdgebundenheit des Menschen" mit ihren vortheoretisch-kontextuellen Evidenzerfahrungen, die keine vorentworfen-subjektorientierte Verallgemeinerbarkeit mehr haben. Eine "Haltung kreatürlicher Achtung", die "Kreatürlichkeit als Mitkreatürlichkeit in Abhängigkeit" (vgl. A. Schweitzer) ist der Kernpunkt weisheitlicher Welterfahrung und entsprechenden "Theologisierens" (208 f.). Probleme bleiben lt. Vf. z. B. Fragen der Methode (Phänomenologie und Hermeneutik, Evidenzen usw.), die Universalisierbarkeit, der Ausweis eines Propriums weisheitlichen Denkens in lebensweltlich sich vollziehender Evidenz. An diesem Punkt ist der Rez. der Meinung, daß der Vf. den Timmschen Anliegen nicht ganz gerecht wird; man könnte auf die erhellende Lévinas-Debatte verweisen (und etwa A. Finkielkraut: Die Weisheit der Liebe, 1987). Im abschließenden Versuch einer fundamentaltheologischen Verwendung des Begriffs Weisheit werden die analytisch gewonnenen Aspekte aufgenommen und miteinander in Diskussion darüber gebracht, inwiefern Weisheit als Letztorientierung gleichsam in, mit und unter oder auf dem Rücken reflektierender Theologie geschieht, ohne je selbst solche Theologie zu werden. Weisheit markiert jedenfalls keinen Sonderbereich; sie ist aber auch kein begründendes Richtigkeitswissen, sondern bewährendes Wichtigkeits-, Umgangs-, Orientierungswissen in unmittelbarer Evidenz, so etwas wie "Kompetenz kognitiver Relevanzentscheidungen" (245 f.; vgl. Diskurs mit D. Ritschl und I. U. Dalferth, 250 ff.). Weisheit vermag lebensweltlich relevantes Wissen bereitzustellen; ihre disziplinäre Gestalt ist praktische Orientierung (261) - aber Theologie wäre ihrerseits mißverstanden, würde sie selbst als sapientia betrieben, da Theologie "gelingender Letztorienierung zwar den Boden zu bereiten sucht, mehr jedoch nicht zu sagen in der Lage ist. Den Selbsterweis Gottes, der allein Letztorientierung ist, vermag sie als Reflexionsgestalt nicht weitergehend darzustellen" (270).

Diese Heidelberger Dissertation greift eines der brennenden, m. E. das Grundproblem in unserer post/modernen Lebenswelt auf und dekliniert es gut ökumenisch an zwei katholischen, einer feministischen und einer "postmodernen" Konzeption problem- und diskursorientiert mit gebotener Sensibilität und erforderlicher Übersicht und Deutlichkeit durch. Sowohl die analytischen Passagen als auch der eigene Ansatzversuch sind zu gewinnbringender Lektüre und Auseinandersetzung zu empfehlen.