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Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1177–1180

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U.

Titel/Untertitel:

Gedeutete Gegenwart. Zur Wahrnehmung Gottes in den Erfahrungen der Zeit.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1997. XI, 315 S. 8. Kart. DM 59,-. ISBN 3-16-146769-8.

Rezensent:

Hermann Fischer

Die Deutung der eigenen Gegenwart ist immer ein dankbares Thema und kann des Interesses der Leser gewiss sein, verspricht sie doch Orientierung über das in aller Regel schwer überschaubare Geflecht der geistig-kulturellen Bewegungen und Tendenzen der jeweiligen Zeit. Mit dem Titel des hier anzuzeigenden Buches könnten sich Assoziationen etwa an Tillichs Studien von 1926 über "Die religiöse Lage der Gegenwart" oder an Hans Freyers 1955 veröffentlichte Monographie "Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" verbinden. Das aber würde in die Irre führen.

Dalferth bietet mit seiner Publikation nicht eine Analyse der Gegenwart, sondern bündelt unter diesem Titel eine Sammlung von Aufsätzen, in denen überwiegend Sachthemen der Systematischen Theologie erörtert werden, die freilich ihren Ort in der gegenwärtigen Diskussionslage haben. So äußert sich D. etwa über das Verhältnis von "Glaube und Lebenserfahrung" (86-98), von "Theologie und Philosophie" (133-159), über die Beziehung der Theologie zu den Wissenschaften (193-208), zum Thema "Wirklichkeit Gottes und christlicher Glaube" (99-132), über das theologische Verständnis von Zeit (232-267) oder über die Bedeutung der Zeichentheorie für die Theologie (209-231: Zeit der Zeichen: Vom Anfang der Zeichen und dem Ende der Zeiten). Stärker auf Fragen und Probleme der Gegenwart bezogen sind die ersten drei Aufsätze (10-35: "Was Gott ist, bestimme ich!" Theologie im Zeitalter der "Cafeteria-Religion". 36-56: Vor Gott gibt es keine Beobachter. Öffentlichkeit, Universität und Theologie. 57-85: Das Wort vom Kreuz in der offenen Gesellschaft) und der letzte Beitrag "Theologie und Gottes Gegenwart" (268-285). Eine umfängliche Auseinandersetzung mit Hans Blumenberg in der Studie "Weder Seinsgrund noch Armutszeugnis" (160-192) konzentriert sich nicht, wie es sich vom Titel der Aufsatzsammlung her angeboten hätte, auf dessen theologisch provokante These von der "Legitimität der Neuzeit", sondern auf seine resignative Behauptung, "daß wir in mehr als in einer Welt leben" (zitiert 160, 162), Welt sich also nicht mehr als Einheit denken lässt.

Die Aufsätze, klar konzipiert und gut lesbar geschrieben, sind, sofern sie schon publiziert waren, "tiefgreifend überarbeitet" (Vorwort) und werden mit einem dichten Essay über das "Wahrnehmen Gottes" eingeleitet (1-9). Damit intoniert D. die ihn eigentlich interessierende Thematik, die auch im Untertitel des Buches zum Ausdruck gebracht ist: "Zur Wahrnehmung Gottes in den Erfahrungen der Zeit". Nicht eine theoriegeleitete Deutung der Gegenwart steht also zur Diskussion, sondern die Frage nach den Bedingungen und der Art und Weise des Wahrnehmens bzw. des Nichtwahrnehmens Gottes.

