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Ausgabe:

November/2001

Spalte:

1172–1174

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Gerengel, Simon

Titel/Untertitel:

Das Johannesspiel. Die schön euangelisch History von der enthauptung des heiligen Johannis des Tauffers. Hrsg. von M. Gebhardt.

Verlag:

Innsbruck: Institut für Germanistik 2000. 216 S. m. 2 Abb. gr.8 = Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft: Germanistische Reihe, 60. Kart. DM 81,-. ISBN: 3-901064-23-0.

Rezensent:

Hermann Peiter

Unbeeindruckt von den Mahnungen Oskar Thulins (Johannes, 1930, S. 3) hat die Theologenschaft wieder einmal ein geistliches Drama der Reformationszeit der Philologie (vgl. Gerengel, 151, Anm. 1) überlassen, bei der es glücklicherweise in guten Händen ist. Gebhardts sorgfältig erarbeitete Ausgabe enthält eine informative Einleitung mit einem Vergleich der Drucke A und B (55 S.), ein Literaturverzeichnis (10 S.), den während der Haftzeit dieses niederösterreichischen lutherischen Predigers und meistersingerlichen Liederdichters auf der Festung Hohen-Salzburg (1551-1554) entstandenen Text (11 Sprech- und einige Statistenrollen) nach dem Druck A, wobei die Abweichungen von dem vermutlich späteren Druck B im Apparat mitgeteilt werden (69 S.), ein Verzeichnis der Bibelstellen (1 S.), zwei Indices (63 S.), die die Lektüre dankenswerterweise erleichtern, und ein Abkürzungsverzeichnis (1 S.).

Laut Gebhardt haben Gerengels (G.) konfessionelle Ziele mehr Bedeutung als seine eher durchschnittliche dichterische Begabung (10-12). An einen Guilhelmus Gnaphaeus, Paul Rebhun, Burckard Waldis usw. reicht G. schwerlich heran. Statt an eine geistliche Tragödie (oder Komödie) die Maßstäbe anzulegen, denen zu genügen einem nicht epischen Drama zur Ehre gereicht, wäre aber, wie Hansjürgen Linke im Blick auf die mittelalterlichen geistlichen Spiele schreibt, eine theologische Erläuterung nötig. Leider hält das Interesse selbst der jungen Theologen, die im Übrigen nicht darauf aus sind, ihre Predigt an ihrer Schönheit, an ihren schönen Worten messen zu lassen, an einer diesbezüglichen interdisziplinären Zusammenarbeit sich noch in Grenzen.

Nach Gebhardt versteht G. das Theater als moralische Anstalt (65). G. führt seine "Künigin", die ihrem Burggrafen das Angebot macht: "Dein schlaffbul wil ich warlich sein" (825), als prominente Hure vor. Gleichwohl würde eine lediglich moralische Kritik an liederlich lebenden Herrscherpaaren wie an der spätmittelalterlichen Kirche zu kurz greifen. Letztlich steht für G. das Wort, das er in einem abschließenden Hymnus preist, höher als die Moral.

Über die Kostüme und "geperden" gibt G. keine Anweisungen (15 f.). Wie für die zahlreichen anderen geistlichen Dramatiker der Reformation hat für ihn das Wort, das nach Hedwig Heyer im Mittelalter (und wohl auch im Bibliodrama) mehr der Begleittext zum Schau-Spiel und zu den lebenden Bildern war, die "oberhand" (1669). G.s Schauspiel ist nicht liturgisch geprägt. Es ist ein Lebensgefährte der Predigt, die nicht das Dasein eines Singles fristet. Wenn der Altarraum zur Bühne und die Gemeinde Zeuge nicht nur eines Einmann- (bzw. Einefrau-) Stückes wird, lässt sich mehr als das allgemeine Priestertum, lässt sich der (erst das ist ein genuin evangelisches Postulat) allgemeine Predigerstand aller Gläubigen entdecken. Als Massenmedium war das geistliche Volksdrama ein Instrument, das die Reformation im 16. Jh. überzeugender zu spielen verstand als der kulturell eher sterile Kulturprotestantismus.

