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Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1183 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Grohmann, Marianne

Titel/Untertitel:

Aneignung der Schrift. Wege einer christlichen Rezeption jüdischer Hermeneutik.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2000. VIII, 280 S. 8. Kart. DM 78,-. ISBN 3-7887-1801-3.

Rezensent:

Horst Seebass

Dies Buch ist "die leicht überarbeitete Fassung einer systematisch-theologischen Dissertation", die Frau Grohmann bei U. H. J. Körtner in Wien erarbeitet hat und die 1999 dort angenommen wurde (V.). G. setzt bei einem in der Tat gewichtigen Ausgangspunkt ein: Für heutige Leser und Leserinnen außerhalb von Fachkreisen ist das in der alttestamentlichen (und neutestamentlichen) Wissenschaft historisch-kritisch Erarbeitete zumeist weitgehend gegenwartsfern und nur schwer zu rezipieren. Dass G. dies Problem von systematisch-theologischer Seite aus angeht, scheint mir ganz richtig. Das Ziel der Arbeit ist aber nicht eine neue Rezeptionstheorie, die nur auf dem Weg zum Ziel bedacht wird, sondern gemäß Untertitel die Empfehlung einer christlichen Rezeption jüdischer Hermeneutik. Dafür sich qualifizierend hat G. sich nach eigenen Angaben (V) in einem Studienjahr an der hebräischen Universität zu Jerusalem mit rabbinischer Schriftauslegung in Talmud und Midrasch beschäftigt und in einem weiteren Studienjahr dort Material für ihr Vorhaben gesammelt. S. 21 sagt sie dazu:

"Ziel der folgenden Studie ist es, Ansätze zu einer alttestamentlichen Hermeneutik und protestanischen Skriptologie zu entwerfen, die den jüdischen Ursprung des Alten Testaments bzw. des Tanach ernstnimmt und das Gegenüber zeitgenössischer jüdischer Hermeneutik berücksichtigt ... Ein Zweig literarischer Hermeneutik - leser- und leserinnenorientierte Ansätze wie Rezeptionsästhetik und Intertextualitätskonzepte - soll hier ein Instrumentarium zur Verfügung stellen, das für eine Vermittlung zwischen jüdischer und christlicher Hermeneutik hilfreich sein könnte, für eine Aneignung ohne Enteignung, eine Rezeption jüdischer Hermeneutik in christlicher Theologie, die bei den vorhandenen gemeinsamen Anliegen auch die bleibenden Differenzen anerkennt."

Entsprechend teilt G. ihre Arbeit in 7 Abschnitte, denen eine ganz kurze Zusammenfassung folgt (251-254).

Die Einleitung (1-22) behandelt das o. g. Problem der Aneignung der Schrift zusammen mit der inzwischen erheblichen Spannung zwischen protestantischem Schriftprinzip und der historisch-kritischen Methode (ihr Vorschlag: man sage Schrift statt Altes, Erstes Testament oder Hebräische Bibel, davon ausgehend Skriptologie). Neben einer Reflexion auf die Ambivalenz der Verbindung "jüdisch-christlich", die Differenzen zu leicht (vereinnahmend) verberge, aber auch nicht haltlos sei, entfaltet sie auf 2 Seiten Ziel, Aufbau und Methode der Arbeit. Vorbereitend behandelt der 2. Abschnitt "Rezeptionsorientierte Positionen literarischer Hermeneutik" (23-41), die im 3. Abschnitt "Die Bibel als Literatur" auf christliche Hermeneutik angewandt werden (G. sieht hier einen Vorsprung katholischer vor der protestantischen Exegese; aber man muss als Protestant nicht erneut C. Dohmen/G. Stemberger, Hermeneutik der jüdischen Bibel und des Alten Testaments [1996] schreiben). In beiden Abschnitten findet auch feministische Hermeneutik ihre Berücksichtigung.

Im 4. Abschnitt "Zeitgenössische Positionen jüdischer Hermeneutik" (73-129) sammelt G. prominente Positionen zum Tanach sowie zwei Ansätze zur Midraschforschung und gibt einen Einblick in jüdisch-feministische Hermeneutik. Der programmatische Abschnitt 5 "Aneignung ohne Enteignung - Perspektiven christlicher Hermeneutik unter Wahrnehmung des Judentums" (131-166) widmet sich knapp der für das Ganze wichtigen Forderung "Aneignung ohne Enteignung", breit dagegen der Idee einer Biblischen Theologie (kritisch) und empfiehlt "Rezeptionsorientierte Intertextualität als Vermittlungsmodell zwischen jüdischer und christlicher Hermeneutik". Der 6. Abschnitt "Formen der Aneignung" (167-230) ist ebenso umfangreich, geht aber nun zu praktischer Erprobung über. Er behandelt beispielhaft drei alttestamentliche Texte in rabbinischer und neutestamentlicher Interpretation: Ex 34, 29-35 (Decke auf Moses Gesicht), Dtn 30,12-14 (Nähe des Gotteswortes) und Gen 16 und 21,1-21 (Sara und Hagar) mit der Kontrastierung "Rabbinische Auslegung in der Diskussion- paulinische Aneignung in der Verkündigung". Der 7. Abschnitt "Perspektiven protestantischer Skriptologie" (231-249) sucht zu bündeln und zwar unter gewichtigen Themen: Interaktion zwischen Text und Leser/Leserin, die Rolle der Interpretationgsgemeinschaft (jüdisch und christlich, je differenziert), Vielfalt ohne Beliebigkeit, Verstehen als produktiver Vorgang, Leerstellen im Text als Möglichkeiten von Rezeption und Klarheit der Schrift.