Wahrnehmung vollzieht sich nach den Ausführungen dieser Einleitung immer im Modus von Deutung; wir können nichts wahrnehmen, ohne es zugleich zu deuten. Deutung macht sich fest an der Wirklichkeit des Wahrgenommenen, konstituiert sie aber nicht, vielmehr ist umgekehrt diese Wirklichkeit die Voraussetzung des Wahrgenommenwerdens. Das gilt nach D. auch für die Wirklichkeit Gottes. Gott ist mehr und anderes als eine Funktion unseres Gottesgedankens. Es gibt kein Wahrnehmen ohne die Gegenwart Gottes, selbst wenn diese nicht immer als Gegenwart Gottes bewusst ist, sogar ignoriert oder bestritten wird. "Wer wahrnimmt, hat es immer auch mit Gottes Gegenwart zu tun ... Wir können nichts wahrnehmen, ohne dass Gott gegenwärtig ist. Gott wäre nicht gegenwärtig, könnte er nicht wahrgenommen werden" (3 f.). Erst aber wo Gottes Gegenwart als solche wahrgenommen wird, kann theologisch von Offenbarung gesprochen werden. Offenbarung vollzieht sich als sprachliches Interpretationsgeschehen. Für den glaubenden Menschen hat nicht schon Jesus von Nazareth als geschichtliche Figur, "sondern das Evangelium, nicht das Kreuz, sondern das Wort vom Kreuz Offenbarungscharakter, weil sich erst in diesem Wort die Wahrnehmung von Gottes Gegenwart im Kreuz Jesu Christi als solche vollzieht und ausspricht" (5). Aber Gott ist nicht nur da gegenwärtig, wo er sich dem Menschen in seiner Wirklichkeit erschließt, sondern auch dort, wo er sich der Wahrnehmung entzieht. Deshalb formuliert D. im Anschluss an Luthers Vorstellung vom Deus absconditus - ohne das freilich als solches eigens anzumerken -: Nicht nur "Gottes Offenbarung, die der Glaube als seine präzise Verborgenheit unter dem Kreuz Jesu Christi wahrnimmt, sondern auch Gottes Verborgenheit, die wir als Nichtwahrnehmung Gottes erleben, [ist] ein Modus der Gegenwart Gottes" (6). Damit sind die elementaren offenbarungstheologischen Voraussetzungen umrissen, unter denen in den folgenden Beiträgen die einzelnen Themen erörtert werden. Hier können nur einige von ihnen vorgestellt werden.

Für die gegenwärtigen Schwierigkeiten der christlichen Kirchen verweist D. in seinem ersten Aufsatz auf das ambivalente Erbe der Aufklärung. Nach seinem Urteil hat die Aufklärung einem Verständnis von Religion als Privatsache den Weg geebnet und dazu beigetragen, dass der Wirklichkeitsbezug der Religion und die Wirklichkeitswahrnehmung des Glaubens zunehmend ausgeblendet worden sind zu Gunsten eines individuellen religiösen "Sinn-Menüs" (93), wie es sich in der gegenwärtigen "Cafeteria-Religion" zeigt. Gegenüber solch einer Fehlentwicklung hat die Theologie als kritische Reflexion des Glaubens die Aufgabe, die wirklichkeitserschließende Kraft des Glaubens deutlich zu machen. Das lässt sich allerdings nicht aus einer neutralen Beobachterperspektive leisten, sondern nur aus der Sicht von Beteiligten. Um die Wahrheit des christlichen Glaubens öffentlich verantworten zu können, muss die Theologie aus der Sicht der Beteiligten reden, sich dabei allerdings vom Vollzug des Glaubens selbst unterscheiden und sich reflektierend dergestalt auf ihn beziehen, dass sie nicht wieder in eine Beobachterposition gerät (27). Für die Dimension der Öffentlichkeit, die für die Theologie unverzichtbar ist, macht D. in einer Auseinandersetzung mit J. Habermas (36 ff.) deutlich, dass dessen auf einer unrealistischen Anthropologie beruhendes Verständnis von Öffentlichkeit zu einem Konzept konkreter Öffentlichkeit modifiziert werden muss, um wirklichkeitstauglich zu sein. Gegenüber den idealen und damit auch illusionistischen Bestimmungen von Habermas gehört für den christlichen Glauben zu einer angemessenen Selbst- und Wirklichkeitseinschätzung, dass die Welt als Schöpfung Gottes, der Mensch als sündig und des Heils bedürftig verstanden wird und dass allein Gottes Gegenwart Heil stiftet und erfülltes Leben ermöglicht (47 f.). Nur unter solchen Voraussetzungen kann sich die Theologie die Forderung nach argumentativer Durchsichtigkeit, Verständlichkeit und Öffentlichkeit zu eigen und ihr Recht als wissenschaftliche Dizipilin an den Universitäten geltend machen.