G. lässt seinen Herodes mit dem Täufer brechen, da Herodes Sitte und Tradition über das Wort stellt und erklärt: "Dann es ist weder brauch noch sit / Zu volgen allein den blossen worten" (752 f.). Wer mit der Freiheit des Wortes Ernst zu machen wagt, dem wird ein "biss", ein Maulkorb, angelegt (864). Gegen einen Diener des Wortes lässt man die Tatsachen, den Turm, sprechen (911).

Obwohl Luther empfohlen hatte, Christi Taten ordentlich und unverfälscht aufzuführen (WA Br 5, 272, 6 f.), lässt G. Christum nicht direkt auf der Bühne erscheinen, sondern nur in dem Rapport des Marschalls zu Wort kommen. Vermutlich will G. keinem Zuschauer zumuten, aus sich einen Christus, sprich: Heiligen zu machen und gleichwohl im alten Leben zu verharren - nach Art jenes zum geistlichen Schauspieler avancierten Müllers, der auf den Vorwurf, ein Dieb zu sein, entgegnet hatte: "O, wer ich nicht vnser Herrgott, ich woltt dich recht betzalen!" (Luther; WA TR 5, 528, 16-18) Da die theologische Arbeit im Entmythologisieren besteht, erschien es G. nicht länger möglich, wie die mittelalterliche Theologie die mythischen Bestandteile der Heilsgeschichte und des Lebens Christi (vgl. 1122) als handgreifliche Realitäten auf die Bühne bringen und bestaunen zu lassen.

Christus ist in seinem Wort präsent und lässt dem Täufer ausrichten: "Den armen wirdt auff diser Erd/Das heylig Euangelium glert" (1123 f.). In den Turm geworfen gehörte Johannes zu den Armen. Das Evangelium hat ihn nicht vor der Enthauptung bewahrt. Aber gerade weil ihm die Hinrichtung sicher war, galt ihm das Evangelium. Schuldig geworden ist an ihm ein nicht aufgeklärtes "Toechterlein". Die Unschuld hatte schon damals den Nachteil, dass sie leicht verloren geht. Die aus dem begeisterten Publikum mit "ainem rainen Engel zart" (1266) identifizierte Sängerin und Tänzerin, die in ihrer Einfalt erklärte: "Fraw Motter ich folg ewer lehr" (1345), sang einen falschen Text und führte, als sie, wenn auch nur zart, ins volle Menschenleben griff, einen todbringenden Tanz, einen Totentanz vor. Das Leid des einen war die Freude des anderen (und umgekehrt). Jedenfalls sagte die "Künigin" über den Täufer: "Got sey lob der ist dahin/ Nun ich von hertzen froelich bin" (991 f.).

Obschon G. ebensowenig wie Luther den Märtyrertod gestorben ist, gedieh ihm während seiner Inhaftierung die Arbeit an seiner Tragödie zur Arbeit an sich selbst, d. h. zum "abbruch" (10) des eigenen Angefochtenseins. Seine Erlebnisdichtung, dank derer ihm die Kraft zum Widerstand (10) zuwuchs bzw. im Vergleich mit welcher ihm seines "fleisches schwachheit" (18; 1554 war bei seinem Widerruf seine Sehnsucht nach Freiheit größer als seine Leidensbereitschaft) offenbar geworden sein könnte ("Das Zeitlich bringt vil vmb das Ewig", 1745), dürfte erst an dem Tage ein historisches Stück werden, an dem es weder Unterdrückung noch Vertreibung, weder Gefängnisse noch die Todesstrafe geben wird - nicht nur im eigenen Land, sondern auch im Weltmaßstab.

Gebhardt vermutet, G. könnte seine Tragödie als Beitrag zur Gestaltung des Johannestages konzipiert haben (65). Warum sollten die Theologen alljährlich im Juni sich nicht an die Johannesfeuer begeben, wie einst die Summa ihrer mittelalterlichen Zunftgenossen die Hörsäle und Klöster verlassen hat, um auf den Marktplätzen und Gassen dem gemeinen Mann, dem ehrsamen Bürger wie auch dem Fürsten ein anschauliches Bild von den Hauptstücken des christlichen Glaubens zu geben (Thulin, 3)?