Der Rez. ist Exeget des Alten Testaments (ich bleibe bei diesem Terminus als weiterhin geeignet) und sowohl an biblischer Hermeneutik als an Biblischer Theologie beteiligt. Leider sehe ich mich nicht in der Lage anzugeben, was ich bei G. gelernt habe. Das befördert mich wohl in eine Schmuddelecke, weil G. eine Frau und im christlich-jüdischen Dialog auch noch höchst engagiert ist. Gern sage ich, dass das Buch gut zu lesen ist - ich habe es in einem Zug in mich aufgenommen. Viel Sympathie verdient der Abschnitt 5 mit seiner Sammlung zeitgenössischer jüdischer Positionen zur Hermeneutik.

Einige wenige Punkte erlaube ich mir anzumerken. 1. Die Forderung nach rezeptionsorientierter Intertextualität ist im Prinzip nicht gerade neu. Historisch-kritisch arbeitende Forscher und Forscherinnen haben damit aber nicht selten Probleme,weil ihre Methode der Texttreue an Grenzen, aber gewiss nicht zur Ablehnung jener Forderung führt. Grenzen entstehen u. a. auch dadurch, dass es im Protestantismus keinen einigermaßen verbindlichen Kanon dogmatischer Grundlinien gibt, in den hinein jene Intertextualität rezipiert werden könnte wie die antike Haggada in das von der Halacha umrissene Grundkonzept. Jene Forderung müsste sich m. E. an eine Kooperation von Exegeten und Systematikern derart richten, dass man über Einzeltexte hinausblickt, hin zu einer neuen Synthese für die gegenwärtige Existenz.

2. Dass man sich als christlicher Exeget bzw. christliche Exegetin mit Positionen prominenter jüdischer Hermeneutik nicht enteignend, z. T. aneignend zu befassen hat, ist inzwischen selbstverständlich und wird seit ca. 20 Jahren intensiv versucht. Dass aber die in Abschnitt 6 diskutierten Beispiele eine gegenwärtige christliche Rezeption der Schrift befördern oder erleichtern, ist m. E. nicht einzusehen, soweit es um die je befolgten Methoden geht. Selbstverständlich können Christen aus Talmud und Midrasch unendlich viel für Theologie und Glauben lernen, ohne Grenzen zu verwischen oder zu enteignen. Aber in unserer Welt, in der man auch nach G. auf die historisch-kritische Methode keinesfalls verzichten kann (251 f.), werden Juden und Christen zwar unterschiedlich, aber im Prinzip gleichartig, eigene Wege gegenwärtiger Texttreue finden müssen. Ich sehe nicht, dass G. solche gewiesen hätte.

3. Einige Mängel kann man G. nicht durchgehen lassen. So ist das NT nicht "die Fixierung einer Relektüre des AT" (51) - hat G. vergessen, dass nicht wenige neutestamentliche Schriften auf das Alte Testament nicht eingehen? Es ist glatter Unsinn, dass die Quellenscheidung heute noch auf antijüdischen Prämissen beruhe (107). Die Meinung, dass das Alte Testament ein jüdisches Buch sei (134), ist nur sinnvoll, wenn es damit u. a. als judenchristliches gilt, das also die Christenheit von Anfang an mitkonstituierte (Formel: die Schrift bzw. der Tanach gehört weder Juden noch Christen, sondern diese gehören umgekehrt zu jener bzw. jenem). Der Eigenwert des Alten Testaments war im 18. Jh. eine Entdeckung, die man nicht mehr einfordern muss (134), weil längst selbstverständlich. Damit will G. aber hinter die Grundlagenkrise der evangelischen Theologie zu Beginn des 20. Jh.s zurück, nach der unabweislich wurde, dass Exegeten nicht am religiös-theologischen Gehalt der Schrift vorbeihören dürfen, wenn sie bei der Sache bleiben wollen (K. Barth, R. Bultmann). Die historisch-kritische Methode sucht heute nicht höchste Neutralität, sondern möglichst große Nähe zum ursprünglichen Sinn des Werkes bzw. des jeweiligen Autors. Wieso ist der Sinn nichtchristlich? Wenn B. S. Childs seine biblische Theologie auf Christus bezieht, ist das prinzipiell kein Antijudaismus (152), man müsste schon ins Detail gehen. Denn christliche biblische Theologie kann gar nicht anders.

G. sagt am Schluss, es sei weitere Arbeit an ihrem Thema erforderlich (254). Das zu tun, kann man ihr nur wünschen, da ihr Ausgangspunkt (s. o.) brandwichtig ist. Systematisch-theologische Besinnung wäre dafür mehr als bisher zu erhoffen.