Für die Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie (133 ff.), die analog auch für das Verhältnis der Theologie zu den Wissenschaften gilt (193 ff.), bringt D. eine Unterscheidung ins Spiel, die geeignet ist, mancherlei Unklarheiten in diesem oft traktierten Problemfeld zu beseitigen. Es müsse im Begriff des Denkens eine Differenzierung vorgenommen werden, sofern Denken eine funktionsbestimmte Tätigkeit darstellt und das Durchdenken der Inhalte des Glaubens sich anders vollzieht als die philosophische Bemühung um die Wahrheit. Das "kritische Denken des Glaubens [ist] etwas irreduzibel anderes als das kritische Denken des Denkens" (157). Selbst wenn beide Weisen des Denkens den Prinzipien der Argumentation, der Verständlichkeit und der Öffentlichkeit verpflichtet sind (vgl. 50), handelt es sich beim Verhältnis von Theologie und Philosophie um unterschiedliche Gesamtzusammenhänge, so dass scheinbar gleichlautende Begriffe in beiden Wissenschaftszweigen etwas Unterschiedliches besagen können (157 f.).

Auf die anregenden Ausführungen zur Zeit- und Zeichenthematik (232 ff.209 ff.) kann hier nur hingewiesen werden. Das gilt auch für die Auseinandersetzung D.s mit Hans Blumenberg, der die These von der Kontingenz der Welt zu derjenigen von der Kontingenz Gottes radikalisiert und damit gegenüber Leibniz, der unter der Voraussetzung der Notwendigkeit Gottes und der Kontingenz der Welt argumentiert hatte, die philosophischen Rahmenbedingungen neu bestimmt. Angesichts dieses philosophischen Gegensatzes meint D., u. a. in kritischer Anknüpfung an E. Lévinas (181-183), zeigen zu können, dass sich die Problemlage des Verhältnisses von Gott und Welt völlig verschiebt, wenn sie nicht mehr aus der Perspektive des Beobachters, sondern aus derjenigen des Beteiligten aufgerollt wird. Dann zeige sich nämlich, dass sich die Wirklichkeit Gottes und der Welt immer nur im Vollzug erschließt, und dies mit der Folge, dass die Bestimmungen von Zufälligkeit und Notwendigkeit in den Hintergrund treten.

Glaube und Theologie sind nicht denkbar ohne die Betroffenheit der Beteiligten. Diesen Sachverhalt schärft D. in seinen Aufsätzen ein gegen Versuche, theologische Probleme aus der Perspektive des Beobachters zu erörtern (wie z. B. Leibniz oder Blumenberg). Früher nannte man das den existentiellen Bezug der Theologie. Wenn ich es recht sehe, geht das Interesse der vorliegenden Aufsätze dahin, ein offenbarungstheologisches Verständnis von Theologie mit einer existentiellen Grundierung systematisch zu verzahnen. Allerdings werden die Probleme solch einer Verknüpfung, wie sie sich etwa in den Kontroversen zwischen K. Barth und R. Bultmann (oder auch P. Tillich) verfolgen lassen, nicht eigens erörtert. Die Aufsätze umkreisen die einfache Wahrheit des Evangeliums, die D. auf folgende Formulierung bringt: "Gott ist gegenwärtig und in seiner Liebe hier und jetzt wirksam- aus dieser Einsicht lebt der Glaube und das und nichts anderes ist das wirklich Wesentliche, das die Kirchen auch heute den Menschen in aller Deutlichkeit zu sagen schuldig sind. Das ist keine harmlose Botschaft, denn diesen Glauben gibt es nicht ohne permanente Anfechtung, die der oft unerträgliche Widerspruch unserer faktischen Wirklichkeitserfahrung zu diesem Glauben darstellt" (273). Man wird D. in solcher Aufgabenbeschreibung zustimmen können, dies vor allem angesichts der vielen "Randthemen" (Homosexualität, Feminismus, Kirchenasyl, Empfängnisverhütung, Militärseelsorge, Kirchensteuereinzug, Bußtag), die "in geradezu grotesker Weise" Synoden, Kommissionen und Kirchenleitungen beschäftigen (270), auch angesichts der mancherlei prinzipienlosen Anpassungen von Kirche und Theologie an den Zeitgeist. Aber damit sind nicht auch schon die Fragen beantwortet, wie sich diese evangeliumsgemäße Wahrheit in der Verkündigung verstehbar und in der theologischen Reflexion einsichtig zur Aussage bringen lässt. Hier wäre dem Leser vermutlich mehr geholfen, wenn D. sein systematisches Interesse an einer Verknüpfung von offenbarungstheologischer Begründung und existentieller Profilierung theologischer Aussagen - mit den jeweiligen Chancen und Problemen solch eines Versuches - näher entfaltet und dabei die theologischen Positionen, gegen die sich seine Ausführungen richten, benannt und deutlicher umrissen hätte.